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Ülke raporları

5. Newsletter aus Ankara

arasında Frank Spengler, Dirk Tröndle
Themen: Parlament beschließt grundlegende Sozialreform. Umweltskandale in der Türkei weiten sich aus. „Demokratisches Manifest“ des Parlamentspräsidenten. Geplante Verschärfung des Anti-Terrorgesetzes. Info-Mail.

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Parlament beschließt grundlegende Sozialreform

Nach einem achtstündigen Beratungs- und Abstimmungsmarathon in der Großen türkischen Nationalversammlung wurde mit den Stimmen der regierenden AKP der Gesetzentwurf zu den „Sozialversicherungen und der Allgemeinen Gesundheitsversicherung“ verabschiedet. Die Einzelabstimmung über jeden der 122 Paragraphen der Novelle erregte die Fraktion der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) so sehr, dass sie die parlamentarischen Beratungen geschlossen boykottierte. Abgeordnete von ANAVA-TAN und DYP stimmten mit „Nein“.

Zum 1. Januar 2007 soll die Reform in Kraft treten, wobei der zuständige Minister für Arbeit und Soziale Sicherheit, Murat Başesgioğlu, Gesprächsbereitschaft über einzelne Aspekte signalisierte, die dann in den Ausführungsbestimmungen berücksichtigt werden könnten.

Während den Sitzungsstunden glich das türkische Parlament einer Festung. Polizisten und Scharfschützen der Gendarmerie waren um das Parlamentsgelände postiert, weil die Drohungen der Demonstranten notfalls das Parlament zu stürmen, ernst genommen wurden. Aber lediglich ein paar tausend Demonstranten folgten den Protestaufrufen der Gewerkschaften.

Nach der erstmaligen Einführung einer Arbeitslosenversicherung vor wenigen Jahren und wichtigen Änderungen im Arbeitsrecht vor zwei Jahren, stellt diese Reform einen weiteren bedeutenden Meilenstein im grundlegenden Umbau des türkischen Sozialstaates dar. Im Mittelpunkt der Novelle steht die Zusammenlegung aller drei großen staatlichen Renten- und Krankenversicherungsträger SSK (Sosyal Sigortalar Kurumu), Bağ-Kur und Emekli Sandığı unter dem Dach der neuen „Institution für Soziale Sicherheit“, der künftig auch alle staatlichen Krankenhäuser unterstehen. Diese für viele Experten schon längst überfällige Zusammenlegung wurde schon im vorigen Jahr beschlossen. Es sollen so erhebliche Kosten eingespart und die Dienstleistungen für die Versicherten verbessert werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt stellt die Neureglung des Rentenanspruchs dar. Vor allem wegen befürchteten erheblichen Rentenkürzungen kam es zu den Demonstrationen. In begründeten Einzelfällen mag dies sogar zu treffen, dennoch kann nicht von einer allgemeinen Kürzung gesprochen werden. Nach geltendem Recht hat ein Arbeitnehmer bereits nach 25 Jahren einen Rentenanspruch. Dies bedeutet, dass in der Türkei sehr oft Arbeitnehmer ab Mitte 40 eine Rente beziehen, aber gleichzeitig ihren Beruf weiter ausüben. Meist wird für die „jungen“ Rentner dann auch noch eine Abfindung durch den Arbeitgeber fällig.

Die Reform beinhaltet auch eine sukzessive Erhöhung des Renteneintrittsalters. Frauen sollen ab dem Jahr 2036 mit 59 und Männer künftig mit 61 Jahren Rente beanspruchen können. Ab dem Jahr 2048 sollen sowohl Frauen als auch Männer erst mit 65 Jahren in Rente gehen können. Gleichzeitig soll aber auch sichergestellt werden, dass diejenigen, die eine viel längere Lebensarbeitszeit vorweisen können, dann auch höhere Renten als bisher beziehen sollen. Während den vorgesehenen langen Übergangsfristen können die Arbeitnehmer dann entscheiden, ob sie mit 45 Jahren wie bisher - jedoch mit einer verminderten Rente - in den Ruhestand treten oder erst 15 Jahre später. Durch neue Besteuerungs- und Abgabenverordnungen sollen vor allem die Menschen, die sowohl Renten als auch Gehälter beziehen, zu längerem Arbeiten während den Übergangsfristen angehalten werden.

