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Der Siegeszug der Kleinkredite in Indien

з Dr. Helmut Reifeld

Ein Weltgipfel in New Delhi

Zwischen dem 1. und dem 5. Februar 2001 fand in New Delhi der zweite Weltgipfel zur Förderung von Kleinkrediten statt, der sich diesmal auf die Regionen Asien und Pazifik konzentrierte. Eine erste internationale Gipfelkonferenz zu diesem Thema hatte 1997 in Washington DC stattgefunden. Dort waren konkrete Zielmarken der Armutsbekämpfung mit Hilfe von Kleinkrediten für das Jahr 2005 formuliert worden. Die Fortschritte auf dem Weg dorthin wurden jetzt in Delhi einer Prüfung unterzogen.

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Für die Durchführung des "Microcredit Summit" in New Delhi zeichnet vor allem die "All India Women's Conference" (AIWC) verantwortlich, die größte, bereits 1926 gegründete Frauenorganisation in Indien. Mitorganisatoren waren die Asian Development Bank, Manila, und die amerikanische "Microcredit Summit Campaign". Für Indien bildete der Gipfel gewissermaßen den Auftakt des "Women's Empowerment Year 2001", in dessen Verlauf noch zahlreiche Veranstaltungen ähnlicher Art folgen sollen.

Die über 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 30 Staaten Asiens und des Pazifik setzten sich vier Tage lang mit den Möglichkeiten auseinander, speziell die Familien in diesen Regionen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, gezielt durch Kleinkredite zu fördern. Immerhin leben dort zwei Drittel der Armen unserer Erde. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand die Schaffung von Institutionen und die Verbesserung der Strukturen, um speziell Frauen besser zu erreichen als bisher. Da sich speziell in Indien 85% aller Selbsthilfegruppen (SHG) ausschließlich aus Frauen zusammensetzen, bilden sie eindeutig die primäre Zielgruppe.

Das Erfolgsrezept für Kleinkredite heute lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen: Erstens sollen Frauen speziell in Dörfern und ländlichen Gebieten kleinere Beträge erhalten (oft nur zwischen 10,- und 50,- DM), die es ihnen ermöglichen, eigenes Einkommen zu erzielen. Zweitens bedarf es zur Entwicklung der Rückzahlungsmoral der Einbindung in eine Frauenselbsthilfegruppe, die möglichst transparent und ohne eigene Kosten arbeitet. Unter diesen Voraussetzungen liegt die Rückzahlungsquote in der Regel bei nahezu 100%. Gleichzeitig scheint die rasche Verbreitung von Kleinkrediten durch Selbsthilfegruppen auch als ein Gegenmittel zu wirken gegen die Übel von Korruption, bürokratischer Schwerfälligkeit und sozialer Diskriminierung.

Die Situation in Indien

Ähnlich wie auch in anderen südasiatischen Ländern hat die Vergabe von Kleinkrediten an die ärmere, ländliche Bevölkerung teilweise schon in den achtziger, vor allem aber in den neunziger Jahren auch in Indien einen Siegeszug angetreten. Die wichtigsten Gründe hierfür sind:

  1. Viele der wachstumsorientierten Strategien aus der Vergangenheit haben sich für die ländliche Entwicklung als unzureichend erwiesen.
  2. Der "trickle-down-effect", auf den zahlreiche Entwicklungsökonomen ihre Hoffnung gesetzt hatten, hat kaum zur Armutsbekämpfung beigetragen.
  3. Viele kleinere Entwicklungspotentiale - insbesondere auf dem Lande - sind ungenutzt geblieben.
  4. Die Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft bedarf oft nur geringfügiger privater Investitionen.
  5. Der tatsächliche Finanzbedarf der ländlichen Bevölkerung ist oft falsch (weil zu kurzfristig und zu konsumorientiert) eingeschätzt worden.
Bis heute sind in Indien weder die staatlicherseits zur Verfügung gestellten Kleinkredite noch die privaten Organisationen dem tatsächlichen Bedarf auf dem Lande gerecht geworden. Bis heute ist die Scheu verbreitet, auch in abgelegene Gebiete vorzustoßen und auch Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, Kreditwürdigkeit zu konzedieren. Bis heute gehört es zum Image der Armut, dass diese Menschen über keine Eigenmittel verfügen, keine Ersparnisse bilden können und meist unfähig sind, über den täglichen Bedarf hinaus mit finanziellen Ressourcen zu planen. Bis heute wird dieser Zugang speziell in Indien von Großgrundbesitzern blockiert, die es verstehen, die auf ihrem Gebiet lebenden Menschen in Abhängigkeit zu halten.

