Bundeswehr / Andrea Bienert
- Nach fast zwanzigjähriger NATO-Mission und im 100. Jahr seiner Unabhängigkeit befindet sich Afghanistan 2019 an einem möglichen Wendepunkt, der seine politische Ordnung und Stellung als westlicher Bündnispartner zur Verhandlung stellt. Ein möglicher US-Truppenrückzug wird Auswirkung auf die 39-Länder starke NATO-Mission, die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit sowie auf Afghanistans außenpolitische Bündnisse haben.
- Ein Friedensabkommen mit den Taliban war noch nie so greifbar nah. Im Februar 2018 bot Präsident Ashraf Ghani den Taliban im Rahmenseiner Friedensinitiative (sogenannter „Kabul-Prozess“) die Aufnahme von Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen an. Falls sich die Taliban dem Friedensprozess anschließen und der Gewalt abschwören, ständen ihnen ihre Streichung von internationalen Sanktionslisten und Anerkennung als politische Partei in Aussicht. Parallel dazu führten die USA seit Januar erstmals offizielle Friedensgespräche mit den Taliban (sogenannter „Doha-Prozess“). Der Prozess und die geplante Unterzeichnung eines Rahmenabkommens wurde nach neun Gesprächsrunden von US-Präsident Trump überraschend beendet.
- Deutschland vermittelte Anfang Juli 2019 den Intra-Afghanischen Dialog in Doha, Katar. Die Taliban-Führung traf auf eine breite Delegation aus Zivilgesellschaft, Politik, Regierung und Parlament. In einer gemeinsamen Absichtserklärung beteuerten die Taliban, dass sie Gewalt gegen Schulen und Bildungseinrichtungen vermeiden würden. Frühere Dialoge wurden u.a. von Russland, China, Türkei oder Usbekistan ausgerichtet. Als mögliche Vermittler für spätere Verhandlungen sind Norwegen und Deutschland im Gespräch.
- Die Präsidentschaftswahlen im September 2019 liefen mit der biometrischen Stimmzählung deutlich reibungsloser ab. Eine befürchtete Anschlagswelle blieb trotz massiver Drohungen der Taliban aus. Jedoch lag die Wahlbeteiligung mit unter zwei Millionen abgegebenen Stimmen (von 9,3 Millionen registrierten Wählern, darunter 30 Prozent Frauen) auf einem historischen Tiefstand. Nur 1,8 Millionen Stimmen wurden für gültig erklärt.
- Deutschland ist mit einer Obergrenze von 1.300 Soldaten zweitgrößter Truppensteller innerhalb der NATO-Ausbildungs-, Beratungsund Unterstützungsmission Resolute Support und zweitgrößter bilateraler Geber in der Entwicklungszusammenarbeit. 2019 lagen die deutschen Entwicklungsgelder für Afghanistan bei rund 400 Millionen Euro. Auf regionaler Ebene ist Indien der größte Geber, noch vor China und Iran. Iran hat hingegen Pakistan als größten Handelspartner Afghanistans abgelöst und ist ein wichtiger Investor im Westen des Landes.
- Afghanistan ist reich an natürlichen Ressourcen und Mineralien wie Kupfer, Lithium, Cobalt und seltenen Erden. Bislang exportiert das Land vor allem wenig strategische Produkte wie Pinienkerne, Safran und Marmor. China als drittgrößter Handelspartner nach Iran und den USA hat Interesse, Afghanistan als wichtiges Rohstoff- und Transitland in seine „Neue Seidenstraße“, die Belt and Road Initiative (BRI), zu integrieren.
- Afghanistan hat eine beachtliche pluralistische Medienlandschaft, Meinungsfreiheit und Debattenkultur im regionalen Vergleich; Gleichzeitig zählt das Land aufgrund der prekären Sicherheitslage laut Reporter ohne Grenzen zu den gefährlichsten Ländern weltweit für Journalisten und steht daher im weltweiten Rang der Pressefreiheit auf Platz 121 von 180.
- Ein erhofftes Ende der Gewalt und ein wirtschaftlicher Aufschwung stehen noch aus. In den letzten fünf Jahren kamen in Kämpfen und Anschlägen 45.000 Menschen ums Leben, darunter 6.000 Zivilisten. Heute leben über die Hälfte der Menschen unterhalb der Armutsgrenze (54,8 Prozent; 2007 waren es 33,7 Prozent). Auch in der Hauptstadt Kabul kann der Staat nicht die nötige Infrastruktur und Grundversorgung (Strom, Wasser, Internet, Bildung, Gesundheit) gewährleisten.
- Afghanen stellen weltweit die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe (nach Syrern). Die Mehrheit der afghanischen Flüchtlinge (91 Prozent) befindet sich in Iran und Pakistan. Zielländer von Flucht und Migration sind Iran (63 Prozent), Pakistan (22 Prozent) sowie Türkei und Europa (12 Prozent). In den letzten sechs Jahren ist laut IOM (Internationale Organisation für Migration) ein Drittel der afghanischen Bevölkerung geflüchtet, binnenvertrieben oder emigriert. Ab 2016 sind über zwei Millionen Flüchtlinge und illegale Migranten aufgrund des verschärften Vorgehens der Behörden aus Iran und Pakistan zurückgekehrt. Afghanistan hat über zwei Millionen Binnenvertriebene, Tendenz steigend.
- Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. ist seit 2002 mit einem Auslandsbüro im Land vertreten. Sie unterstützt u.a. afghanische und regionale Dialoge zu Frieden und Sicherheit. Auf offizieller wie niedrigschwelliger Ebene bietet die Stiftung Gesprächskanäle und begleitet lokalen Kompetenz- und Erfahrungsaufbau. Zudem bietet sie lokalen Akteuren Vernetzungsmöglichkeiten mit deutschen, europäischen und regionalen Institutionen. Die 2019 von ihr initiierte Dialogserie zum afghanischen Friedensprozess mit den Nachbarländern Pakistan, Indien, Iran sowie Russland beleuchtet die Rollen und Perspektiven der Regionalstaaten und unterstützt regionale Vertrauensbildung. Das 2019 von ihr initiierte Netzwerk „Women, Peace and Security“ vernetzt afghanische und internationale Frauen aus Regierung, Parlament, Sicherheitskräften (NATO, Polizeimission), Medien, Zivilgesellschaft und privaten Beratungsunternehmen, die zu sicherheitsrelevanten Themen bzw. in prekären Sicherheitsumfeldern arbeiten.
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