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Zur politischen Neutralität der Beamten in Indien. Neue Führungsspitze bei der RSS

з Dr. Helmut Reifeld

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Seit Beginn der staatlichen Unabhängigkeit und dem Aufbau des demokratischen Nationalstaats Indien wurde großer Wert auf die generelle Unabhängigkeit der führenden Beamten, speziell des "Indian Administrative Service" (IAS) gelegt. Dies betraf nicht nur die Unabhängigkeit gegenüber ausländischen Interessen, sondern auch gegenüber starken Partikularinteressen im Land selber und insbesondere gegenüber parteipolitischen Bindungen. Hierüber zu wachen, gehört primär zu den Aufgaben der Bundesländer bzw. Unionsstaaten.

Die Bedeutung und die Auslegung dieser Neutralität waren während der ersten drei Monate dieses Jahres Gegenstand einer äußerst kontroversen innenpolitischen Debatte, die Anfang März ihren Höhepunkt erreichte und zeitweise die Existenz der Regierungskoalition in Frage zu stellen schien. Den Anlaß bildete die Ankündigung der von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführten Regierung des Unionsstaates Gujarat vom 3. Januar dieses Jahres, daß es von nun an Regierungsbeamten nicht mehr verboten sein solle, an den Aktivitäten der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) teilzunehmen.

Die bereits seit 1925 bestehende RSS gilt als die Basisorganisation der auch auf nationaler Ebene regierenden BJP, aus der fast sämtliche führenden Vertreter der BJP hervorgegangen sind. Die RSS ist die größte Massenorganisation der Hindunationalisten; sie darf überwiegend als radikal und teilweise auch als militant bezeichnet werden. Sie war aktiv beteiligt an vielen der gewalttätigen fundamentalistischen Ausschreitungen der vergangenen Jahrzehnte, vor allem an der Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya am 6. Dezember 1992 und an den Übergriffen gegen Christen und christliche Einrichtungen Anfang 1999.

Der Unionsstaat Gujarat bildet eine Hochburg des Hindunationalismus und somit auch der RSS. Aktuelle Entwicklungen, wie zum Beispiel die Hinduisierung des Erziehungswesens, sind in Gujarat bereits wesentlich weiter fortgeschritten als in anderen Teilen Indiens. Die Ankündigung vom 3. Januar löste deshalb sowohl im Parlament als auch in der politisch interessierten Öffentlichkeit einen Sturm der Empörung aus. Es kam zu ungezählten Protesten und die Parlamentsarbeit wurde tagelang lahmgelegt, da kein Konsens über die Form des parlamentarischen Prozederes in dieser Sache erreicht werden konnte. Zahlreiche Oppositionspolitiker einschließlich der Präsidentin des Congress (I), Sonia Gandhi, nahmen an den öffentlichen Demonstrationen teil.

Für die Regierungskoalition politisch explosiv wurde die Lage Anfang März, als es um die Frage ging, in welcher Form das Thema im Unterhaus, der Lok Sabha, behandelt werden sollte. Wäre es in dieser Situation zu einer Abstimmung gekommen, hätte diese faktisch den Charakter einer Vertrauensabstimmung für Premierminister Vajpayee (BJP) bekommen. Da in dieser Frage jedoch nicht nur die oppositionellen, sondern auch zahlreiche Parteien der Regierungskoalition gegen die BJP gestimmt hätten, wäre das Ergebnis einem moralischen Appell zum Rücktritt gleichgekommen.

Vor diesem Hintergrund unternahm die Parteispitze jede nur mögliche Anstrengung, um die Landesregierung von Gujarat dazu zu bewegen, ihren Beschluß vom 3. Januar zurückzunehmen. Aber auch innerhalb der BJP war dieser Druck umstritten und somit nur halbherzig. Für eine Reihe von BJP, Politikern ist der ideologische Rückhalt in der RSS wichtiger als das formale Interesse, an der Regierung zu bleiben. Selbst Innenminister L. K. Advani (BJP) zögerte in dieser Situation nicht, die RSS mit dem Hinweis zu verteidigen, daß er sämtliche seiner bewundernswerten Eigenschaften ("every admirable quality") der RSS zu verdanken habe. Und wenig später kündigte er an, auch auf nationaler Ebene dem Beispiel Gujarats folgen zu wollen.