Obwohl es in Indien seit langem Kredit-Kooperativen gibt, haben diese bisher relativ wenig zur Armutsbekämpfung beigetragen, da sie in der Regel unter der Kontrolle einflussreicher Interessenvertreter standen. Staatliche Kreditprogramme begnügten sich häufig mit der Prämisse, daß die Zur-Verfügung-Stellung von Krediten allein schon zur wirtschaftlichen Entwicklung beiträgt. Die Erfahrung der vergangenen drei Jahrzehnte hat jedoch gezeigt, dass Kredite allein noch nicht zur Kapitalbildung führen. Es bedarf partizipativer Strategien, um Kredite nicht nur für den Konsum zu verwenden, sondern sie zu einem Grundstein für neues Eigenkapital werden zu lassen.

Nur wenn neue finanzielle Möglichkeiten mit neuen Erwerbsmöglichkeiten verknüpft werden, können sie zu neuem Einkommen führen. Hierzu müssen Kleinkredite beitragen: - sei es durch technologische Verbesserungen oder sei es durch erweiterte Produktionsmöglichkeiten wie zum Beispiel den schlichten Erwerb eines Arbeitsochsen. Das entwicklungspolitische Potential von Kleinkrediten besteht darin, dass sie Anreize bilden für neue Investitionen, für neue Arbeitsmöglichkeiten oder auch für neue Ersparnisse. Die Nachfrage nach solchen Krediten darf jedoch nicht lediglich aus der Not heraus geboren sein.

Es hat sich erwiesen, dass das Einfühlungsvermögen von Frauen für diese Zusammenhänge in Indien viel zu lange unbeachtet geblieben ist. Bis 1990 gab es hier so gut wie gar keine Kreditprogramme für Frauen auf dem Lande. Inzwischen ist jedoch weithin anerkannt, dass Frauen mit eigenem Einkommen anders umgehen als Männer. Während Männer in der Vergangenheit 40-50% ihres Einkommens für sich selber ausgegeben haben, sind es bei den Frauen nur 5%.

Die Rolle der Banken

In keinem anderen Land der Dritten Welt gibt es eine vergleichbar breite und umfassende Verknüpfung des Bankensektors mit den Zielen der Armutsbekämpfung und der ländlichen Entwicklung wie in Indien. Obwohl aus der unübersehbaren Fülle von Plänen und Programmen aus den vergangenen fünf Jahrzehnten sehr viele halbherzig und unzureichend und einige nicht einmal ansatzweise umgesetzt worden sind, kommt den Banken bis heute und zweifellos auch in der Zukunft eine wichtige Rolle zu, und diese Rolle ist zur Zeit einem drastischen Wandel ausgesetzt.

Vor der Unabhängigkeit hatten Kreditprogramme für die ländlichen Gebiete in Indien lediglich den Landbesitzern offengestanden. Schon bald nach der Unabhängigkeit wurden jedoch unterschiedliche Strategien entwickelt, um insbesondere die Armut unter der landlosen Bevölkerung zu bekämpfen. Bereits in den fünfziger Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit der Experten auf die zu geringe Liquidität dieser Bevölkerungsgruppe. Fehlendes Eigenkapital und somit fehlende Ersparnisse, geringe Produktivität und somit niedriges Einkommen bildeten einen Teufelskreis.

Nachdem 1969 die meisten Banken verstaatlicht worden waren, wurde das Filialnetz auf dem Lande drastisch ausgeweitet. Ab 1975 wurde dann offiziell eine Politik verfolgt, die dem Kreditbedarf der ärmeren Bevölkerung entgegenkommen sollte. Obwohl 1981 bereits 62% der ländlichen Bevölkerung Zugang zu staatlichen Banken hatte (1951 waren es nur 5% gewesen), lebte dennoch das traditionelle System korrupter Geldverleiher fort. Insbesondere die ärmere Bevölkerung blieb auf diese "money-lenders" angewiesen, die bis heute für ihre exorbitanten Zinsen und erpresserischen Methoden berüchtigt sind. Diese Kredite halfen den Kreditnehmern nur vordergründig über eine akute Not hinweg, führten jedoch langfristig in eine gnadenlose Abhängigkeit und in Formen von Zwangsarbeit, da diese Kreditgeber häufig in Verbindung mit den Großgrundbesitzen handelten.

