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Die Ukraine vor einer Verfassungsreform

з Ralf Wachsmuth †, Igor Plaschkin

Schlägerei im Parlament

Wenn mehrere Dutzend Abgeordnete der Oppositionsfraktionen im ukrainischen Parlament in Schlafsäcken und in Decken gehüllt sogar während der Nacht die Rednertribüne und den Präsidiumstisch besetzt halten, wenn am Morgen darauf die Emotionen überschwappen und die verfeindeten Fraktionen ihre politischen Argumente lautstark und in Form von Fausthieben und ringkampfähnlichen Aktionen austauschen, dann weiß der politische Beobachter in der Ukraine sogleich, dass eine wichtige parlamentarische Abstimmung unmittelbar bevorsteht und die Opposition sich nicht anders zu helfen weiß, als mit ungewöhnlichen Mitteln einen aus ihrer Sicht zweifelhaften Beschluß der Parlamentsmehrheit zu verhindern.

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Am 23. und 24. Dezember war es wieder einmal soweit: es sollte über eine Gesetzesvorlage zur Änderung der Verfassung abgestimmt werden.

Ein Lehrstück in Sachen Demokratieverständnis auf Ukrainisch

Bereits im August 2002 hatte der amtierende Präsident Kutschma seine Absicht verkündet, die zu dem Zeitpunkt erst 6 Jahre alte Verfassung ändern zu wollen und das präsidentiell-parlamentarische System in ein parlamentarisch-präsidentielles zu verwandeln, in welchem Regierung und Parlament auf Kosten der Macht des Präsidenten mehr Befugnisse zugesprochen werden sollten. Im Sommer dieses Jahres wurden dem Verfassungsgericht fünf Gesetzesvorlagen zur Prüfung vorgelegt. Zwei davon wurden von den Initiatoren noch vor einer Entscheidung des Gerichts von ihren Initiatoren wieder zurückgezogen und die übriggebliebenen drei als verfassungskonform angesehen und dem Parlament zur Entscheidung übergeben.

Inzwischen hatte auch die Venedig-Kommission des Europarats die drei Entwürfe geprüft und erhebliche Mängel festgestellt, die sie zu der Empfehlung an das ukrainische Parlament veranlaßten, die Abstimmung zu vertagen und die Vorlagen noch einmal zu überarbeiten. Doch dazu war die Parlamentsmehrheit nicht bereit. So wurde also am 24. Dezember in einer denkwürdigen Sitzung den Abgeordneten mit dem Gesetzentwurf Nummer 4105 ein Vorschlag zur Abstimmung vorgelegt, der - so der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion „Nascha Ukraina“, Viktor Juschtschenko - in 51 Punkten von der vom Verfassungsgericht genehmigten Fassung abwich. Da die Rednertribüne und der Tisch des Parlamentspräsidenten Wolodymyr Lytwyn von der Opposition besetzt und das elektronische Abstimmungssystem außer Funktion gesetzt worden war, versammelten sich die pro-präsidentiellen Fraktionen und die Kommunisten im hinteren Teil des Sitzungssaals und stimmten per Handheben unter den lautstarken Missfallensbekundungen der oppositionellen Fraktionen ab.

Angeblich sollen 276 der 450 Abgeordneten und damit 30 mehr als notwendig für den Gesetzentwurf gestimmt haben. Eine Zahl, die die Opposition anzweifelt. Das Abstimmungsergebnis wurde der Öffentlichkeit durch Journalisten nicht wie üblich vom Parlamentspräsidenten oder einem seiner Vertreter, sondern vom Vertreter des Präsidenten im Parlament, Oleksandr Sadoroshnij, verkündet, da der Parlamentspräsident den Ort des Geschehens angesichts des allgemeinen Durcheinanders bereits fluchtartig verlassen hatte.