Weitere Neuerungen sind u.a.:

  • Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr sollen automatisch ohne Berücksichtigung der Vermögens- und Versicherungsverhältnisse ihrer Eltern kostenlos versichert werden;
  • Erhöhung von Waisenrenten;
  • Neuregelung der Transferzahlungen bei Geburt, Tod und Hochzeit;
  • finanzielle Zuschüsse für junge Mütter; Verbesserungen im Versicherungsschutz für Teilzeit-Arbeitnehmer, Saisonarbeiter und solche mit längeren Fehlzeiten etc.
Trotz heftiger Kritik von Seiten der Opposition beinhaltet diese Reform auch wichtige sozialstaatliche Errungenschaften, die letztlich auch im Einklang mit der EU-Sozialcharta stehen dürften.

Durch diese Reform sollen Kräfte freigesetzt werden, die einen notwendigen Paradigmenwechsel im Sozialstaatsverständnis in der Türkei einleiten. Fehlende Transparenz, Ineffizienz und das extreme Ungleichgewicht zwischen Beitragszahlern und Dienstleistungsempfängern erschweren seit Jahren die Finanzierung der türkischen Sozialsysteme. Neben den 12 Mio. aktiv versicherten Arbeitnehmern zahlen auch noch rund sieben Mio. Rentner Beiträge in die staatlichen Sozialkassen. Diesen 19 Mio. Beitragszahlern stehen aber ca. 55 Mio. Menschen gegenüber, die auch durch die „Green Card“ – kostenlose Krankenvorsorge für Minderbemittelte - und andere Begünstigungen in den Genuss von staatlichen Sozial-, Kranken- und Rentendienstleistungen kommen. Damit sind die erheblichen Finanzlöcher von bis zu 5% des BSP im türkischen Staatshaushalt leicht erklärbar. Der defizitäre Sozialhaushalt war auch ein bedeutender Aspekt bei den Verhandlungen mit dem IWF, der auch Sozialreformen als Vorraussetzung für weitere Beistandsabkommen mit der Türkei forderte.

Im Unterschied zu den dringenden Reformen der Sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik Deutschland stehen in der Türkei andere Aspekte und Zielsetzungen im Mittelpunkt. Wird in Deutschland insbesondere aufgrund der demographischen Entwicklung eine Anpassung der vorhandenen sozialen Sicherungssysteme notwendig, so soll in der Türkei ein einheitliches System geschaffen werden mit mehr Beitragszahlern aber auch mit mehr Beitragsempfänger. Noch immer arbeiten sehr viele Menschen in der Türkei im informellen Sektor. Wirtschaftsexperten beziffern die so entgangenen Steuereinnahmen und Abgaben im dreistelligen Milliardenbereich. Die demographische Situation ist der in Deutschland diametral entgegengesetzt. 70% der Menschen sind unter 35 Jahre und wenn der wirtschaftliche Aufschwung länger andauert, Beschäftigungsprogramme greifen und der informelle Sektor erfolgreich bekämpft werden kann, ist das Ziel einer merklichen Zunahme von Beitragszahlern durchaus realistisch.

Von vielen Seiten sind kritische Anmerkungen zu hören, obwohl alle politischen Kräfte übereinstimmend anerkennen, dass eine grundlegende Sozialreform überfällig war. Die CHP-Opposition befürchtet soziale Ungerechtigkeiten und dass Millionen von Rentnern mit geringem Einkommen die Rechung begleichen werden müssen. Es habe noch nie eine Epoche gegeben, in der die Rentner so erniedrigend behandelt worden wären, so der CHP-Vorsitzende Deniz Baykal. Die CHP dürfte aber auch aus ideologischen Gründen ihre Bedenken geäußert haben, da die Reform auch auf Anregung und Druck des IWF hin angegangen wurde. In staatsdoktrinären Kreisen wird eine solche Forderung als Eingriff in die Souveränität und Integrität des türkischen Staates verstanden. Deniz Baykal bezeichnete die Umstände überdies als „possenhaftes Benehmen“ bei der Verabschiedung eines „IWF-Gesetzes“.

Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die angestrebte Konsolidierung des Sozialhaushalts auch wirklich eintreten wird. Zwar werden deutliche Einsparungseffekte zu erzielen sein, jedoch müssen die Anreize für die Beschäftigten im informellen Sektor auch greifen, so dass die Anzahl der Sozialversicherten in deutlichem Maße zunehmen kann. Als erstes müssen weitere Anreize für Unternehmen erfolgen, wie die Senkung der für türkische Verhältnisse sehr hohen Lohnnebenkosten. Die Bevölkerung muss darüber hinaus akzeptieren, dass eine längere Lebensarbeitszeit unumgänglich ist, weil spätestens in 40 Jahren die Türkei einer ähnlich unvorteilhaft demographischen Situation gegenüber stehen wird, wie Deutschland heute.

Umweltskandale in der Türkei weiten sich aus

Nachdem vor wenigen Tagen in einem Istanbuler Vorort einige verrostete Fässer mit hochgiftigen Chemikalien aufgefunden wurden, weitet sich der Umweltskandal mit unabsehbaren Folgen weiter aus. Nach acht Tagen wurden insgesamt 640 Fässer ausgegraben und ca. 860 Tonnen verseuchte Erde abtransportiert. Umweltbewusstsein und Umweltschutz sind in der Türkei viel zu lange vernachlässigt worden. Die türkischen Medien berichten zwar regelmäßig über die schlimmsten Umweltverschmutzungen und Umweltsünder, alleinig drakonische Strafen für die Verursacher waren bisher Fehlanzeige. Die vorhandenen Rechtsmittel schrecken anscheinend nicht genug ab. Ein Umweltbewusst-sein ist bei einem Großteil der Bevölkerung völlig unterentwickelt. Viele Experten bezeichnen den Umweltbereich als größte Hürde für die Türkei bei der Umsetzung des Acquis Communautaire.

60% der türkischen Industrieproduktion ist in der Metropole Istanbul und den umliegenden größeren Städten wie Izmit, Adapazarı, Tekirdağ und Bursa angesiedelt. Der Konsumanteil in diesem Ballungszentrum am türkischen Gesamtkonsum dürfte ähnlich hoch sein. Türkeiweit fallen jährlich ca. 2.5 Mio. Tonnen problematischer Industrieabfall an, fast die Hälfte davon in der Marmarameerregion. In der Industriestadt Izmit wird die einzige Sondermülldeponie für Industrieabfälle der Türkei betrieben. Die jährliche Verbrennungskapazität dieser Deponie (İZAYDAŞ) beträgt gerade einmal 36.000 Tonnen. Experten geben an, dass ein Großteil der giftigen Industrieabfälle - so wie in Tuzla und anderen Orten - einfach in der Erde vergraben, ungeklärt ins Meer geleitet oder ungefiltert in die Atmosphäre gelangen. Bei allen Beteiligten herrscht Einigkeit darüber, dass in der Türkei eine gefährliche Umweltbombe tickt, deren Auswirkungen heute noch niemand absehen kann.

Der neuerliche Umweltskandal fällt zufällig in die Zeit, in der die ersten Ergebnisse einer parlamentarischen Untersuchungskommission über Umwelt- und Gesundheitsschäden in Dilovası - einer Stadt mit 35.000 Einwohnern, gelegen zwischen Izmit und Istanbul - veröffentlicht wurden. Die Menschen leben dort inmitten von 167 Industriebetrieben, hauptsächlich Petro- und Farbenchemie, von denen nur 16 eine Kläranlage betreiben. Eine Untersuchung der Kocaeli Universität in Izmit kommt zum Ergebnis, dass in Dilovasi und Umgebung zweieinhalb Mal mehr Menschen an Krebs sterben wie in der übrigen Türkei.