Die staatlicherseits zur Verfügung gestellten Kleinkredite erwiesen sich jedoch lange Zeit als unzureichend, unflexibel und bürokratisch überfrachtet. Das 1989 eingesetzte "Agricultural Credit Review Committee" stellte fest, dass auf der einen Seite zwar 26% der Rückzahlungstermine nicht eingehalten wurden, dass aber auf der anderen Seite die Rückzahlungsmoral durchaus als zufriedenstellend bezeichnet werden konnte, wenn auf äußere Faktoren, die außerhalb der Macht der Kreditnehmer liegen, Rücksicht genommen wurde. Die Kleinkredite der staatlichen Banken nahmen auf derartige soziale und Umweltbedingungen zu wenig Rücksicht; sie hielten fest an einem starren Prozedere, unterlagen einem unflexiblen Management und legten zu wenig Wert auf Beratung. Statt dem Bedarf der gesamten ländlichen Bevölkerung entgegenzukommen, standen sie nach wie vor nur den Bessergestellten (und somit auch nur den Männern) zur Verfügung; sie produzierten zum Teil immense Nebenkosten und konnten die Korruption nicht unterbinden.

Für die staatlichen Banken bildeten Kleinkredite lange Zeit ein Element der Planwirtschaft und ein zusätzliches Instrument der jeweiligen Regierungen, ihre Produktions-, Einkommens- und Beschäftigungspolitik umzusetzen. Da sie jedoch zu wenig am Bedarf der Menschen unterhalb der Armutsgrenze ausgerichtet waren, wurden sie kaum zu einem effektiven Instrument der Armutsbekämpfung. Zwar haben auch die staatlichen Banken zuweilen kleinere Kredite zur Verfügung gestellt, aber niemals ein System für Kleinkredite entwickelt. Woran es ihnen mangelte war eine breitere Diversifizierung der Verwendbarkeit dieser Kredite, adäquate Verwaltungskosten und eine größere Mitverantwortung der Kreditnehmer bei der Festlegung der Modalitäten.

Chancen für Selbsthilfegruppen

Das ärmste Drittel der Bevölkerung bedarf nicht nur sehr begrenzter Geldbeträge, sondern vor allem auch gleichzeitig der Beratung und Motivation, diese Mittel unter einer langfristigen Perspektive zu nutzen. Werden die Menschen stärker in die Kreditvergabe eingebunden, lassen sich nicht nur die Risiken einer unzureichenden Rückzahlung senken, sondern auch die Kosten der Verwaltung. Ihre Mitverantwortung trägt dazu bei, Kriterien einer fairen Verteilung mit den Interessen ökonomischen Wachstums zu verbinden.

Die Vergabe von Kleinkrediten auf dem Lande verlangt in diesem Zusammenhang ein besonderes Einfühlungsvermögen. Dabei gilt es, die Erwartungen des Kreditgebers an die Kreditwürdigkeit und an die Sicherheiten von Seiten des Kreditnehmers den gegebenen Möglichkeiten anzupassen. Angesichts der äußerst geringen Beträge müssen auch die Verwaltungskosten niedrig und die Erwartungen an den zu erwirtschaftenden Profit begrenzt gehalten werden. Aus diesen Gründen sind institutionalisierte Kreditinstitute in der Regel nicht in der Lage, im Bereich der Kleinkredite kostendeckend zu arbeiten.

Mit der gestiegenen Verbreitung von Selbsthilfegruppen in Indien seit den achtziger Jahren hat das bestehende Bankensystem sein Entwicklungspotential auf dem Lande teilweise eingebüßt. Zahlungsrückstände und überhöhte Verwaltungskosten taten ein übriges. Die Banken haben in den neunziger Jahren keine neuen Strategien entwickelt, um dem wachsenden Kreditbedarf der ärmeren Bevölkerung entgegenzukommen, während die Selbsthilfegruppe überall wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Vor diesem Hintergrund sagte Finanzminister Yashwant Sinha auf dem Gipfel in Delhi den Selbsthilfegruppen zu, rund 40 Millionen DM in Form eines Fonds zur Verfügung stellen zu wollen (The Economic Times, 3.2.01).

