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Es geht um mein Leben!" So klar begründen selbst Leute von der Straße ihre
Zustimmung zur genbiologischen Forschung. Damit ist den sogenannten
Lebenswissenschaften naturwissenschaftlicher Provenienz gelungen, worauf
andere Disziplinen neidvoll blicken, die volksnahe Begründung ihres Daseins.
Demgegenüber scheinen die Geisteswissenschaften schlechte Karten zu haben.
Zudem haben sie Angst vor Mittel- und Stellenkürzungen für ganze
Fachkulturen. Das Jahr der Geisteswissenschaften lädt dazu ein, noch einmal
zu prüfen, ob sie der Öffentlichkeit wirklich so schlecht zu vermitteln
sind. Ist doch ihr Gegenstand die menschliche Lebenswirklichkeit selbst, so
unterschiedlich sie auch geschichtlich, sozial, kulturell und religiös
geprägt sei.
Offensichtlich liegt genau darin das Problem der Geisteswissenschaften. Sie
handeln von dem, was die Menschen unmittelbar angeht. Indem sie es aber in
seiner unerschöpflichen Vielfalt und atemberaubenden Vielzahl an
Perspektiven untersuchen, fühlen sich Außenstehende eher verwirrt. Während
aus Objektivität - bildlich gesprochen – der Forscher sich immer tiefer über
seinen Gegenstand beugt und sich in ihm geradezu verliert, scheint vielen
der Gegenstand - ihre Lebenswirklichkeit – unrettbar verloren zu gehen.
Gegen diesen Eindruck hilft nur Beteiligung. Die Geisteswissenschaften
müssen sich über die Schulter schauen lassen, sie müssen ihre Arbeit über
alle Ausdifferenzierung hinweg in eine gemeinsame Perspektive eintragen, die
sich für die Menschen einsichtig mit den Erfordernissen ihres Lebens
verbindet.
Geisteswissenschaften üben die Kunst der Unterscheidung aus. Kunst nicht in
der ästhetischen Bedeutung, sondern im platonischen Verständnis der
Fertigkeit, des verständigen Umgangs mit Dingen. Was so gewonnen wird, ist
der Beliebigkeit entrissen und hat bleibenden Wert. Der Begriff
Unterscheidungskunst hält im aristotelischen Sinn den wissenschaftlichen
Charakter der Geisteswissenschaften fest. Das Unterscheiden erschließt die
Sache auf doppelte Weise. So trennt es, rein formal, den
Forschungsgegenstand aus dem Ganzen heraus. Seine Definition verlangt die
Unterscheidung der Besonderheiten vom allgemeinen Zusammenhang, von dem her
die Sache sich gibt. In diesem umfassenden Sinn ist Unterscheidung für jede
Wissenschaft unverzichtbar, auch für die Naturwissenschaften.
Und ebenso für den Alltag: Dreht man die Dinge nämlich hin und her, prüft
sie wieder und wieder, dann unterscheidet man hier wie da, um zu gewinnen,
was Bestand hat. Insofern Wichtiges und Gültiges nur in der Unterscheidung
vom scheinbar Wichtigen gewonnen wird, Bleibendes in der Unterscheidung vom
vergänglich Dahingehenden, Richtiges in der Unterscheidung vom Irrtum,
Wahres in der Unterscheidung von Lüge und Gutes in der Unterscheidung vom
Bösen, ist die Tätigkeit des Unterscheidens auch material zutiefst
bedeutsam. Als methodisch gesicherte Reflexion verbindet Unterscheiden die
Geisteswissenschaften, als täglich neue Anstrengung um Rat und Orientierung
sichert es erfolgreiches Bestehen des menschlichen Alltags.
Beim Unterscheiden gehen Wissenschaften und Alltagswelt Hand in Hand, wie
sich an zwei Beispielen zeigen lässt. Das erste stammt aus der
Gegenwartskultur. "Zappen oder Blättern". Zappend springen wir beim
Fernsehen von Augenblick zu Augenblick, ohne dass sich der einzelne Eindruck
wiederholen oder verstetigen ließe. Beim Blättern hingegen kann man zum
bereits Gelesenen zurückkehren und ihm nachgehen. Bei beiden
Wahrnehmungsweisen handelt es sich nicht nur um verschiedene Aspekte,
sondern um unterschiedliche "Wirklichkeitswelten".
