Russlandpolitik als zentrales Wahlkampfthema in Ungarn
Der russische Überfall auf die Ukraine begann in der heißen Wahlkampfphase der ungarischen Parlamentswahlen, die am 3. April 2022 stattgefunden haben. Nach einem bis zum 24. Februar 2022 eher unspektakulären Wahlkampf in dem bis dahin von Demoskopen zeitweise ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Regierung und der vereinigten Opposition vorhergesagt wurde, erhielt der Wahlkampf mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine neue Wendung. Während die Parteien, die sich in einem breiten Rechts-Links-Bündnis zu einer vereinigten Oppositionsliste zusammengeschlossen haben, den russischen Angriffskrieg unmittelbar klar verurteilt haben, hat die Regierung der Opposition vorgeworfen, Ungarn in den Krieg „hineinziehen“ zu wollen und sich hierbei auf eine ungeschickt formulierte Aussage des Spitzenkandidaten der Opposition in Bezug auf die Bündnisverpflichtungen der ungarischen Armee bezogen. Mit der gleichzeitigen Öffnung der Grenze für Kriegsflüchtlinge einerseits, aber der Schließung der ukrainisch-ungarischen Grenze für Waffenlieferungen in die Ukraine andererseits, hat die ungarische Regierung im Wahlkampf suggeriert, zwar humanitäre Unterstützung zu leisten, gleichzeitig aber „Ungarn aus dem Krieg herauszuhalten“. Diese Wahlkampagne hat schlussendlich mit dazu beigetragen, dass die Regierung erneut und überraschend eine klare parlamentarische Zweidrittelmehrheit erreichen konnte. Aus diesem Wahlerfolg leitet die ungarische Regierung die Legitimierung ihrer Russland- und Ukrainepolitik bis heute ab.
Geografie und Rolle der ungarischen Minderheit
Ungarn verfügt wie Österreich, Tschechien und die Slowakei über keine Küste und somit über keinen direkten Meerzugang. Dies erschwert die Diversifizierung der Versorgung mit Erdöl und Gas. Ein Großteil des Bedarfs an Energieträgern deckt Ungarn nach wie vor aus russischen Quellen. Dies betrifft nicht nur die Versorgung mit Erdöl und Gas. Auch die geplante Erweiterung des einzigen ungarischen Kernkraftwerks soll trotz des russischen Angriffskrieges durch das russische Unternehmen Rosatom umgesetzt werden. Daher hat sich Ungarn bei den Sanktionspaketen der EU gegen Russland immer gegen eine Verschärfung der Sanktionen im Energiebereich ausgesprochen oder sich hierbei Ausnahmeregelungen ausgerungen.
Eine weitere Besonderheit ist die ungarische Minderheit in der Westukraine, der vor dem Krieg etwa 150.000 Menschen angehörten. Bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gab es zwischen Ungarn und der Ukraine über viele Jahre hinweg diplomatische Verstimmungen, weil Ungarn die Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine verletzt sah. Dies gipfelte unter anderem im Jahr 2018 in der Ausweisung eines ungarischen Konsuls aus der Ukraine aufgrund dessen Äußerungen bei einer Einbürgerungszeremonie in der ungarischen diplomatischen Vertretung. Die ungarische Regierung begründet ihr Verbot, Waffenlieferungen über die ungarisch-ukrainische Grenze zuzulassen bis heute damit, dass Waffentransporte durch die Siedlungen der ungarischen Minderheit deren Sicherheit, aufgrund des Risikos russischer Angriffe gegen diese Transporte, gefährden würden. Der Konflikt zwischen Ungarn und der Ukraine um die ungarische Minderheit prägt bis heute auch die öffentliche Meinung in der ungarischen Russlandpolitik.
Kriegsflüchtlinge und Innenpolitik
Unmittelbar nach Kriegsausbruch hat die ungarische Regierung erklärt, alle Ukrainer, die aufgrund des Kriegs in Ungarn Schutz suchen, seien willkommen. Da Ungarn als Nachbarland der Ukraine eines der ersten erreichbaren sicheren Fluchtländer ist, hat Ungarn unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffskriegs die Voraussetzungen geschaffen, ohne Begrenzungen ukrainische Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Laut aktuellen Daten des UNHCR gab es seit Kriegsbeginn über 2 Millionen registrierte Grenzübertritte von Ukrainern nach Ungarn. Allerdings haben sich in Ungarn bisher nur rund 34.000 Ukrainer für einen temporären Aufenthaltsstatus im Rahmen der Regelung für ukrainische Kriegsflüchtlinge registriert. Dies zeigt, dass insbesondere in den ersten Wochen des russischen Angriffskrieges viele Kriegsflüchtlinge nach Ungarn eingereist, viele davon aber meist nach Westeuropa weitergereist sind.