Obwohl der Bedarf an Kleinkrediten in Indien auf der einen Seite nicht mit Hilfe des bestehenden Bankensystems gedeckt werden kann, lässt er sich jedoch auf der anderen Seite auch nicht allein durch Eigeninitiativen befriedigen. Angesichts der immensen Nachfrage bedarf es eines Mittelwegs und der gezielten Unterstützung von außen. Eines der auf dem Gipfel in Delhi am meisten diskutierten Modelle ist das der Grameen Bank in Bangladesch, deren Erfolge - trotz zahlreicher Kritikpunkte - nach wie vor als wegweisend gelten.

Bevor die Grameen Bank 1976 in Bangladesh aktiv wurde, lag die Zahl der weiblichen Kreditnehmer dort unter einem Prozent. Heute vergibt die Grameen Bank 94% ihrer Kredite an Frauen, und sie kann nachweisen, dass nicht nur die Rückzahlungsquote seitens der Frauen sehr viel höher ist als unter Männern, sondern dass vor allem auch die Erträge, die durch die Kredite erzielt werden, in wesentlich höherem Maße den Familien zugute kommen. Wichtig erscheint auch, dass zwei Drittel ihrer Direktoren weiblich sind. Inzwischen bleiben freilich auch die Lernerfolge unter den Männern nicht aus. Männer ermutigen ihre Frauen zur Kreditaufnahme, achten mit auf Rückzahlungstermine und reklamieren vorsichtig, in Zukunft bei der Kreditvergabe auch wieder selber berücksichtigt werden zu wollen. (The Hindu Business Line, 25.01.01)

Dennoch sind die Kritikpunkte an der Grameen Bank speziell für Indien von großer Bedeutung. Während die Grameen Bank in Bangladesch mit Hilfe eines Sondergesetzes unter den Bedingungen des Kriegsrechts entstand und vor allem der Kontrolle ihres Gründers, Dr. Mohammad Yunus, unterliegt, ist sie als Modell untauglich für das strenge, oft als "schottisch" bezeichnete Regelwerk des indischen Bankensystems. Zwar sind die Mitarbeiter der Grameen Bank für ihr Engagement bekannt, aber sie arbeiten oft unter extrem schwierigen Bedingungen, teilweise ehrenamtlich und 40% von ihnen verlassen die Bank wieder nach weniger als sechs Monaten. Viele Regelungen der Grameen Bank sind aus indischer Sicht entweder zu informell oder auch nicht demokratisch genug und damit aus der Sicht des Rechtsstaats ein Sakrileg. Dr. Yunus, der ebenfalls nach Delhi gekommen war, beansprucht allerdings nicht, "seine" Bank anderen Ländern als übertragbares Modell anbieten zu können (Indian Express, 4.2.01).

Der Mittelweg, den es für Indien (und sicherlich auch für eine Reihe anderer Länder) zu entwickeln gilt, liegt in der Stärkung der Selbsthilfegruppen. Sie benötigen vor allem Ausbildungshilfen, erweiterte Ressourcen und Zugangswege. Sie müssen gestärkt werden, nicht um sie zu formalisieren und zu reglementieren, sondern um zu ihrer größeren Verbreitung beizutragen. Die Funktion der Selbsthilfegruppen besteht vor allem in dem Rückhalt, den sie boten, und zwar sowohl bei der Bestimmung der Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers als auch in der Rolle des Garanten für den Kreditgeber. Selbsthilfegruppen stärken das Selbstbewusstsein und erhöhen die Produktivität. Auf diese Weise tragen sie gleichzeitig dazu bei, die tiefverwurzelten Vorurteile der indischen Banken bei der Kreditvergabe an Arme abzubauen und die Berücksichtigung von Frauen zu fördern.

Die Ergebnisse des Gipfels in Delhi geben Grund zur Hoffnung. Die enge Verknüpfung der Kleinkreditförderung mit der Konzentration auf Einkommen schaffende Maßnahmen für Frauen auf dem Land findet eine breite Unterstützung. Ein großer Bedarf besteht jedoch nach wie vor an Schulungen in diesem Bereich. In diesem Sinne machte auf dem Gipfel in Delhi ein altes, fast vergessenes Sprichwort die Runde: "Wenn du für ein Jahr planen willst, pflanze einen Kokosnussbaum; wenn du für fünf Jahre planen willst, lege ein Reisfeld an; wenn du jedoch für die Zukunft planen willst, dann investiere in die Ausbildung deiner Töchter."

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Peter Rimmele

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Sankt Augustin Deutschland