Der Umwelt- und Forstminister Osman Pepe, der selbst aus Izmit stammt, hat in einem Rundumschlag alle betroffenen Firmen aufgefordert ihrer umweltrechtlichen Verantwortung gerecht zu werden. Fast schon als Fanal muss seine flammende Rede in einer aktuellen parlamentarischen Anhörung zu den Ergebnissen der Untersuchungskommission bewertet werden. „Natürlich müssen wir hier auch eine Realität anerkennen. Angefangen bei den Politikern dieses Landes, seinen Unternehmern und Intellektuellen schert sich niemand groß um die Umwelt.“ Pepe kritisiert das fehlende Umweltbewusstsein und nimmt die Politik davon nicht aus.

Nach geltendem Recht sind Sanktionen für Umweltsünder kaum abschreckend und meist werden sie zur Zahlung eines geringen Bußgeldes aufgefordert, dass weit unter den Kosten der Müllentsorgung liegt. Des Weiteren mangelt es an Personal und der Infrastruktur zur Kontrolle von umweltrechtlichen Bestimmungen. Zudem stehen die Gouverneure, die in den Provinzen als verlängerter Arm des Zentralstaates gemeinsam mit den provinzialen Vertretungen des Forst- und Umweltministeriums mit der Umweltkontrolle beauftragt sind, einem Interessenkonflikt gegenüber. Sie werden in den Provinzen auch oft zu den Vorsitzenden der Industrieentwicklungszonen gewählt und beziehen dann ganz offiziell neben ihrem Gehalt nicht unerhebliche Tantiemen. Der Gouverneur von Izmit (Kocaeli) soll von der örtlichen Industrie eine deutsche Luxuslimousine für ca. 200.000 Euro als Dienstwagen spendiert bekommen haben.

Ferner sind Umweltgesetze zwar oft gut gemeint aber fern der Realität. Vor zwei Jahren traten wichtige Teile der Verwaltungsreform in Kraft. Es wurde u.a. festgelegt, dass türkische Gemeinden künftig Mülldeponien und Müllentsorgungsanlagen nach EU-Umweltstandards einzurichten hätten. Bisher existieren aber gerade einmal ca. 200 Mülldeponien türkeiweit, die diese Auflagen erfüllen. Die Bestimmung wurde zunächst für zwei Jahre ausgesetzt, weil ansonsten ein Großteil der 3.200 türkischen Bürgermeister sich strafbar gemacht hätte.

Neben diesen aktuellen Vorfällen lassen sich unzählige Beispiele für Umweltzerstörungen und unumkehrbare Eingriffe durch Menschenhand in die Natur aufzählen. Beispielhaft können die vielen großen anatolischen Süßwasserseen, wie Beyşehir-Gölü oder Van-Gölü oder der Große Salzsee in Inneranatolien, genannt werden. Sie sind bedeutende Ökosysteme. Durch unverhältnismäßig hohen Wasserverbrauch der Haushalte und besonders der Landwirtschaft und auch niederschlagsarme Sommer sind diese Binnengewässer auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Ausdehnung geschrumpft. Die ungeklärte Einleitung von industriellen und privaten Abwassern hat ferner wichtige Ökosysteme zerstört. Ein besonderes Beispiel für den rücksichtslosen Umgang mit Umweltressourcen stellt die „Schwarzmeerautobahn“ dar. Der Bau auf einer Länge von 400 Kilometern zwischen Trabzon und Samsun bedeutet zweifelsohne eine erhebliche Verbesserung der Infrastruktur. Jedoch wurde an vielen Stellen einfach das Meer aufgeschüttet und dadurch einzigartige Strände und Buchten zerstört.

Die neusten Skandale haben die Verabschiedung des neuen Umweltgesetzes beschleunigt. Der Gesetzentwurf bestehend aus 26 Paragraphen ist ein Novum, zumal seit 11 Jahren türkische Regierungen an einer Umweltgesetzgebung arbeiteten, aber ihre jeweiligen Entwürfe nicht durch das Parlament bringen konnten. Das Umweltgesetz bestimmt für die Gemeinden, den Bau von Kläranlagen im Zeitraum der nächsten 3 bis 10 Jahre. Zum ersten Mal überhaupt sind drakonische Bußgelder für Umweltsünder bis hin zur Schließung von Produktionsstätten und Freiheitsentzug vorgesehen. Durch Strafandrohung alleine wird aber eine Sensibilisierung in Umweltfragen in der Türkei kaum eintreten. Recyclingprojekte und Müllvermeidung müssen parallel dazu forciert werden. Nach Plänen des Bildungsministeriums sollen auch Umweltthemen in die Lehrpläne aufgenommen werden.