Trotz dieser Friktionen innerhalb der BJP gelang es, die Regierung von Gujarat dazu zu bewegen, ihre Entscheidung am 8. März wieder aufzuheben. Für die Regierung bedeutete dies zunächst einmal Erleichterung, für die Opposition war es ein Zwischenerfolg. Außerparlamentarische Gruppen, wie zum Beispiel das angesehene "United Christian Forum for Human Rights", verkündeten, daß diese Rücknahme als ein symbolischer Akt anzusehen sei, der beweise, daß die ursprüngliche Entscheidung Unrecht gewesen sei.

Dennoch dauert die Diskussion über die Motive der ursprünglichen Entscheidung bis heute an. Viele Beobachter stimmen darin überein, daß die Aufhebung des Verbots am 3. Januar als ein Test anzusehen sei, wieweit die BJP gehen könne. Ein möglicher nächster Schritt wäre dann gewesen, RSS-Aktivisten direkt in verantwortliche politische Positionen zu übernehmen. Außerdem sollte speziell in Gujarat das Terrain sondiert werden für die "Freedom of Religion Bill", eine Gesetzesvorlage, die demnächst zur Abstimmung ansteht und die den Möglichkeiten der Konversion enge Schranken setzen soll.

Begleitet wurden die Auseinandersetzungen Anfang März von der Neuwahl eines Vorsitzenden der RSS im Rahmen eines Delegiertenkongresses in Nagpur. Während frühere Vorsitzende ihr Amt grundsätzlich bis zum Tode ausgeübt haben, hatte der bisherige Vorsitzende, Rajendra Singh, ein enger Vertrauter von Premierminister Vajpayee, dieses Amt aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt. Als sein Nachfolger wurde am 10 März K. S. Sudarshan gewählt und auf das Motto der RSS: "Ek chalak anuvartita" (folgt einem Führer) vereidigt.

Sudarshan gehört seit 1954 der RSS an und hat eine kontinuierliche Karriere durchlaufen. Er war in zahlreichen unterschiedlichen Funktionen tätig, gilt als sprachbegabt und politisch erfahren. Da er sich in der Vergangenheit bereits häufig ideologisch exponiert und profiliert hat, wird erwartet, daß er in den Beziehungen zur BJP nicht als getriebene, sondern als treibende Kraft in Erscheinung treten wird.

Der heute 69jährige Sudarshan gilt jedoch nicht unbedingt als "Hardliner", so daß sich vermutlich an dem Verhältnis zwischen der RSS und der sehr viel jüngeren BJP in nächster Zeit nicht sehr viel ändern wird. Die wichtigsten Merkmale dieser Beziehung zeichnen sich bereits seit längerem ab und werden auch das künftige Verhältnis prägen: Erstens hat es die BJP bisher noch nicht geschafft, ihre elitäre Führungsstruktur demokratischen Erfordernissen anzupassen. Zwar werden viele ihrer politischen Entscheidungen von der Massenorganisation RSS beeinflusst und oft sogar geprägt, aber im Unterschied zu den Mandatsträgern der BJP unterliegt die RSS keinen demokratischen Kontrollen und muß sich keiner Wählerschaft stellen.

Zweitens ist die RSS in bestimmten Gebieten und Hochburgen außerordentlich stark vertreten und einflussreich, in anderen hingegen gar nicht, während die BJP beansprucht, die Interessen des ganzen Landes zu repräsentieren. Und drittens bleibt das politische Handeln durch eine Ambivalenz geprägt, die von Anfang an gekennzeichnet war durch ein Oszillieren zwischen den zeitweise äußerst moderaten Tönen namentlich von Premierminister Vajpayee von oben und der teils offenen, teils latenten Gewaltbereitschaft von unten.

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