Im Rahmen einer Veranstaltung hat die Konrad-Adenauer-Stiftung am 30. Juni 2020 ein ungewöhnliches Forschungsprojekt zur Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre der Öffentlichkeit vorgestellt. Anlass für die Präsentation dieses Projektes war der bevorstehende 50. Jahrestag des sogenannten Moskauer Vertrages, der am 12. August 1970 im Katharinensaal des Kreml durch den damaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Alexei Kossygin und den deutschen Bundeskanzler Willy Brandt unterzeichnet worden ist. Dieser Vertrag stellt einen wichtigen Meilenstein der Entspannung auf dem Weg zum sogenannten KSZE-Prozess dar, in dem 35 Staaten des damaligen West- und Ostblocks eine vertiefte Zusammenarbeit und eine verbesserte Sicherheitssituation in Europa angestrebt haben. Zugleich stellt der Vertrag damit einen Meilenstein der deutsch-russischen Beziehungen dar.
Dieses Forschungsprojekt, zu dem vor vier Jahren die Initiative ergriffen worden ist, ist vor allem auch ungewöhnlich, weil es sich hier um eine deutsch-österreichisch-russische Kooperation handelt, in die neben der Adenauer-Stiftung noch das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz und das Russische Staatliche Archiv für Neuere Geschichte in Moskau einbezogen sind. Im Rahmen dieses Projektes konnten bislang unveröffentlichte Dokumente aus dem Archivbestand des früheren Staats- und Parteichefs Leonid Brežnev eingesehen und für die Forschung erschlossen werden. Präsentiert wurden am 30. Juni 2020 als Ergebnis dieses Forschungsprojektes gleich zwei Neuheiten: Zum einen wurde das Online-Portal www.ostpolitik.de vorgestellt. Dort finden sich in deutscher Übersetzung und – was eine Besonderheit darstellt – auch als Faksimile des russischen Originals über 100 Schlüsseldokumente, die zu neuen Erkenntnissen in der Bewertung der Deutschland-, Ost- und Entspannungspolitik führen. Zum anderen erschien ein rund 800 Seiten starker Sammelband mit dem Titel „Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag“, in dem international renommierte Forscher die neuen Quellen in den gegenwärtigen Stand der Forschungsdiskussion eingeordnet haben.
In seiner Einführung erklärte der Leiter der Wissenschaftlichen Dienste und des Archivs für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Michael Borchard, die ungewöhnliche Tatsache, dass ausgerechnet die Adenauer-Stiftung dieses Forschungsprojekt präsentiere und machte deutlich, dass es darum gegangen sei, diese einmalige Chance zu nutzen, Zugriff auf diese Dokumente zu erhalten und sie der wissenschaftlichen Forschung zugänglich zu machen. Es ginge der Stiftung nicht etwa um „Geschichtspolitik“ und um eine neue Interpretation der Geschichte, sondern in erster Linie um das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse. Dabei ginge es auch darum, die sowjetischen Motive für die Entspannungspolitik zu erschließen. Vielleicht sei am Ende die neue Ostpolitik Bonns noch mehr auch eine „neue Westpolitik“ des Kreml gewesen.
In einem Grußwort freute sich der Berater des russischen Präsidenten in Fragen der historischen Forschung und der Archivangelegenheiten Russlands, Prof. Dr. Alexander Tschubarjan, insgesamt über die gute Entwicklung in der Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Wissenschaftlern, wie sich bei diesem Projekt oder etwa auch im Rahmen der deutsch-russischen Historikerkommission gezeigt habe. „Die Konrad-Adenauer Stiftung leistet eine große Unterstützung für die historische Forschung. Wir schätzen die Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung sehr“. In seinem Grußwort markierte Tschubarjan das Jahr 2020 als ein „besonders wichtiges Jahr für die deutsch-russischen Beziehungen“, weil sich nicht nur der Moskauer Vertrag, sondern auch – vor 65 Jahren – die Moskau-Reise Konrad-Adenauers mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen jähre, ebenso wie die Deutsche Einheit zu feiern sei: „Es ist klar, dass ohne die sowjetische Zustimmung die Wiedervereinigung nicht stattgefunden hätte.“ Die Voraussetzung für den Erfolg 1955, 1970 und 1990 sei eine „pragmatische Herangehensweise von der deutschen und der sowjetischen Seite“ gewesen. Auch Olga Pavlenko, die Erste Vizerektorin der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften, die die „professionelle gute Erfahrung“ der gemeinsamen Arbeit an dem Projekt herausstellte, betonte: „Der Moskauer Vertrag und die Entspannungspolitik brachten eine beide Seiten zum Vorteil gereichende Zusammenarbeit hervor."