„Demokratisches Manifest“ des Parlamentspräsidenten Bülent Arınç

Der 23. April ist in der Türkei ein bedeutender Feiertag. Als „Tag der nationalen Souveränität und der Kinder“ wurden die Feierlichkeiten in Gedenken an die Eröffnung des türkischen Parlaments vor 83 Jahren begangen. Alle türkischen Schulen organisieren Feierlichkeiten, Minister räumen für Kinder und Jugendliche stundenweise ihren Schreibtisch und „übergeben“ die Macht an die Kinder, die gleichzeitig die Zukunft der Republik Türkei symbolisieren und der Parlamentspräsident lädt zu einer Pflichtveranstaltung ins Parlament. Der Präsident der Großen Türkischen Nationalversammlung Bülent Arınç nutzte den diesjährigen Anlass zu einer Brandrede oder einem „demokratisc hen Manifest“, wie türkische Medien es formulierten. Vor Staatpräsident, Ministern, Abgeordneten und dem kompletten Generalstab sprach er über sehr sensible Themen.

Eine Demokratie könne die Existenz einer „geheimen Verfassung“ nicht akzeptieren, so Arınç. Er verwies hier auf das „Politische Dokument zur Nationalen Sicherheit“, ein „Rotes Buch“ des Militärs, welches jedem Ministerpräsidenten während der ersten Sitzung zum Nationalen Sicherheitsrat vom Generalstabschef überreicht wird. Dieses richtungweisende Dokument gilt als „geheime Verfassung“ und soll die wichtigsten „Roten Linien“ des türkischen Militärs darstellen. Alle Beteiligten müssen absolutes Stillschweigen über den Inhalt dieses Büchleins bewahren, ansonsten drohen drakonische Strafen.

Arınç kritisierte vor allen wichtigen Repräsentanten des Staates und öffentlich, seine Rede wurde live übertragen, dieses Dokument und die dahinter stehende Mentalität. In einem demokratischen Land seien Begriffe wie „geheime Verfassung, Rotes Buch und tiefe Verfassung“ keine zu akzeptierende Begriffe, sie wiesen darauf hin, dass sich im Hintergrund eine antidemokratische Kraft an der Macht befände, so Arınç.

Der türkische Parlamentspräsident kritisierte ferner, dass zwar das Sultanat vor über 80 Jahren abgeschafft worden sei, es im heutigen Machtgefüge des Landes aber Institutionen gebe, die anstelle der partizipativen Demokratie eine Mentalität einer „institutionellen Oberhoheit“ forcierten. Es gebe in der Türkei kein Regimeproblem, sondern lediglich eine Diskussion über die Besitzergreifung des Regimes, so Arınç. Die Türkei habe vor 83 Jahren die Entscheidung für eine Republik und Demokratie getroffen und das aktuelle Parlament und die Regierung mit allen ihren Organen würden unbeirrt diesen eingeschlagenen Weg fortsetzen. Ferner sprach er auch das türkische Laizismusprinzip an. Niemand in der Türkei würde gegen das in der Verfassung unabänderliche Laizismusprinzip stehen. Die Diskussionen um den Laizismus hätten ihren Ursprung in unterschiedlichen Definitionsansätzen. Es seien unterschiedliche Anwendungen im öffentlichen Raum über die Jahre an-gewandt worden.

