Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand vor allem die im Oktober 1978 erfolgte Verabschiedung des Ludwigshafener Programms, des ersten Grundsatzprogramms der CDU, die sich in diesem Jahr zum 40. Mal jährt. Lammert würdigte dabei auch Helmut Kohls Rolle in diesem Reformprozess und machte darauf aufmerksam, dass die Entwicklung der Honoratioren- zur Mitgliederpartei wesentlich Kohls Werk sei. Zudem hätten die „68er“-Bewegung und der zeitweilige Aufschwung der NPD damals ein virulentes „Unbehagen an den etablierten Kräften“ zum Ausdruck gebracht, betonte Lammert. Insofern bestehe eine gewisse Parallele zur gegenwärtigen Situation.
In sechs wissenschaftlichen Beiträgen wurde der innerparteiliche Reformprozess vom Ausscheiden Konrad Adenauers aus dem Parteivorsitz im März 1966 bis zum Ludwigshafener Parteitag 1978 analysiert. Den Auftakt machte Dr. Philip Rosin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn. Unter dem Titel „Abschied von der Adenauer-CDU. Innerparteiliche Veränderungen in der Regierungs- und Oppositionszeit 1967-1971“ befasste er sich mit den ersten Reformanstrengungen unter dem Parteivorsitz Kurt Georg Kiesingers. Dabei war die Einführung des Amtes des Generalsekretärs ein erster wichtiger Schritt, wenngleich die Landesverbände die damit einhergehende Zentralisierung der Parteiarbeit zunächst abgelehnt hatten. Bruno Heck, der 1967 zum ersten Generalsekretär gewählt wurde, stieß in seiner Amtszeit erste organisatorische Reformen an. Intensiv befasste Heck sich zudem mit der programmatischen Arbeit. Das 1968 verabschiedete Berliner Programm, das erstmals unter breiter Beteiligung der Parteibasis entstand, wurde zu einer ersten Standortbestimmung der Partei. Die Reformbemühungen seien in diesen Jahren aber eher evolutionär und nicht revolutionär verlaufen, so Rosin. Erst mit dem Parteivorsitz Kohls, der exemplarisch für eine neue Politikergeneration stand, entwickelte sich ein neues Selbstverständnis vom Wirken der Parteien.
Die Bundestagswahl 1969 wurde zu einem tiefen Einschnitt für die Union. So ging sie aus der Wahl zwar als stärkste Kraft hervor, wurde jedoch nach 20-jähriger Regierungszeit von dem sozial-liberalen Bündnis unter der Führung Willy Brandts aus der Regierung und in die Opposition gedrängt. Nach dem „Betriebsunfall“ hatte nicht zuletzt der Vorsitzende Kiesinger Schwierigkeiten, sich in die Rolle der Oppositionspartei einzufinden. 1971 wurde Rainer Barzel zum neuen Vorsitzenden gewählt. Auf die „vergessenen Reformbemühungen“ unter dem Vorsitz Barzels ging Kai Wambach ein, der in diesem Jahr mit seiner Dissertation die erste Gesamtbiographie Barzels vorlegen wird. Gemeinsam mit dem neuen Generalsekretär Konrad Kraske gab Barzel wichtige Reformimpulse: Sowohl die Fortschreibung des Berliner Programms als auch die Straffung und Professionalisierung der Organisation wurden in dieser Zeit angestoßen. Unter dem Motto: „Ran an die Basis! Ran an die Menschen! Ran an die Wähler!“ setzte Barzel sich für eine umfassende Modernisierung der Parteiarbeit ein. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er zudem der Intensivierung der Mitgliederwerbung sowie der Integration und Aktivierung der Parteibasis.
Doch obwohl Barzel nur sechs Jahre jünger war als sein Kontrahent Kohl, galt er als Teil des alten Establishments, das noch eher mit der Ära Adenauer als mit den jungen Reformen innerhalb der CDU verbunden wurde. Eine grundlegende Neuausrichtung der Partei wurde ihm nicht zugetraut. Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum und der erneuten Wahlniederlage 1972 erodierte seine Macht zusehends. So blieb ihm gerade in den ersten Monaten des Jahres 1973 kaum mehr Zeit, seine Vorhaben umzusetzen. Nach nur 20 Monaten musste er im Mai 1973 den Parteivorsitz an Kohl abgeben.
Der Verlust der Regierungsmacht hatte Anfang der 1970er Jahre auch dazu geführt, dass sich das Machtzentrum der Partei zunächst in die Bundestagsfraktion verlagerte. Über die Planungsarbeit der CDU/CSU-Fraktion referierte Dr. Joachim Wintzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V. Angesteckt von der „Planungseuphorie“ dieser Jahre und vor dem Hintergrund, dass man mit dem Regierungswechsel die Expertise aus den Ministerien verloren hatte, befürworteten insbesondere die jüngeren Abgeordneten eine stärkere Koordinierung und auch Schwerpunktsetzung der verschiedenen Politikbereiche. In der Folge konstituierte sich 1974 die Planungsgruppe der Fraktion. In erster Linie für gesellschaftspolitische Themen erarbeitete sie langfristige Konzepte und Gesetzentwürfe. Dabei wurde die Planung nicht nur begrüßt, sondern teilweise auch als „Spielwiese für junge Abgeordnete“ abgetan. Aber nicht nur in der Fraktion, sondern auch in der Bundesgeschäftsstelle wurde eine bessere Koordinierung der Arbeit angestrebt. Hier war es Warnfried Dettling, der den Planungsstab in der Parteizentrale leitete.