In seiner inhaltlichen Übersicht zum präsentierten Quellenbestand, der eine Auswahl aus rund 750 Dokumenten unter anderem aus dem Politbüro und dem sowjetischen Außenministerium umfasst, verwies der Mitinitiator des Projektes, der frühere Leiter des Archivs der Konrad-Adenauer-Stiftung, Prof. Hanns Jürgen Küsters, auf die oft übersehenen Kontinuitätslinien in der Ostpolitik von der Ära Adenauer bis zur sozialliberalen Koalition. Diese zeigten sich nicht nur bei Adenauers Moskau-Reise (1955), sondern insbesondere auch im Zusammenhang mit der anhaltenden Diskussion über gegenseitige Gewaltverzichtserklärungen, die die Regierungen Erhard und Kiesinger in den 1960er Jahren anhaltend beschäftigte: „Die Frage des Gewaltverzichtes wurde schon lange Zeit diskutiert. Und dass die Hallstein-Doktrin Risse erhielt und sich als nicht zukunftsfähig erwies, zeichnete sich ebenfalls bereits während der Großen Koalition ab.“ Darüber hinaus gelte es, die sowjetische Perspektive stärker in den Blick zu nehmen. Beim Zustandekommen des Moskauer Vertrages seien die Interessen zweier Seiten zusammengekommen. „Ohne Brežnevs Westpolitik wäre die Brandtsche Ostpolitik nicht möglich gewesen“, so Küsters.
„Ein Schlüssel für die Ostpolitik Brandts ist auch in Moskau zu suchen“, stimmte Prof. Dr. Stefan Karner, ehemaliger Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, zu, der das Projekt gemeinsam mit Hanns Jürgen Küsters aus der Taufe gehoben hatte. Worin die gemeinsamen westdeutsch-sowjetischen Interessen bestanden, die zur Entspannungspolitik beigetragen hätten, führte er in seiner Präsentation aus. Er verortete sie vor allem im wirtschaftlichen Bereich: „Die Bundesrepublik Deutschland war auf den Import von Energie angewiesen, die Sowjetunion ihrerseits benötigte technisches Know-how mit westlichem Stand und insbesondere Röhren gerade als Voraussetzung für den Export von Gas. Vertrauen wurde zum ‚wichtigen Imperativ‘ der bilateralen Wirtschaftskooperation.“ Freilich verfocht Moskau auch das Ziel einer Abhängigkeit Bonns bei der Rohstoffversorgung, wie die Quellen zeigen. Ziel sei die Nutzung der „Wirtschaft als politisches Druckmittel der Sowjetunion gegenüber der Bundesrepublik“ gewesen. Trotz dieser Ansätze zur Entspannung stellte der Historiker dem sowjetischen Staats- und Parteichef unter dem Strich ein schlechtes Zeugnis aus: „Die goldene Brežnev-Ära wurde zur Phase der Erstarrung.“
In der Diskussion wurde insbesondere der Faktor DDR in den westdeutsch-sowjetischen Beziehungen diskutiert und die Tatsache, dass auf die DDR, die dem Entspannungskurs keine Zustimmung erteilt habe, keine Rücksichten genommen worden waren. Auf die Frage aus dem Publikum, warum denn CDU-Abgeordneten die Ostpolitik so kritisch betrachtet hätten, obwohl sie doch letztlich eine Kontinuität der Adenauer-Ära darstellte, wurde noch einmal auf die Hallstein-Doktrin verwiesen, die auch für die Unionsparteien eine Bürde dargestellt habe. „Auch eine CDU-geführte Bundesregierung hätte sich nach der Bundestagswahl 1969 – kontrafaktisch gedacht – der Dynamik der Entwicklung wohl nicht viel länger verschließen können“, betonte Hanns Jürgen Küsters. Hierzu trug auch ein Meinungswandel in der bundesdeutschen und internationalen Öffentlichkeit in den 1960er Jahren bei.