Die türkische Öffentlichkeit hat die geführte Rede mit großer Genugtuung aufgenommen. Viele Journalisten, Wissenschaftler und auch Politiker aller Couleur stimmen mit den Grundinhalten dieser Rede überein. Sie richten ihre Kritik gegen die Regierung von Ministerpräsident Erdoğan. Diese hätte die verfassungsändernde Mehrheit, um die von dem Parlamentspräsidenten angesprochenen Missstände zu korrigieren. Die CHP-Fraktion enthielt sich geschlossen des Beifalls. Ihr Vorsitzender Deniz Baykal soll in dieser Frage Fraktionszwang gefordert haben. Der CHP-Fraktionsvize Ali Topuz hat Bülent Arınç mit dem iranischen Präsidenten verglichen. „Der sehr geehrte Herr Parlamentspräsident verfolgt meiner Ansicht nach den Wunsch Bülendinedschad zu werden. Dieses Bestreben sehe ich sowohl für die Türkei als auch für seine Person als sehr gefährlich an“.

Zum ersten Mal hat ein Politiker in exponierter Stellung solche Aussagen gemacht. Damit erfolgte ein weiterer Tabubruch. Die Reaktionen in der türkischen Öffentlichkeit zeigen, wie gefestigt die türkische Demokratie ist. Vor 15 Jahren hätten solche Aussagen noch zu einer Staatskrise führen können.

Geplante Verschärfung des Anti-Terrorgesetzes

Nach signifikanten Fortschritten im Demokratisierungsprozess der Türkei sehen viele politische Beobachter diese Errungenschaften durch eine Verschärfung des Anti-Terrorgesetzes wieder teilweise gefährdet. Grund für die Gesetzesvorlage, sind die Ausweitungen terroristischer Aktivitäten der PKK und die Zunahme gewaltsamer Ausschreitungen im Südosten der Türkei. So wurden bei Auseinandersetzungen in Diyarbakir neun Menschen getötet. Die Tatsache, dass sich verstärkt Kinder und Jugendliche an den Demonstrationen beteiligten, erhöhte den Handlungsdruck auf die Regierung. Seit einiger Zeit beklagten sich insbesondere das Militär und die Sicherheitskräfte darüber, dass ihnen die Hände durch die bestehende Rechtslage im Kampf gegen den Terrorismus gebunden seien. Ein Gesetzesentwurf zur Verschärfung des Antiterrorgesetzes, an dem seit Monaten im Justizministerium gearbeitet wurde, liegt nun dem Parlament vor.

In Zukunft können dann auch Eltern zur Verantwortung gezogen werden, wenn ihre Kinder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Publikationen, die „das Volk dem Militär entfremden“, sollen demnächst einer strengeren Zensur unterliegen. Das Gesetz sieht außerdem eine Verschärfung des Strafmaßes vor: So müssen Teilnehmer einer Sympathiekundgebung einer Terrororganisation nun mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen. Die Strafen für Gründung, Mitgliedschaft oder Leitung einer terroristischen Organisation sollen ebenfalls erhöht und Kontakte zwischen Angeklagten und Verteidigern eingeschränkt werden. Darüber hinaus darf nach der Gesetzesvorlage ein Terrorismusverdächtiger nur einen Anwalt konsultieren. Dies kann aber von einem Richter für 24 Stunden ausgesetzt werden. Die Bußgelder für Zeitungen und Verleger sollen erheblich erhöht werden, Eigner von Zeitungen sollen bei gewissen Straftatbeständen mit einer Haftstrafe belegt werden können und die Schließung ganzer Zeitungen soll wieder möglich sein.

Ministerpräsident Tayyip Erdogan verteidigte die Gesetzesinitiative damit, dass ein Gleichgewicht zwischen persönlicher Freiheit und dem Schutz vor Terrorismus geschaffen werden müsse. Außenminister Gül erklärte mehrfach, dass keineswegs die demokratischen Reformen zurück genommen werden sollen.

Der Polizei gingen die geplante Änderungen hingegen nicht weit genug. Sie forderte die weitere Rücknahme der Liberalisierung. Dagegen stieß der Gesetzesentwurf in den Medien auf harsche Kritik. Der Text widerspreche den Menschenrechten, erklärte der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation IHD, Yusuf Alataş. Von einem Rückfall in die Zeiten des Kriegsrechts sprach Yavuz Önen, der Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung TİHV. Pamuk Orhan verurteilte das Gesetzesvorhaben als Fortbestand der „alten Gesinnung“.