Die Führung der Oppositionsfraktionen von „Nascha Ukraina“, der Sozialistischen Partei und dem „Block Timoschenko“ sprachen in einer gemeinsamen Erklärung von einer „Farce“ und witterten einen „Verfassungsputsch“. Ihrer Meinung nach verlief die Abstimmung nicht regulär und sie verwiesen auf Videoaufnahmen und Aussagen von Mitgliedern der Auszählkommission, in der die Kommunisten übrigens die Mehrheit haben, und des stellvertretenden Parlamentspräsidenten Oleksandr Sintschenko, der nach dieser fragwürdigen Abstimmung aus Protest die Parlamentsmehrheit verließ.

Machterhalt durch Verfassungsänderung

Im Kern sieht das von Medwedtschuk und Simonenko, Vorsitzender der Kommunistischen Partei, eingebrachte Gesetz eine Einschränkung der Machtbefugnisse des im Oktober 2004 neu zu wählenden Präsidenten vor. Darüber hinaus legt es fest, dass statt nach fünf Jahren bereits 2006 wiederum Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen. Allerdings soll der Präsident dann nicht mehr wie bisher direkt vom Volk, sondern vom Parlament bestimmt werden, das wiederum auf der Basis eines dann zum ersten Mal praktizierten reinen Verhältniswahlrechts vom Volk gewählt wird, über dessen konkrete Ausgestaltung aber noch keine Einigung erzielt werden konnte.

Die in erster Lesung beschlossene Verfassungsänderung steht in einem krassen Gegensatz zum Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Nach einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums sind 86,5% der Bevölkerung der Meinung, dass der Präsident direkt vom Volk gewählt werden soll. Diese Auffassung teilen nicht nur die Nationaldemokraten mit 94,6%, sondern auch die Anhänger der pro-präsidentiellen Parteien, wie zum Beispiel die Sozialdemokraten mit 84,2% und sogar die Kommunisten mit 85,2%.

Die Oppositionskräfte vermuten hinter der sogenannten Verfassungsreform einen Versuch des pro-präsidentiellen Lagers aus Ermangelung eines eigenen erfolgversprechenden Kandidaten den aussichtsreichsten Bewerber um das Präsidentenamt Viktor Juschtschenko so schwach wie möglich zu halten. Wenn sich ein zukünftiger Präsident Juschtschenko schon nicht auf legale Weise verhindern läßt, dann, so die Logik der herrschenden Oligarchen und Clans, soll er zumindest nicht mit den Machtbefugnissen des derzeitigen Präsidenten ausgestattet sein. In einem Kommentar in der „Kiev Post“ mit der Überschrift: „Ein weiterer skrupelloser Griff nach der Macht wurde auf den Weg gebracht“, schreibt der Autor, und dass „...es immer offensichtlicher wird, dass die derzeitigen Machthaber Viktor Juschtschenko als mögliche Barriere für den Erhalt ihrer Herrschaft betrachten und sich daran machen, ihn zu stoppen; koste es, was es wolle.“

In ähnlichem Sinne äußert sich Serhij Rakhmanin in der angesehenen Wochenzeitung „Serkalo Nedeli“, indem er schreibt: „...Andere tun alles, um Juschtschenkos Wahl zum nächsten Präsidenten zu verhindern, denn dies bedeutet den Verlust von Geld und Macht und untergräbt alle weitreichenden Pläne und Profite.“ Sollte aber an Juschtschenko kein Weg vorbeigehen, so halten sich die negativen Auswirkungen für die Oligarchen im Regierungslager durch die im Gesetz vorgesehene Machtverschiebung in Richtung Regierung und Parlament in überschaubaren Grenzen, vorausgesetzt, das Gesetz erhält in der zweiten Lesung im Frühjahr nächsten Jahres die notwendige Zweidrittelmehrheit.