Das Wirken Helmut Kohls im Reformprozess der 1970er Jahre nahm Dr. Michael Borchard, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik, in den Blick. Dabei wandte er sich gegen eine retrospektive Überhöhung des Modernisierungskurses in den 1970er Jahren und verwies auf die Reformbemühungen, die schon in den 1950er Jahren eingesetzt hatten. Gleichwohl sei die Übernahme des Parteivorsitzes durch Helmut Kohl eine Zäsur in der Parteigeschichte gewesen, so Borchard. Gerade die Skepsis vor zu viel theoretischem Programm, die lange Zeit in der CDU vorgeherrscht hatte, wurde unter seiner Führung überwunden. Das zunehmende Bedürfnis in der Partei, den eigenen Kompass neu auszurichten und der CDU einen stärkeren normativen Überbau zu geben, nahm Kohl auf und trieb die Programmarbeit konsequent voran. Hatte er als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident selbst noch die Programmkommission geleitet, die für die Fortschreibung des Berliner Programms verantwortlich zeichnete, verpflichtete Kohl von 1973 an mit Kurt Biedenkopf, Richard von Weizsäcker und Heiner Geißler drei intellektuelle Schwergewichte, die es mit großem Geschick verstanden, die gesellschaftlichen Strömungen einzufangen und in ein Programm zu gießen. Dabei sei die programmatische Arbeit aber keineswegs, wie vielfach behauptet, darauf ausgerichtet gewesen, die Politik der sozial-liberalen Koalition zu kopieren. Vielmehr gelang es, auf dem Wertefundament der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik die programmatischen Wurzeln der CDU zu einem schlüssigen Konzept zusammenzufügen. Bis heute gilt das Grundsatzprogramm von 1978 als Leitstern des politischen Handelns der CDU, auf den sich alle folgenden Programme ausgerichtet haben.
Einen bislang nur wenig beachteten Aspekt brachte Prof. Dr. Frank Bösch, Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung, zur Sprache: die Reform der CDU und die Neuen Sozialen Bewegungen. Diese hätten gerade zur Zeit der Verabschiedung des Ludwigshafener Grundsatzprogramms 1978 ihren Höhepunkt erlebt. Die Anti-AKW-, die Dritte-Welt- oder die Friedensbewegung sah die CDU schon früh als Herausforderung an, zumal viele ihrer Aktivisten aus dem bürgerlichen Milieu stammten. Neben einer kritischen Zurückweisung vieler Positionen griff die CDU durchaus auch deren Themen auf und besetzte diese mit neuen Semantiken. Als Beispiel nannte Bösch die Aufnahme der Boat People aus Vietnam 1978/79, bei der Christdemokraten mit zivilgesellschaftlichem Engagement für Hilfsmaßnahmen und die Aufnahme der Flüchtlinge aus Vietnam eintraten. In seinem Vortrag wandte er sich zudem gegen eine Charakterisierung der 1970er Jahre als „rotes Jahrzehnt“. So ging die Union aus den meisten Wahlen als klarer Sieger hervor und konnte einen deutlich höheren Mitgliederzuwachs verzeichnen als die SPD.
Die Frage, ob „1968“ als Geburtsstunde der modernen CDU gelten könne, beantwortete Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, emeritierter Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau, mit einem klaren „Nein!“. Schon die Gründung der CDU war eine moderne, wegweisende Idee. Als überkonfessionelle, alle Schichten umfassende Partei gab ihre Gründung den „Startschuss“ für die Etablierung der Volksparteien. So ermöglichte die CDU die Stabilisierung des Parteiensystems und besiegelte damit auch den Strukturbruch zur Weimarer Republik. Ob Soziale Marktwirtschaft, Westbindung und Europäisierung oder der daraus folgende Abschied vom Nationalismus – die CDU brach in zentralen Bereichen mit überkommenen Denkstrukturen. Zudem war sie auch in der Ära Adenauer keine programmlose Partei, vielmehr drückten sich ihre Standpunkte im Regierungshandeln aus. Das zum Ende der Ära Adenauer zunehmende Bedürfnis nach inhaltlicher und organisatorischer Erneuerung sei, so Oberreuter, indessen mit dem Zeitgeist dieser Jahre zusammengefallen.
Auf die während der Tagung immer wieder auftauchende Frage, inwieweit der Gang in die Opposition 1969 zum Katalysator für die Reformen der 70er Jahre geworden sei, ging abschließend Prof. Dr. Hanns Jürgen Küsters, Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik, ein. So könne man zwar feststellen, dass es in den 70er Jahren zu einer Intensivierung der Reformarbeit kam, viele Entwicklungen seien aber bereits während der Regierungszeit in den 60er Jahren angestoßen worden. Nicht zuletzt sei es Helmut Kohl zu verdanken gewesen, dass der Modernisierungsschub nicht wieder erlahmte und der Übergang von der Honoratioren- zur modernen Mitgliederpartei erfolgreich zu Ende gebracht werden konnte.
Die Tagung fand im Rahmen der von der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik ausgerichteten Reihe „Die Ära Kohl im Gespräch“ statt, die inzwischen zum 17. Mal veranstaltet wurde und erstmals die innerparteiliche Rolle Helmut Kohls in den Mittelpunkt stellte. Rund 250 Gäste waren der Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung gefolgt.
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