Info-Mail

Ein Gesetzentwurf, eingebracht durch den AKP-Abgeordneten Fatik Arıkan, hat die großen Einzelhandelsketten in der Türkei beunruhigt. Die Branche, in der auch deutsche Unternehmen wie die Metro AG vertreten sind, ist ein wichtiger Wachstumsmarkt. Der Entwurf sieht vor, dass die Öffnungszeiten 10.00 Uhr bis 20.00 Uhr beschränkt werden und die Geschäfte einen Tag in der Woche geschlossen bleiben sollen. Bisher sind die Läden jeden Tag bis 22.00 Uhr geöffnet und lediglich 2-3 Tage im Jahr an wichtigen Feiertagen geschlossen. Der Abgeordnete will mit seinem Vorschlag die kleinen „Tante-Emmaläden“ vor dem Konkurrenzdruck der großen Verbrauchermärkte schützen. +++ Eine Umfrage unter 3.483 Schülern der zweiten Klassen verschiedener Lyzeen (entspricht 10 Klasse Gymnasium) brachte bedenkliche Ergebnisse zutage. 26% der Befragten geben an, mindestens einmal einen Mitschüler körperlich verletzt zu haben. 39% dieser waren gar vor dem 12. Lebensjahr in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt. 22.6 % der Befragten geben an, scharfe Gegenstände wie Messer bei sich zu tragen. Bei mehreren Auseinandersetzungen an türkischen Oberschulen wurden in den vergangenen Wochen fünf Schüler tödlich verletzt. Eltern und Politiker weisen sich gegenseitig die Schuld für diese Gewalttätigkeiten zu. Mittlerweile wird als Erstmaßnahme überlegt, alle Internetcafes mit Filterprogrammen auszustatten und den Zutritt für Jugendliche unter 16 Jahren nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten zu gestatten. +++ Das türkische Statistikinstitut hat nach den Ergebnissen der letzten Volkszählung aus dem Jahre 2000 neue Zahlen für Istanbul veröffentlicht. Demnach repräsentieren die Istanbuler 15% der türkischen Gesamtbevölkerung und 23% der Stadtbevölkerung in der Türkei. Von den offiziell 10 Mio. Einwohnern Istanbuls wurden ca. 3,7 Mio. auch in Istanbul geboren. Gruppiert man die Einwohner nach ihrer Zuzugsregion, so liegt signifikant an erster Stelle mit 375.000 Menschen die Provinz Sivas. Weitere Provinzen: Kastamonu 263.000, Giresun 245.000, Ordu 244.000, Trabzon 214.000, Samsun, 212.000, Tokat 203.000, Malatya 195.000, Sinop 179.000 und Erzurum 186.000. Bemerkenswert ist, dass besonders viele Menschen aus den Schwarzmeerregionen in Istanbul leben. Die Situation bei den 69 Abgeordneten der drei Istanbuler Wahlkreise sieht ähnlich aus: Nur 14 sind beim Einwohnermeldeamt in Istanbul registriert. Die bekannte türkische Soziologin Prof. Dr. Nur Vergin berichtete, dass die Menschen aus Anatolien sich ihre kleinen anatolischen Welten in Istanbul eingerichtet hätten. Die Menschen aus der gleichen Region leben in Stadtteilen zusammen und kommen weder beruflich noch durch Sozialisation mit dem Stadtzentrum in Berührung. „Aus diesem Grund beobachten wir in der Türkei eine Verstädterung, aber keine Urbanisierung oder Verstädtlichung der Menschen“, so Vergin weiter. +++ Parallel zu den Diskussionen in Deutschland beschäftigt sich auch die türkische Öffentlichkeit mit Morden aufgrund von sog. „Verletzung der Ehre“ (Namus Cinayetleri). Eine eigens dazu einberufene Untersuchungskommission unter dem Vorsitz der AKP-Abgeordneten Fatma Şahin hat ihre Arbeit aufgenommen, um die Situation nach den Änderungen des Strafrechts zu analysieren. „Ehrenmorde“ werden mittlerweile ungleich strenger als bis-her bestraft, da diese Verbrechen von türkischen Gerichten nicht mehr wie bisher als Kavaliersdelikt, sondern als Mord behandelt werden. Die zentrale Polizeibehörde hat nun eigens einen Bericht veröffentlicht. Demnach habe es in den letzten sechs Jahren landesweit 1.091 Vorfälle gegeben, bei denen 1.190 Menschen zu Tode gekommen seien. Unter den Ermordeten befänden sich 780 Männer und 480 Frauen. 