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Andreas Thieme ist ein begnadeter Erzähler. Das gilt es eingangs hervorzuheben, denn das Thema, um das es heute in dem Konferenzraum der Sparda-Bank Bremen geht, ist kein einfaches: Schon bei der Führung durch die Ausstellung „DDR-Stasi – Spitzel von nebenan“ kommen bei Thieme ganz eigene Assoziationen auf. In der DDR wird er überwacht und muss als Zielscheibe eines so genannten „operativen Vorgangs“ Zersetzungsmaßnahmen der Stasi über sich ergehen lassen. Eine Büste Feliks Dzierżyńskis, tschekistisches Vorbild des MfS, bringt er mit seinen Erfahrungen aus der Stasi-Untersuchungshaft in Verbindung: „So ein Ding stand in jedem Vernehmungsraum“.
Angesichts dieser Voraussetzungen ist die erzählerische und inhaltliche Leistung Thiemes bei dem anschließenden Zeitzeugengespräch umso beeindruckender. Thieme berichtet im besten Sinne des Wortes unterhaltsam mit der nötigen erzählerischen Distanz. Er lässt seinen Zuhörern Raum, sein individuelles Schicksal nachvollziehen und verarbeiten zu können. Vor allem aber liefert er Zusammenhänge und Hintergründe, die am persönlichen Beispiel illustrieren, unter welchen eigentlich harmlosen Umständen ein Jugendlicher in der SED-Diktatur zum einem „Staatsfeind“ werden konnte.
Thieme wächst im Süden der DDR im Erzgebirge, etwa 50 Kilometer vor der tschechoslowakischen Grenze auf dem Lande auf. Er hat zunächst das große Glück in einer intakten Familie und umgeben von vielen Freunden eine sorgenfreie Kindheit zu erleben. Erste Zusammenstöße mit der staatlich verordneten Ideologie ereignen sich jedoch bereits in der Grundschule. Thiemes Vater, Angestellter bei der Reichsbahn, ist engagierter Baptist. Ein übereifriger Lehrer fragt die Klasse, wer denn religiös aktiv sei. Unschuldige Hände melden sich und bekommen die ganze Härte des regimekonformen Atheismus zu spüren. Thieme bleibt das Abitur verwehrt, erst nach seinem Freikauf aus der DDR wird er es in Hamburg nachholen. Doch es ist nicht allein der religiöse Hintergrund, der ihn von Kindheit an zu einem Systemabweichler macht. Thieme wendet sich an die Schülerinnen und Schüler: „Was bringt ihr mit den USA und dem Jahr 1964 in Verbindung?“ Die Antworten zeigen die politische Stoßrichtung an, die das Publikum erwartet. Sie sind vom Jahr 1964 auch nicht weit entfernt: „Kuba-Krise?“, „Mauerbau?“ Der Erzähler möchte auf etwas anderes heraus: „1964 kamen die Beatles erstmals in die USA!“ Rock´n´Roll brach sich Bahn, weltweit, auch jenseits des Eisernen Vorhangs. Rockmusik war für Thieme fortan alles, das zeigte sich auch bald äußerlich. Angetan mit Jeanshosen, einer Jacke mit Indianeraufdruck, langen Haaren und Cowboyboots macht er sich auf den täglichen Schulweg, in seiner Begeisterung die Warnungen der Mutter ignorierend. Wieder wird sein Verhalten politisiert und als genuin „DDR-feindlich“ entlarvt. Wer westliche Kleidung, zumal Mode aus den USA trägt, gilt als „Handlanger des Imperialismus“. Thieme, zu dieser Zeit schon selbst musikalisch aktiv, darf die Abschlussarbeiten nur mit unauffälliger Kurzhaarfrisur schreiben und geht schweren Herzens zum Friseur.
Sein Drang nach Freiheit lässt sich jedoch nicht kappen. Beim Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) eckt er wieder an. Warum man denn sein Recht auf freie Meinungsäußerung in der Kaserne nicht ausüben dürfe? Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird die Stasi auf den Freigeist aufmerksam. Thieme schildert eine skurrile Situation, die noch heute ein beredtes Bild vom verschwenderischen Kleingeist des MfS zeichnet: Ein ganzes Regiment der NVA rückt unter einem Vorwand aus, damit Mitarbeiter der Staatssicherheit ungestört seinen Spind untersuchen können. Die Stasi sammelt fleißig „belastendes Material“. Thieme gibt Einblicke in seine Ermittlungsakte, in der etwa seine inhaltliche Auseinandersetzung mit den kommunistischen Glaubenssätzen dokumentiert ist. Ein Absatz macht ihn noch heute stolz. Ihm wird bescheinigt, sich mit den Inhalten des Marxismus-Leninismus auseinander zu setzen, allerdings nur „um sie zu widerlegen“. Schließlich hat das MfS genug „Beweise“ beisammen. Thieme wird von seinem Arbeitsplatz von einem Volkspolizisten der Staatssicherheit „zugeführt“. In der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Leipzig muss er Monate der Isolation und zermürbende Verhöre über sich ergehen lassen und erfährt schließlich das Urteil der Staatsmacht, das schon vor Prozessbeginn feststeht: 2 ½ Jahre Haft wegen „staatsfeindlichen Verhaltens“. Thiemes soziale Existenz in der DDR ist damit erledigt. Einzige Hoffnung wäre ein Platz auf einer Liste von Amnesty International. Die Organisation sammelt Namen politischer Häftlinge und leitet sie an die Bundesrepublik weiter. Thieme wird schließlich wie viele andere Opfer des SED-Regimes gegen harte Devisen freigekauft - „ein klarer Fall von Menschenhandel“ - aber doch seine einzige Möglichkeit, die DDR zu verlassen. Über Chemnitz, dem damaligen Karl-Marx-Stadt, darf er Mitte der 1970er Jahre mit anderen Leidensgenossen ausreisen.
Die Schüler, die bislang andächtig der Lebensgeschichte Thiemes lauschten, interessieren die persönlichen Folgen seiner Exilierung. Was wurde aus seiner Familie? Dieser Zusammenhang macht Thieme noch heute betroffen, denn bei seiner Ausreise muss er seine Frau und eine kleine Tochter zurücklassen. Die Stasi nimmt ihm die Chance, seine Tochter aufwachsen zu sehen, erst nach der Wende kann er ein neues Verhältnis zu der inzwischen erwachsenen Frau aufbauen.
In Hamburg angelangt schlägt Andreas Thieme endlich den Berufsweg ein, der ihm schon lange vorschwebt. Er wird Lehrer, u.a. für Geschichte. Auch die Musik kommt nun zu ihrem Recht. Thieme trifft gleichgesinnte und kann endlich die Stücke spielen, die er möchte. Rock´n´Roll und Blues bleiben bis heute die Leidenschaft eines großen Erzählers, den die Stasi nicht brechen konnte.
Die Ausstellung „DDR-Stasi – Spitzel von nebenan“ ist noch bis zum 24. Juli 2014 in der Sparda-Bank Bremen, Hohentorsteinweg 1A zu sehen.
Wir danken der Sparda-Bank Hannover-Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung!
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