Die ungarische Wirtschaft, die noch von den Folgen der Corona-Pandemie geschwächt und die Lage des Staatshaushalts, die von zusätzlichen Sozialausgaben vor den Wahlen (z.B. Auszahlung einer 13. Monatsrente) bereits angespannt war, wurden durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Angriffskrieges im Nachbarland weiter belastet. Die Inflationsrate in Ungarn war im Dezember 2022 die höchste innerhalb der EU. Hinzu kommt die Möglichkeit einer Kürzung von EU-Mitteln für Ungarn im Zuge der Anwendung des neuen Instruments der Rechtsstaatskonditionalität. Vor diesem Hintergrund verschärfte die ungarische Regierung die Rhetorik, die die Sanktionen der EU gegenüber Russland für die wirtschaftlichen Probleme, die im EU-Vergleich stark überdurchschnittliche Inflation und den Verfall der Landeswährung Forint verantwortlich macht. Dies gipfelte in der Durchführung einer so genannten „Nationalen Konsultation“, bei der die Bevölkerung in Ungarn über die EU-Sanktionen abstimmen sollte. In einer öffentlich finanzierten Werbekampagne der Regierung für die Konsultation, wurden die EU-Sanktionen als Fliegerbombe dargestellt, die sinnbildlich über der europäischen Wirtschaft abgeworfen wurde. Somit wurden die Sanktionen und nicht der russische Überfall auf die Ukraine als Grund für die aktuellen wirtschaftlichen Probleme des Landes dargestellt und die Sanktionspolitik der EU mit öffentlichen Mitteln diskreditiert. Regierungschef Viktor Orbán, dessen Regierung die Sanktionen im EU-Rat stets mitgetragen hatte, erhob in diesem Zusammenhang öffentlich den Vorwurf, die Sanktionen seien auf eine „undemokratische Weise“ verhängt worden. Bei sehr geringer Beteiligung an der „nationalen Konsultation“ sprachen sich schlussendlich 97% der Teilnehmer gegen die Sanktionen aus. Bei einer Pressekonferenz im Dezember erklärte Regierungschef Orbán, die Ukraine weiterhin mit humanitärer Hilfe zu unterstützen. Er stellte allerdings klar, dass seiner Meinung nach die Ukraine „heldenhaft“ ums eigene Überleben kämpfe. Im Unterschied zur polnischen Regierung sei er jedoch der Auffassung, dass die Ukraine hierbei nicht „für uns“ kämpfe. Auch bei der Erweiterung der NATO hat Ungarn eine bremsende Rolle eingenommen. Bisher sind die Türkei und Ungarn die einzigen Länder, die den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland noch nicht ratifiziert haben.
Fazit und Ausblick
Mit seiner aktuellen Russlandpolitik hat sich Ungarn weiter europa- und außenpolitisch isoliert. Das mitteleuropäische Kooperationsformat der sogenannten Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn), was vor allem seit der Wiederwahl Orbáns im Jahr 2010 von der ungarischen Regierung massiv gefördert wurde, um die Interessen Mitteleuropas in der EU stärker zu vertreten, ist aufgrund der unterschiedlichen Positionen in Bezug auf die Ukraine wieder weitestgehend bedeutungslos geworden. Aufgrund seiner besonderen geografischen, politischen und wirtschaftlichen Situation wird Ungarn innerhalb der EU auch in Zukunft eine Sonderrolle im Umgang mit Russland, aber auch mit China spielen. Durch die historisch engen Bindungen zu Deutschland können die deutsch-ungarischen Beziehungen auch zukünftig einen wichtigen Beitrag leisten, Ungarn dennoch weiterhin in eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik einzubinden. Ungarn plant bereits in diesem Jahr das NATO-Ziel, 2 % des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung aufzuwenden, zu erreichen. Seit mehreren Jahren wird kontinuierlich und strategisch die Zusammenarbeit mit Deutschland im Bereich der Rüstung ausgebaut und Regierungschef Orbán spricht sich schon seit vielen Jahren für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee aus.
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