322 der Verbrechen seien unter dem Deckmantel von Ehrverletzungen begangen worden. Auch wenn 38% der Tötungen in der Marmara-Region und der Ägäis stattfanden, so seien 38% der Ermordeten aus den Regionen Südost-, Inner- und Ostanatolien. 45% der Täter kämen ebenfalls aus diesen Regionen. In der Türkei unterscheidet man übrigens zwischen Morden aufgrund von Ehrverletzungen (Namus Cinayetleri) und den in Deutschland so genannten Ehrenmorden (Töre Cinayetleri). Die letzteren sind jene, in denen ein Familienrat zusammentritt und die Ermordung eines Familienmitgliedes beschließt. Die Namus Cinayetler sind weiter gefasst und es tritt meist kein Familienrat zusammen. Die Täter handeln aufgrund von Ehrverletzung wie z.B. ein betrogener Ehemann aus dem Affekt heraus und als Einzeltäter. +++ Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet) hat angekündigt im Laufe dieses Jahres Reformen für die Ausarbeitung der Freitagspredigten durchzusetzen. Seit 1973 werden die Texte für die Predigten zentral in Ankara durch den Hohen Rat für Religiöse Angelegenheiten ausgearbeitet. Nun sollen die Müfü-Ämter in den 81 Provinzen diese Kompetenz übertragen bekommen. Prof. Dr. Izzet Er, Stellv. Präsident des Diyanet, erläuterte, dass der Text in einer Istanbuler Moschee am Freitag nicht der gleiche sein könne, wie in einer Moschee im äußersten Nordosten des Landes. Der Hohe Rat habe somit auch auf die oft geäußerte Kritik reagiert, die dem Diyanet seit Jahren einen übertriebenen Zentralismus vorwerfe. Da nach Untersuchungen an Freitagen die Moscheen landesweit gut gefüllt seien und leicht bis zu 20 Mio. Menschen erreicht werden könnten, sei diese Entscheidung gefallen, so Prof. Er. In jedem Fall dürfte dies lediglich ein Zwischenschritt sein. Zwar werden Kompetenzen aus der Zentrale abgegeben, aber eine wirkliche Dezentralisierung würde bedeuten, dass alle 76.000 Imame in eigener Verantwortung Predigten abfassen dürften. +++ Der Staatsanwalt in der Provinz Van, Ferhat Sarıkaya, der eine Anklageschrift zu den Vorgängen in der Stadt Şemdinli verfasst hatte, in der er den Vier-Sterne-General und designierten Generalstabschef Yaşar Büyükanıt schwer belastet haben soll, wurde vom „Hohen Rat der Staatsanwälte und Richter“ seines Amtes enthoben. Der Chef der Anwaltskammer Ankara verurteilt diese Entscheidung aufs Schwerste, weil diese Entscheidung bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz und der Oberhoheit des Rechts Besorgnis erregend sei, so Vedat Ahsen Coşar. Der Oberstaatsanwalt des Kassationsgerichtshofes Nuri Ok zeigt sich zwar prinzipiell mit dieser Amtsenthebung einverstanden, merkt jedoch an, dass Entscheidungen des Hohen Rats der Staatsanwälte und Richter der Kontrolle der Justiz geöffnet werden müssten. +++ Der neue deutsche Botschafter in der Türkei, Dr. Eckart Cuntz, übernahm offiziell Ende April 2006 sein Amt. Sein Vorgänger, Dr. Wolf-Ruthart Born, wechselte nach Madrid. Dr. Cuntz war zuvor Leiter der Europaabteilung im Auswärtigen Amt. +++

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Ilgili kişi

Sven-Joachim Irmer

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