"Zappen" steht für eine präsentisch gedachte Realität ohne wiederholende
Vergegenwärtigung, "Blättern" dagegen für ein von Wiederholung, Erinnerung
und Gedächtnis bestimmtes Wirklichkeitsverständnis. Geisteswissenschaften
zeigen, dass hinter den Einrichtungen unserer Alltagskultur grundlegende,
miteinander konkurrierende Weisen des Sich-Aufhaltens in Welt und Geschichte
stehen. Forschung markiert nicht nur Entscheidungsmöglichkeiten in
Alltagsfragen, sondern vertieft Alternativen durch den Aufweis ihrer
Konsequenzen.
Das zweite Beispiel ist Platons Wertschätzung der Unterscheidungskunst, wenn
er Sokrates im Dialog "Gorgias" sagen lässt, es komme nicht darauf an, gut
zu scheinen, sondern gut zu sein. Platon verstand die Maxime als
philosophischen Einspruch in der Debatte um die Gestaltung von Politik als
verantwortlicher Umgang mit Macht. Die Missachtung dieses Unterschiedes ist
das Einfallstor des Machtmissbrauchs. Gegen solche Täuschungsversuche steht
die Philosophie als Aufklärung durch Unterscheidung. Ähnlich haben die
Geschwister Scholl gegenüber dem Nationalsozialismus mit ihrem Leben auf dem
Unterschied von Schein und Sein bestanden. Gut scheinen, ohne es zu sein -
das ist in Wahrheit Beugung des Rechts, Missbrauch des Staates, Betrug an
den Menschen und letztlich Betrug an sich selbst, weil der eigene Auftrag zu
einem verantworteten Leben mit Füßen getreten wird.
Oft können Geisteswissenschaften den Missbrauch nicht verhindern, sie
schärfen aber kritisches Bewusstsein und tragen zu seiner Entlarvung und
Überwindung bei. So stützen sie die demokratischen Strukturen. Diese
Unterscheidungskunst betrifft aber auch die Geisteswissenschaften selbst,
insofern sie zu prüfen haben, inwieweit ihre Arbeit gegenüber den
Auftraggebern allein dem Maßstab guter Wissenschaft folgt. In Verbindung mit
der Korrekturbereitschaft wird Unterscheidungskunst zum inneren Prinzip
persönlicher menschlicher Reife wie gesellschaftlicher Entwicklung. Wer mit
eigener Fehlbarkeit rechnet, ermöglicht Neuanfang. Das Schuldbekenntnis, in
dem sich die Kirche im Jahr 2000 ihrer Geschichte im Umgang mit dem Dritten
Reich stellte, war ein solches Zeichen geisteswissenschaftlich geschulter
Unterscheidungskunst.
Die Unterscheidung von Schein und Sein ist von größter Bedeutung für jede
Wissenschaft. Die nie abgeschlossene Aufklärung des Scheines treibt die
Erkenntnis voran. Was vertraut und bekannt scheint, erweist sich in dieser
Unterscheidung als noch immer fremd und längst nicht durchschaut. Dem damit
verbundenen Verlust an Sicherheit steht der Gewinn an Dynamik in der
Forschung gegenüber. Im Vollzug dieser Differenz wird Wirkliches vom
Unwirklichen geschieden, denn die Vernunft sucht nach dem Bleibenden und
trennt es vom Zufälligen. So verwirklicht sich in der Unterscheidungsarbeit
der Mensch als Träger des Geistes, als Vernunftwesen.
Das Bestehen auf dem Unterschied von Schein und Sein verlangt seinerseits
nach Unterscheidung. Verwerfen wir den Schein, weil uns das Sein klar vor
Augen steht, oder weil wir den Schein als Schein entlarven? Letzteres ist
Lernen aus Fehlern und die bescheidenere Position. Sein als Sein,
Wirklichkeit hundertprozentig zu erkennen, ist als Forderung Überforderung
und als Anspruch Anmaßung. Die Wirklichkeit im Ganzen kann nicht in gleicher
Weise erkannt werden wie einzelne Gegenstände. Wohl kann sie als Grenze
verstanden werden, die jede Einzelerkenntnis berührt, ohne sie zu
überschreiten. Dies festzuhalten ist Aufgabe der Philosophie. Platon ging in
den Dialogen diesen Weg. Edmund Husserl hat ihn im 20. Jahrhundert durch die
Methode des Einklammerns beschritten, die nicht Skepsis meint, sondern
Denken als Gang versteht, der nicht vorzeitig gestoppt werden darf. Wird das
beachtet, muss man Relativismus nicht fürchten.
