Kommt die Ehrenrunde?
Eine Woche vor der Wahl ist der Ausgang der Präsidentschaftswahlen noch nicht absehbar. Nach Hochrechnungen von Trends & Insights for Africa (TIFA) bevorzugten die meisten Umfrageteilnehmer Odinga (46,7 %) als Präsidentschaftskandidaten, dicht gefolgt von Ruto (44,4 %). Obwohl Odinga einen knappen Vorsprung hat, liegt die Fehlermarge der Umfrage bei 2,16 %. Damit ist das Rennen weiterhin offen. Ipsos Synovate geht von einem etwas größeren Vorsprung für Odinga aus, sie sehen ihn bei 47 %, Ruto nur bei 41 %. Keiner der Kandidaten scheint momentan die erforderliche 50 % + 1 Mehrheit zu haben, um eine Stichwahl zu vermeiden.
Eine Stichwahl scheint insbesondere deshalb möglich, da ein unwahrscheinlicher dritter Präsidentschaftskandidat an Zugkraft gewonnen hat. Der 61-jährige George Wajackoyah verspricht, dass er Marihuana legalisieren und die Schlangenzucht in Kenia fördern wird. Die Einnahmen aus der Schlangenzucht sollen dann zur Tilgung der kenianischen Staatsschulden eingesetzt werden. Auch will er als Präsident Kenias jetzige Verfassung außer Kraft setzen, zugunsten einer ungeschriebenen Verfassung, ganz wie man es aus Großbritannien kennt. Nach den jüngsten Ergebnissen von TIFA würden 1,8 % für Wajackoyah stimmen, die meisten davon im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Ipsos Synovate sieht ihn derzeit bei 2,9 %. Wajackoyah wird die Präsidentschaft nicht gewinnen. Aber in einem so knappen Rennen und mit Blick auf die Fehlermarge könnten 1,8 % oder mehr den Ausschlag für die Stichwahl geben.
Wählen oder nicht wählen?
Der Ausgang der Wahlen hängt davon ab, in wie fern es Odinga, Ruto und ihren Koalitionen gelingen wird, ihre Basis zu mobilisieren und unentschlossene Wähler zu gewinnen. Anders als in vielen anderen Demokratien bilden die politischen Parteien in Kenia ihre Koalitionen bereits Monate vor den Wahlen. Die Art und Weise, wie die Koalitionen gebildet werden und wie sie im Wahlkampf agieren, hat daher Auswirkungen auf die Wahlen. So ist Odingas Azimio La Umoja Koalition als „Koalitionspartei“ (coalition party) registriert. Rutos Kenya Kwanza Koalition hingegen tritt als Parteienallianz (alliance of parties) an, was den einzelnen Parteien mehr Spielraum gewährt als denen im Odinga Lager. Da die politischen Parteien immer noch meist entlang ethnisch-regionaler Linien gebildet werden, sind die Koalitionen von vornherein multiethnisch, um sich die Unterstützung verschiedener ethnischer Gruppen zu sichern. Der Aufbau einer multiethnischen Koalition ist kompliziert, sie zusammenzuhalten ein ständiger Balanceakt.
Wahlverdrossenheit
Oft ist dieser Balanceakt für die Wähler frustrierend. Zwar finden ein Großteil der Entscheidungen hinter verschlossenen Türen statt, nicht aber so das Nominierungsverfahren der Parteien für ihre Kandidaten. Ein Grund in Kenia für das Fernbleiben der Wähler am Wahltag ist, dass sie nicht glauben, dass das Nominierungsverfahren der Parteien die besten Kandidaten hervorgebracht hat. Im Rampenlicht standen diesmal die beiden größten Parteien, Odingas Orange Democratic Movement (ODM) und Rutos United Democratic Alliance (UDA). Auch wenn kein Nominierungsverfahren perfekt war, hat vor allem Odingas Partei ODM negative Schlagzeilen gemacht. ODM wurde vorgeworfen, die Wahlprozesse so festgelegt zu haben, dass der von der Parteiführung favorisierte Kandidat die bestmöglichen Chancen hatte. Die Motivation der Wähler, für solche Kandidaten zu stimmen, könnte gedämpft sein. Rutos Partei UDA schnitt etwas besser ab. Es konnten sich nämlich einige Überraschungskandidaten durchsetzen, die Dank Graswurzelbewegungen gewonnen haben. Diese Überraschungssiege zeugen nicht von Rutos Vorliebe für demokratische Wahlen. Sie sind vielmehr ein Zeichen dafür, dass es schwerer ist, die Prozesse innerhalb einer Parteienallianz fest im Griff zu haben, als in einer Koalitionspartei. Dennoch ermöglichen sie es den Wählern, sich auf einer tieferen Ebene mit den Kandidaten auseinanderzusetzen.