Die Kommunistische Partei als Steigbügelhalter für die Oligarchen

Bereits 2001 hatten die Kommunisten gemeinsam mit den Oligarchen in einer unheiligen Allianz den damaligen Ministerpräsidenten und als Reformpolitiker ausgewiesenen Viktor Juschtschenko gestürzt. Auch diesmal war es eine Koalition von Kommunisten und pro-präsidentiellen Kräften, die der Verfassungsänderung unter den oben beschriebenen skurrilen Umständen zu einer Mehrheit verhalfen.

Politische Beobachter gehen davon aus, dass die pro-präsidentiellen Kräfte etwa über 230 Stimmen verfügen. Addiert man die 60 Stimmen der Kommunisten plus einige fraktionslose „unabhängige“ Abgeordnete hinzu, könnte eine für eine Verfassungsänderung notwendige Stimmenzahl von 300 mit Mühe und Not zusammengekratzt werden. Die Kommunisten sind in dieser Rechnung allerdings ein Unsicherheitsfaktor. Nur wenige Tage vor dem 24. Dezember hatte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei noch den Beschluß gefaßt, kein Wahlbündnis mit den präsidentenfreundlichen Parteien einzugehen und erklärt, dass „die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die Demokratische Volkspartei, die „Werktätige Ukraine“ und die anderen sogenannten zentristischen Kräfte Parteien des Oligarchen-Kapitals seien, die keinen Bezug zur linken Idee und zur linken Bewegung haben“.

Diese unmissverständlichen Erklärungen hinderten sie am 24. Dezember allerdings nicht, gemeinsam mit den von ihnen in der Erklärung ausdrücklich genannten Parteien für die Gesetzesvorlage zu votieren.

Ausblick

Mit ihrem Abstimmungsverhalten der Mehrheit ihrer Abgeordneten hat sich die Kommunistische Partei, die sich bisher zur Opposition zählte, endgültig aus der Vierer-Opposition mit „Nascha Ukraina“, den Sozialisten und dem „Block Timoschenko“ verabschiedet. Sie wird sicherlich ihren Vorsitzenden Petro Simonenko als Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken, der nach aktuellen Meinungsumfragen ein Rating von etwa 12% aufweisen kann (im Vergleich zu Juschtschenko, der seit längerer Zeit bereits stabil bei um die 23% liegt) und dem nur geringe Chancen eingeräumt werden, den entscheidenden zweiten Wahlgang zu erreichen. Selbst wenn er dies schaffen sollte, dürfte diese Tatsache dem anderen Kandidaten kaum Angstschweiß auf der Stirn verursachen.

Es ist nicht auszuschließen, dass sich in Reaktion auf die Ereignisse des 24. Dezember die drei übrig gebliebenen Oppositionsparteien noch enger zusammenschließen, im Parlament eine Fraktionsgemeinschaft bilden, einen einheitlichen Kandidaten - wahrscheinlich Viktor Juschtschenko - nominieren, sich auf ein Wahlkampfprogramm einigen, ihre Kräfte in einem gemeinsamen Wahlstab bündeln und sowohl im Parlament und, wenn nötig, auch außerparlamentarisch die Regierung und die sie tragenden Kräfte verstärkt unter Druck setzen, um die Verfassungsänderung zu verhindern.

Es bedarf keiner großen prophetischen Begabung, um der Ukraine ein turbulentes und spannendes 2004 vorauszusagen. Die Ukraine steht noch nicht, wie Julia Timoschenko in einem Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 17.09.2003 sorgenvoll schrieb „vor dem Abgrund“. Noch besteht die Hoffnung, dass sich die Vernunft durchsetzt und ein neuer, im Oktober 2004 direkt vom Volk gewählter Präsident mit dem Auftrag betraut wird, eine Verfassungsreform durchzuführen, und das am 24.12.03 eingeleitete Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt wird. Mit einem solchen Schritt könnte die derzeitige Regierung auch den international geäußerten Bedenken Rechnung tragen und georgische Verhältnisse verhindern.

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Die Nachtwache der Opposition an dem Rednerpult im Parlament

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