Ein halbes Jahrtausend früher hat der deutsche Kardinal und Philosoph
Nikolaus von Kues für das Berühren dieser Grenze ohne ihre Überschreitung
den Begriff des gelehrten Nichtwissens geprägt. Ein Bekenntnis zum gelehrten
Nichtwissen ist nicht Faulheit, sondern äußerste Anstrengung in der
Unterscheidungsarbeit, die für alle Wissenschaften den Grund ihres Tuns
bedenkt.
Im Christentum weiß sich der Mensch genau auf diese Grenze gestellt, aber
ohne ihr Herr zu sein. In ihr offenbart sich ihm Gott als tragender Grund
und bergendes Geheimnis aller Wirklichkeit. Der Theologie als
wissenschaftlicher Reflexion des geoffenbarten Glaubens erwächst daraus der
Auftrag einer doppelten Unterscheidung. Sie hat dafür zu sorgen, dass der
Glaube Glaube bleibt, nämlich Erwartung der Vollendung von Mensch und Welt
durch Gott. Der Glaube muss deshalb von der Versuchung einer menschlichen
Bemächtigung des Handelns Gottes unterschieden werden, mit der das Unwesen
von Religion beginnt.
Hier ist der Theologe sowohl Anwalt des Gott gemäßen Glaubens wie der dem
Menschen gemäßen Vernunft. So nimmt die Theologie teil an der
Selbstunterscheidung menschlicher Vernunft zwischen einem seiner Grenzen
bewussten Vernunftgebrauch und einer pathologischen Vernunft. Paulus hat das
in seiner Kreuzestheologie gewusst, Karl Barth mit mächtiger Stimme
eingefordert. Unlängst galt das Gespräch zwischen dem damaligen Kardinal
Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., und Jürgen Habermas dieser Aufgabe.
Die zweite theologische Unterscheidung gründet in der Verheißung des
Glaubens, Gott werde einst alles in allem sein (l. Korinther 15,28) und
darin Mensch wie Welt Gericht und Vollendung finden. In dieser Perspektive
denkt die Theologie nicht mehr nur vom Menschen her auf die äußerste Grenze
hin. Sie trägt umgekehrt von der Grenze her das Ziel der Verheißung heran an
die menschliche Lebenswirklichkeit als deren grundlegendste und alles
erfüllende Bestimmung. Theologisch fundiert lässt der Glaube den Unterschied
zwischen einem Leben sehen, das sich allein von menschlicher Begrenztheit
her erschließt, und einer Perspektive des Heiles, die in der Zuwendung
Gottes gründet.
Erst diese Unterscheidung, die mit dem Menschen als Geschöpf seine
Vergänglichkeit bejaht und mit der göttlichen Erwählung seiner Geistnatur
zugleich die Zugehörigkeit zum Ewigen bedenkt, bestimmt den Menschen in
umfassender Weise. Droht diese Einsicht in immer neuen Unterscheidungsgängen
verloren zu gehen?
Nikolaus von Kues, der Philosoph mit dem Kardinalshut, verweist auf einen
eigenartigen Umstand. Dringen wir durch unablässiges Unterscheiden bis zum
letzten Grund vor, zeigt sich dieser als Ineinsfall alles Unterscheidbaren,
als Nichtunterschiedenheit. Ohne es in ein verfügbares Wissen zu bringen,
fördert deshalb alles Unterscheiden die Ahnung dieser Nichtunterschiedenheit
als letztem Zusammengehören -ion Gott, Mensch und Welt. In dieser
Perspektive ist nichts Vergängliches nur vergänglich, erstickt Endliches
nicht in Endlichkeit. Die Unterscheidungsarbeit der Geisteswissenschaften
erfüllt ihren Anspruch, den Menschen würdige und gültige Perspektiven zu
öffnen, "damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Johannes 10,10).