Herausforderungen aus dem Inneren
Quer durch Europa reisen, ohne am Schlagbaum warten zu müssen, oder grenzenlos auf dem Kontinent mit Waren handeln können, das sind große Freiheiten und Errungenschaften der Europäischen Union. Doch gleichzeitig scheinen einzelne Mitgliedstaaten mit nationaler Rhetorik aufzurüsten, kritisiert Norbert Lammert. Polen und Ungarn zum Beispiel fordern die EU heraus: Indem sie umstrittene Justizreformen auf den Weg bringen beziehungsweise die Freiheiten von Presse und Wissenschaft beschränken, „untergraben sie die europäische Idee und schwächen die Staaten, die sich dem demokratischen Konsens verschrieben haben“, kritisiert Daniela Schwarzer: „Wie will Europa diese Werte dann nach außen vertreten?“, fragt sie. „Daran wird die EU gemessen“, ergänzt Karl-Heinz Paqué.
Bei den Zukunftsaufgaben kommt der Nationalstaat an seine Grenzen
Zudem dürfte die EU für ihre Mitglieder die einzige Möglichkeit bieten, weltweit gestalten zu können. Wenn schon ein Land wie die Vereinigten Staaten nicht in der Lage sei, seine bevorzugte Politik in der Welt durchzusetzen, dann könnten das einzelne europäische Länder erst recht nicht, mahnt Norbert Lammert. „Wo es um Zukunftsaufgaben geht, ist der Nationalstaat an seine Grenzen gekommen“, lautet sein Fazit. Europas globaler Gewichtsverlust werde das noch verstärken, prognostiziert Schwarzer: Der Kontinent stelle Ende des Jahrhunderts nur noch vier bis fünf Prozent der Weltbevölkerung. Zudem werde die EU bald weniger als die derzeitigen 20 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft haben.
Gemeinsame Projekte für mehr Zusammenarbeit
Umso mehr gelte es, den Kontinent für den internationalen Wettbewerb fit zu machen und gleichzeitig seine sicherheitspolitische Rolle in der Welt zu stärken. Europa dürfe den Anschluss in den Bereichen Ausbildung, Digitalisierung, Forschung und Mobilität nicht noch weiter verlieren, betont Schwarzer. Lammert wünscht sich zudem mehr Engagement aller Beteiligten in der militärischen Sicherheitspolitik, denn „die Zeiten sind vorbei, in denen Europäer ihre Sicherheit auf amerikanische Garantien beziehen konnten.“ Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) sei so ein Kooperationsprojekt, das die Integration voranbringen könne, meint Lammert.
„Die EU braucht praktische Erfolge“
Vorteilhaft würden sich solche gemeinsamen Projekte auch auf den Zusammenhalt der Europäischen Union auswirken, sowohl auf die Mitgliedsstaaten als auch auf die Bürgerinnen und Bürger. „Wenn die EU ein paar Erfolge vorzuweisen hat, dann kann wieder Vertrauen wachsen“, empfiehlt Paqué: „Die EU braucht praktische Erfolge.“ Schließlich interessiere die Menschen weniger, wie „das Machtgerangel in der EU“ um den Kommissionspräsidenten ausgehe, sondern sie fordern eine Antwort auf die Frage: „Was bringt uns die EU in zentralen Fragen“, so Paqué. „Wozu haben wir Europa gebaut – und wozu brauchen wir es noch?“, sind für Schwarzer die Kernfragen. Für sie ist ein „politischer Narrativ mit einer Zukunftsvision“ notwendig: Denn „europäische Identität wächst, wenn man ihr die Chance dazu gibt, das zeigt die Selbstverständlichkeit Jugendlicher zu Europa.“
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