Konditionalität geht auf das lateinische Wort conditio zurück und bedeutet Bedingung. Im Deutschen wurde das Wort „Bedingung“ seit den Zeiten Martin Luthers verstärkt verwendet. In diesem Kontext mussten Bedingungen erfüllt werden, damit das Bußsakrament seine Wirkung entfalten konnte. Von jener Semantik hat sich die Interpretation und Nutzung des Wortes nie ganz lösen können. Auch heute noch schwingt in der Begrifflichkeit Konditionalität oft der Aspekt der Buße mit. So auch in jüngster Vergangenheit im Zusammenhang mit den finanziellen Hilfsinstrumenten der Europäischen Union (EU), etwa dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Die Zurverfügungstellung von Finanzhilfen, um Gefahren für die Stabilität der Eurozone abzuwenden, kann, da an Bedingungen geknüpft, auch als „Buße“ verstanden werden: Diese „Buße“ auf sich zu nehmen lohnt – um ein gutes Ziel zu erreichen.
Konditionalitäten sind nicht per se negativ – im Gegenteil. Die europäische Politik verfährt vor allem nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“. Dieser Grundsatz ist eine politische Konditionalität. Er ist der Versuch, mittels bestimmter Bedingungen, Anreize zu setzen, um dezidierte Ziele zu erreichen und Interessen zu wahren. Im Falle von Beachtung bzw. Nichtbeachtung wird mit Belohnungen oder Sanktionen materieller oder politischer Art reagiert. Beabsichtigt ist nicht nur die Stärkung struktureller Rahmenbedingungen, sondern auch der Demokratie. Im wirtschaftlichen Bereich werden meist makroökonomische Faktoren als Referenz herangezogen, wie die Höhe der Arbeitslosenquote, Verschuldungsgrad etc.
Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung ist die Partizipation der Betroffenen. Die intensive Beteiligung der von der Konditionalität betroffenen Akteure erzeugt ein Verantwortungs- und Verpflichtungsgefühl.
Aktuelles Beispiel für Konditionalität ist neben dem ESM die Diskussion um die wirtschaftliche Stabilisierung Europas. In den Debatten stehen sich zwei Denkschulen gegenüber: Die der süd-und einiger osteuropäischer Staaten. Sie setzen auf möglichst viel Flexibilität und möchten die Zuschüsse aus dem Fonds in Eigenregie nach länderspezifischen Kriterien nutzen. Auf der anderen Seite die stabilitätsorientierten Länder, die reformgebundene Vergabebedingungen favorisieren. Auch das Europäische Parlament (EP) hat sich die Haltung der stabilitätsorientierten Länder zu eigen gemacht, wie es in seiner fraktionsübergreifenden Erklärung vom 23. Juli nochmals verdeutlicht hat. Dort wird auf die negativen Konsequenzen verwiesen, die die vom Europäischen Rat vorgeschlagene intergouvermentale Methode hat. Sie umfasst die Kontrolle der verschiedenen Instrumente im Rahmen der wirtschaftlichen Stabilisierung Europas. Der Europäische Rat sieht die Lösung in einer weichen Konditionalität (Fokussierung auf die Prioritäten der Europäischen Kommission). Auch nach der Einigung der Staats- und Regierungschefs vom 21. Juli wird darüber leidenschaftlich diskutiert. Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion und damit der größten Parteienfamilie im Parlament, fordert Konditionalität ein: Weber verlangt die Einhaltung der Rechtsstaatsprinzipien in den Nationalstaaten als Voraussetzung für Zuwendungen der EU. Ansonsten würde das Europäische Parlament nicht zustimmen und die von den Staats- und Regierungschefs getroffene Einigung würde nichtig. In einer ersten Abstimmungsrunde am 24. Juli haben bereits 465 gegen den aktuellen Entwurf gestimmt.
Der goldene Mittelweg wäre eine Zusammenführung beider Ansätze. Sehr weiche oder schwer zu definierende Bedingungen führen unter Umständen zu einer unrentablen und der Gemeinschaft nicht nützenden Verwertung. Eine zu starke Fixierung auf festgeschriebene Bedingungen ist politisch jedoch nicht vermittelbar, wird sie doch als aufoktroyiert empfunden.
Ein solcher „Mittelweg“ sollte sich einer nicht zu engen Konditionalität bedienen und gleichzeitig die Nehmerländer stärker einbinden. Die Erfüllung von Kriterien muss einen europäischen Mehrwert erzeugen, den es herauszustellen gilt. Und: Gesetzte Anreize müssen zukunftsorientiert sein. So wird an das Verantwortungsgefühl der Politiker in den Nehmerländern appelliert, und die Bürgerinnen und Bürger werden mitgenommen. Schlussendlich wird Europa seine Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und seine demokratische Verfasstheit stärken. Die verstärkte Einbindung der Empfänger erleichtert zudem eine weitere Herausforderung: Die mittel- bis langfristige Aufsicht über die Verwendung der Mittel.
Gerade deshalb braucht Europa Konditionalität, oder besser: ein europäisches Verantwortungsgefühl.