Vor allem junge Wähler haben die Machtspielchen satt, die am Ende darauf ausgelegt sind, die Wahlchancen der Politiker zu maximieren. Es überrascht daher nicht, dass die Wählerregistrierung am niedrigsten bei den 18 bis 24-Jährigen ist. Die Zahl der Registrierungen ist bei dieser Altersgruppe zudem niedriger als bei den letzten Wahlen in 2017. Die kenianische Jugend will nicht länger von Politikern umgarnt werden, die ihnen in jedem Wahlzyklus Veränderungen versprechen, die sie in dem Moment vergessen, in dem sie den Amtseid erfolgreich abgelegt haben. Kaum ein Politiker im Rennen, und schon gar nicht Odinga oder Ruto, verspricht, grundlegend anders zu sein. Für junge Wähler kann nur ein Generationswechsel einen glaubwürdigen Wandel bewirken.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum einige junge Wähler den Präsidentschaftskandidaten Wajackoyah in Betracht ziehen. Den Wählern geht es hier nicht in erster Linie um die Legalisierung von Marihuana, sondern darum, dem politischen Establishment zu zeigen, dass die Stimmen der Jugend keine Selbstverständlichkeit sind. Es ist unklar, ob Odinga oder Ruto mehr darunter leiden würde, sollte Wajackoyah eine beträchtliche Anzahl der Stimmen der Jugendlichen erhalten. Die gängige Meinung ist, dass Ruto mehr auf die Stimmen der Jugend angewiesen ist als Odinga. TIFA hat jedoch im Juni keinen statistischen Beweis dafür gefunden. Letztendlich wird auch das eine Frage der Mobilisierung sein.
Auch wenn sich Azimio La Umoja bei der Wählermobilisierung etwas schwertut, hat die Koalition doch einen großen strategischen Vorteil. Die Parteien, die der Parteienkoalition angehören, versuchen sich in heiß umkämpften Bezirken auf einen gemeinsamen Kandidaten zu verständigen. Die Parteien der strukturell schwächeren Parteienallianz Kenya Kwanza werden keine solchen internen Einigungen treffen, sehr zur Enttäuschung von Ruto. Die unangenehme Wahrheit für Ruto ist, dass selbst wenn die Kandidaten aus dem Kenya Kwanza Lager insgesamt die meisten Stimmen erhalten, die Chance besteht, dass der Azimio La Umoja Kandidat immer noch gewinnen kann. Denn dann hängt es davon ob, wie sich die Stimmen auf die einzelnen Parteien verteilen. Es liegt an Azimio La Umoja, diesen Vorteil zu nutzen. Aufgrund von internen Streitigkeiten ist es jedoch fraglich, inwieweit dies gelingen wird.
Die Unentschlossenen
Eine Woche vor den Wahlen sind die unentschlossenen Wähler einer der größten „Fische, die noch zu fangen sind“. TIFA schätzt, dass etwa 5,2 % der Wähler noch unentschlossen sind. Odinga könnte der besserer „Angler“ als Ruto sein. Odinga hatte im Februar nur 27 % der Wähler hinter sich. Seitdem konnte er vor allem bei den unentschlossenen Wählern punkten und liegt nun in den Umfragen vorne. Außerdem könnte Azimio La Umoja einen regionalen Vorteil haben. Die Wahlen in Kenia sind keine große, koordinierte nationale Kampagne, sondern viele Kampagnen auf Bezirksebene. Dies spiegelt die Tendenz der Kenianer wider, entlang ethnischer und regionaler Grenzen zu wählen. Azimio La Umoja hat in einer Reihe von Regionen die Nase vorne, in der viele unentschlossener Wähler leben, vor allem in Nairobi und in den westlichen und nördlichen Grenzbezirken.
Wählerinnen könnten das Zünglein an der Waage sein. Die Zahl der unentschlossenen Wählerinnen ist fast dreimal so hoch wie die der unentschlossenen Wähler. Auf den ersten Blick, scheint das Odinga in die Karten zu spielen. Odinga tritt zusammen mit Martha Karua an, die gute Chancen hat, die erste Vizepräsidentin Kenias zu werden. TIFA fand jedoch im Juni keine statistischen Beweise dafür, dass die Nominierung von Karua die Unterstützung der Frauen für Raila Odinga signifikant erhöht hat. Tatsächlich ist die Mehrheit von Odingas Anhängern männlich, während die Mehrheit von Rutos Anhängern weiblich ist.