In seinem Schlusswort wies Michael Borchard darauf hin, dass man nicht nur sukzessive weitere Dokumente in das Portal www.ostpolitik.de einstellen wolle, sondern auch an eine gedruckte und wissenschaftlich kommentierte Quellenedition denke. Diese würde dann auch vor allem die Dokumente zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit präsentieren, die bislang noch weitgehend fehlten.
Hier finden sich zusammengefasst noch einmal die wesentlichen neuen Erkenntnisse des Projektes, die den Akten zu entnehmen sind:
- Ohne Brežnevs Bereitschaft zu einem Kurswechsel im Richtung Entspannung und Friedenssicherung wäre der Moskauer Vertrag 1970 nie zustande gekommen.
- Entscheidend für die politische Annäherung waren wirtschaftliche Vorleistungen. Die Bundesrepublik benötigte Energie, die Sowjetunion westliches Know-how und Einnahmen aus dem Energie-Export.
- Zwei Interessen kommen zusammen: Einerseits suchte die Regierung Brandt/Scheel den politischen Befreiungsschlag, wollte die Bonner Außenpolitik vor internationaler Isolierung bewahren und aus dem Dilemma der Hallstein-Doktrin durch Anerkennung des Status quo befreien. Andererseits brauchte Brežnev Ruhe in Europa, um gestärkt gegenüber China aufzutreten.
- Die „neue“ Ost- und Deutschlandpolitik Brandts war nicht der Beginn einer neuen Epoche, sondern gerade im Hinblick auf die Gewaltverzichtserklärung eine Fortschreibung der bereits in der Ära Adenauer angedachten Entwicklungen.
- Brandt riskierte einen Balanceakt zwischen Achtung der Grenzen, vor allem an Oder und Neiße, und dem Offenhalten der deutschen Frage. Dabei kämpften Brandt und Bahr in Moskau um die Aufrechterhaltung der Viermächterechte und besondere innerdeutsche Beziehungen, die Brežnev insgeheim überhaupt nicht bereit war, aufzugeben. Denn der Kreml wollte die DDR in Abhängigkeit halten und ihr keine Souveränität zugestehen.
- Für die RGW-Staaten bedeuteten das bundesdeutsch-sowjetische Gas-Röhren-Geschäft und der Moskauer Vertrag mehr Bewegungsspielraum gegenüber Moskau und in ihren eigenen Beziehungen zu Bonn. Infolgedessen hatte Brežnev den Warschauer-Pakt-Staaten die Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zur Bundesrepublik nicht mehr verweigert.
- Der sowjetischen Wirtschaft brachten die Verträge eine gewisse Entlastung und Atempause. Die Chance für nachhaltige und notwendige Wirtschaftsreformen wäre das Gebot der Stunde gewesen, wurde aber vertan. Der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft begann in der Phase ihrer Prosperität Anfang der 1970er Jahre und der unverhofft sprudelnden Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft, die wesentlich durch die Verträge mit Bonn möglich geworden waren.
- Die ablehnende Haltung der SED-Führung zur Entspannungsbereitschaft Brežnevs kostete Ulbricht die Macht und zwang Honecker zu einem angepassten deutschlandpolitischen Kurs.
- Nach skeptischen Reaktionen der Westmächte, besonders bei der Nixon-Administration und in London, auf die neue Bonner Außen- und Deutschlandpolitik erkannten auch die NATO-Staaten die Ostverträge als Schlüssel zu einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa an. Dabei spielten auch die Interessen der EWG-Staaten zur Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu den Ostblock-Staaten eine gewichtige Rolle.
- Die KSZE bedeutete für die Sowjetunion die Sicherung des Imperiums und die Fixierung des territorialen Status quo in Europa auf multilateraler Ebene. Für Brežnev war es der Höhepunkt seiner politischen Karriere, die ohne bilaterale Aussöhnung mit Bonn unmöglich gewesen wäre.
- Für die Westmächte und die NATO implizierte die KSZE die Bestätigung ihres Konzepts aus dem Harmel-Bericht: Sicherheit und Entspannung in Europa waren zwei Seiten einer Medaille. Mit Hilfe der Vereinigten Staaten und Kanadas vereinbarten sie einen Modus vivendi, der die deutsche Frage zwar nicht löste, aber ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Teilung Europas bedeutete.
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