Einige unentschlossene Wähler tuen sich auch deshalb mit ihrer Entscheidung schwer, da diese Wahl in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich ist. Es ist die erste Wahl, bei der es keinen starken Kikuyu-Präsidentschaftskandidaten gibt. Zudem kandidiert der amtierende Präsident nicht selber, sondern unterstützt den Oppositionsführer. Für Odinga ist das ein zweischneidiges Schwert. Einerseits hat der Präsident Kenyatta Odinga die Türen zu Wahlkampfauftritten in Regionen geöffnet, in denen er einst unerwünscht war. Auch hat Kenyatta sichergestellt, dass Odinga in den nationalen überdurchschnittlich präsent sein konnte. Andererseits ist Odinga nun im Auge der Öffentlichkeit mit der durchwachsenen Bilanz von Kenyattas Präsidentschaft verknüpft. Es bleibt abzuwarten, ob Kenyattas Unterstützung sich am Wahltag bezahlt machen wird, oder ob Kenyattas Verleumdungskampagnen der vergangenen Wahlen die Glaubwürdigkeit von Herrn Odinga langfristig beschädigt hat.
Parteiprogramme: Programmierte Planlosigkeit?
Auch bei diesen Wahlen sind Parteiprogramme ein fester Bestandteil. Die Koalitionen erhoffen sich, dass Veröffentlichen von Parteiprogrammen ihnen dabei helfen können, unentschlossene und verdrossene Wähler zu überzeugen. In den Programmen legen die Koalition ihre politischen Visionen für das Land dar. Dass es nicht mehr ohne Programme geht, zeigt, dass Politiker sich nicht mehr darauf verlassen können, Wähler allein aufgrund ihrer ethnische Zugehörigkeit an sich binden zu können.
Herr Ruto setzt auf diesen Trend. Im Gegensatz zu Odinga, der aus einer der einflussreichsten politischen Familien Kenias stammt und der unangefochtene Anführer seiner Ethnie (Luos) ist, hat Ruto einen bescheideneren Hintergrund. Anders als Odinga kann Ruto sich nicht darauf verlassen, Wähler allein auf Grundlage ihrer ethnisch-regionalen Zugehörigkeit zu mobilisieren. Dafür gibt es bei den Kalenjin zu viele Untergruppen und es fehlt Ruto als „Emporkömling“ der Rückhalt, den etablierte Politikerfamilien genießen.
Die jüngsten Entwicklungen entlarven, dass viele Beobachter ein verzerrtes Bild von den kenianischen Wahlen haben. Die ethnische Zugehörigkeit und die Versprechen von Politikern, ihrer Ethnie Vorteile zu sichern, spielen unbestritten eine wesentliche Rolle. Aber das Wahlverhalten wird noch durch andere Faktoren beeinflusst. Bei diesen Wahlen stehen insbesondere Wirtschaftsthemen im Vordergrund. Die Kenianer wollen wissen, wie und wann die hohen Lebensmittelpreise reduziert, die steigende Inflation und die lähmende Staatsverschuldung angegangen werden. Ruto hat den Geist der Zeit erkannt und schlug schon früh seinen sogenannter Bottom-up Ansatz für die kenianische Wirtschaft vor. Odinga blieb wenig übrig, als auf den Zug aufzuspringen.
So war es zunächst die Azimio-Koalition, die am 16. Mai 2022 ihr Parteiprogramm veröffentlichte. Auf 84 Seiten gibt das Programm Aufschluss darüber, wie die Koalition das Land zu regieren gedenkt. Den Wählern wird u.a. versprochen, dass der Staat die Lebenshaltungskosten senken, die Armut bekämpfen sowie die Gesundheitsversorgung und Infrastruktur verbessern wird. Kenya Kwanza ließ nicht lange auf sich warten, die Koalition stellte ihr Wahlprogramm am 30. Juni 2022 vor. Im Mittelpunkt steht der Bottom-up Ansatz. Hiernach sollen geringverdienende Kenianer gefördert und aus der Armut befreit werden. Ebenso sollen kleine und mittlere Unternehmen gestärkt werden. Ansonsten finden die Wählerinnen und Wähler viele der Versprechen wieder, die Odinga in seiner Kampagne gemacht hat.
Die Parteiprogramme sind ein wichtiger Schritt hin zu einem glaubwürdigen Wettbewerb der Ideen und damit zu einer besseren Demokratie. Es bleibt jedoch noch viel zu tun. Was in den Parteiprogrammen nicht erklärt wird, ist oft aufschlussreicher als deren Wahlversprechen selber. Die berechtigte Frage, wie die in den Parteiprogrammen dargelegten Visionen umgesetzt und finanziert werden könnten, bleibt unbeantwortet. Dass Kandidaten im Wahlkampf nicht in der Lage sind, glaubwürdig für ihre Parteiprogramme zu werben, geschweige denn deren Inhalte zu benennen, lässt wenig Gutes ahnen. Es zeigt in aller Deutlichkeit, dass es zwei Paar Schuhe sind, politische Versionen zu Papier zu bringen und diese zu leben. Darüber hinaus machen es die großen Überschneidungen zwischen den Parteiprogrammen dem Wähler schwer, die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Koalitionen zu begreifen. Kurzum, die kenianischen Politiker haben noch einen langen Weg vor sich. Es bleibt zu hoffen, dass der Generationswechsel, der sich derzeit in Kenia vollzieht, in der Lage sein wird, einige dieser Unzulänglichkeiten zu beheben.
Worauf ist zu achten?
Die Wahlen am 9. August werden Antworten liefern. Sie werden darüber entscheiden, ob und welcher der Favoriten direkt ins State House einziehen kann oder ob es zu einer Stichwahl zwischen Odinga und Ruto kommt. Unmittelbar danach wird klarwerden, ob der Verlierer das Wahlergebnis akzeptieren oder anfechten wird.
Es wird sich zudem zeigen, inwiefern die Wahlen fair und frei abgelaufen sind. Weder Odinga noch Ruto wollen eine Stichwahl. Wie weit sie zu gehen bereit sind, um eine solche zu verhindern, ist unklar. Es liegt an den Wahlbeobachtern im Land, dies im Auge zu behalten. Die Europäische Union und die Afrikanische Union sind zwei von zahlreichen Organisationen, die auf Einladung der kenianischen Regierung für die Wahlbeobachtung im Land sind.
Leider haben die Kenianer wenig Vertrauen in ihre Politiker und das System. Die jüngsten dubiosen Ereignisse rund um die Independent Electoral and Boundaries Commission (IEBC) helfen da wenig. Die gute Nachricht ist, dass eine bescheidene Mehrheit der Kenianer darauf vertraut, dass sowohl die IEBC als auch der kenianische Supreme Court fair ihren Aufgaben bei der Wahl nachkommen werden. Das trifft sowohl auf Anhänger von Ruto als auch Odinga zu. Der kenianische Supreme Court hat 2017 bewiesen, dass er eine Bastion der Demokratie sein kann, als er als erstes afrikanisches Gericht überhaupt eine Wahl annullierte.
Es gibt eine weitere gute Nachricht, leider aber aus einem unerfreulichen Grund. So deutet einiges darauf hin, dass die Wahlen weitestgehend friedlich verlaufen werden. Viele Kenianer stehen den Politikern und ihren Plänen zunehmend gleichgültig gegenüber. Das macht sie weniger empfänglich für Botschaften der Gewalt. Da es kaum Kandidaten gibt, die ihnen Antworten darauf geben, wie sie ihr Leben verbessern wollen, ist es unwahrscheinlich, dass die Kenianer für sie auf die Straße gehen werden.
Auch die Parlamentswahlen werden Antworten liefern, insbesondere zu den neuen Mehrheitsverhältnissen. Es besteht die Möglichkeit, dass der Präsident zum ersten Mal aus der Koalition kommt, die im Parlament die Minderheit bildet. Das wäre für den neuen Präsidenten eine schwierige Situation. Die Raison d'être einer kenianischen Koalition ist Machtpolitik. Parteien schließen sich zusammen, um einem Präsidentschaftskandidaten zum Einzug ins State House zu verhelfen. Im Gegenzug werden die anderen Koalitionspartner an der Regierungsbildung beteiligt oder erhalten andere Schlüsselpositionen. Ohne die Unterstützung des Parlaments geht diese Rechnung nur schwerlich auf. Das könnte die Koalition des Präsidenten schwächen, die Unzufriedenheit könnte wachsen. Ironischerweise könnte in einem solchen Fall der Gewinner der Präsidentschaftswahlen sich als Verlierer entpuppen und der Verlierer als ein Gewinner. Denn als Mehrheitsführer lässt sich schon anders verhandeln, als als Oppositionsführer.
Angesichts der großen Bedeutung Kenias in der Region und darüber hinaus ist ein reibungsloser Ablauf der Wahlen wichtig. Sollte es wider Erwartens bei den Wahlen zu Gewaltausschreitungen kommen, würden Kenias Wirtschaft und seine internationale Reputation leiden. Leider benötigen die Kenianer mehr als eine Wahl, die einfach nur friedlich und reibungslos über die Bühne geht. Das Land braucht einen glaubwürdigen politischen Wandel. Dieser kann voraussichtlich nur von jungen, informierten Wählern vorangetrieben werden. Dieses ist eine große Herausforderung. Die Zeit wird zeigen, ob und wie mit dem Generationenwechsel das „Schiff“ gewendet werden kann.
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Auslandsbüro Kenia
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