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国家报道

Chinas Dilemma

Johann C. Fuhrmann, Heiko Herold

Putins Krieg in der Ukraine schwächt die Allianz der Autokraten

„Chinas Stoppschild für Russland“ – so lautete vor einer Woche eine prägnante Überschrift in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die sich auf Chinas Äußerungen zu Moskaus Krieg gegen die Ukraine bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz bezog.[1] Westliche Experten waren sich zu dem Zeitpunkt einig: Die Rede des chinesischen Außenministers Wang Yi sei ein diplomatischer Rückschlag für Russland. In einer Videoschalte während der Konferenz hatte Wang überraschend eindeutig den Standpunkt betont, dass die Grundsätze „von Souveränität, Unabhängigkeit und territorialer Integrität“ aus der Sicht Chinas auch für die Ukraine gälten. Nur Tage später folgte die plötzliche – und nicht weniger überraschende – Kehrtwende Pekings. In einer aufsehenerregenden Pressekonferenz bestritt die Sprecherin des chinesischen Außenamts Hua Chunying gar, dass es sich bei dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine um eine Invasion handele und sprach von einem „sogenannten Angriff“. Was war passiert? Hatten sich Staatspräsident Xi Jinping und seine Regierung plötzlich wieder darauf besonnen, dass Peking und Moskau geeint sind in ihrer Ablehnung westlicher Werte und in der Abneigung gegen die NATO-Staaten und ihre Partner? Zumindest scheinen einige deutsche Medienanalysen ihr Fundament auf dieser vergröbernden Annahme zu bauen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass selbst Peking von den Ereignissen überrumpelt wurde. Offenkundig brauchte der Politikbetrieb in Peking einige Zeit, um zu realisieren, in welche politische Bredouille Putin mit seinem Vorgehen auch die chinesische Volksrepublik gestürzt hat. Hierfür spricht insbesondere auch das spätere Abstimmungsverhalten Chinas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

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Absurdes Theater

Ihre Zuhörer hat sie irritiert und ziemlich orientierungslos zurückgelassen – auf einer grotesken Pressekonferenz versuchte die chinesische Außenamtssprecherin Hua Chunying am vergangenen Donnerstag die Vorführung eines schier unmöglichen Spagats. Während Chinas Botschaft in Kiew die eignen Bürger in der Ukraine vor Explosionen warnte und von einem „Kriegszustand“ sprach, bestritt Hua, dass es sich beim Vorrücken der russischen Truppen um eine Invasion handele. Schon am Vortag hatte China Sanktionen gegen Russland abgelehnt, da diese „noch nie ein wirksamer Weg zur Lösung von Problemen“ gewesen seien. Hua redete Russland das Wort, als sie suggestiv fragte: „Als die USA die fünf Wellen der Nato-Osterweiterung bis an Russlands Türschwelle getrieben haben, haben sie da jemals über die Konsequenzen nachgedacht, die es mit sich bringt, wenn man ein großes Land in die Ecke drängt?“ Keine Frage für Hua, die USA seien „der Schuldige“[i]. Für China.Table konstatierte der Journalist Michael Radunski in seiner Berichterstattung fassungslos: „Bemerkenswert: Die Grundpfeiler der chinesischen Außenpolitik – Achtung der Souveränität von Staaten, Gebot der Nichteinmischung und Wahrung der Territorialität – kamen Hua Chunying an diesem Tag nicht über die Lippen“ [ii].

Übereinstimmenden Medienberichten zufolge soll ein Telefonat zwischen dem chinesischen Außenminister Wang Yi und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow die rhetorische Wende Pekings eingeläutet haben. So berichtet Eva Lamby-Schmitt für die ARD knapp: Lawrow habe Yi erklärt, „dass die Geschichte zwischen Russland und der Ukraine komplex sei. China erkennt: Die Sicherheitsbedenken Russlands seien in der Folge legitim“ [iii]. Aber so klar ist die Sache offensichtlich doch nicht. Die Taten Pekings sprechen jedenfalls eine andere, weniger eindeutige, Sprache: Eine gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine eingebrachte Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen scheiterte am vergangenen Freitag erwartungsgemäß schon am Veto Russlands. Peking stimmte jedoch nicht, wie so häufig, im Block mit Moskau. Nein: China enthielt sich im Sicherheitsrat der Stimme. Westliche Diplomaten werteten dies im Nachgang als einen Erfolg in den Bemühungen, den Kreml international zu isolieren[iv].

 

Ziemlich beste Freunde?

Seit einigen Jahren inszenieren und zelebrieren Russland und China eine Annäherung in den bilateralen Beziehungen. Erst vor wenigen Wochen war Putin zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele nach Peking gereist. Gemeinsame Gespräche mit Xi mündeten in einer mehr als 5.000 Wörter umfassenden Erklärung. In dem Text erklärten beide Seiten Taiwan zum „unveräußerlichen Teil Chinas.“ Xi revanchierte sich, indem er im Sinne Russlands bekannte, dass man „eine weitere Ausdehnung der Nato ablehne.“ Experten fürchten schon seit geraumer Zeit einen immer engeren Schulterschluss zwischen dem bevölkerungsreichsten Land der Erde und dem größten Flächenstaat der Welt. Bereits seit 2005 führen beide Staaten gemeinsame Militärmanöver durch. 2018 hatte Staats- und Parteichef Xi dem russischen Präsidenten Putin bei einem Besuch in Peking eine eigens für diesen Anlass angefertigte Freundschaftsmedaille überreicht.

Die politische Annäherung und ihre Inszenierung sind mit Blick auf die wechselhafte Geschichte im Verhältnis der beiden Staaten zueinander durchaus nicht zwangsläufig. Nach dem chinesischen Bürgerkrieg schloss die Sowjetunion 1950 zunächst einen Freundschaftsvertrag mit den siegreichen Kommunisten. Die Beziehungen kühlten jedoch immer weiter ab und mündeten 1969 im Zwischenfall am Ussuri in einem Grenzkonflikt, der beinahe zu einem größeren Krieg zwischen beiden Staaten geführt hätte. Jahrzehnte vergingen, bis sich die Beziehungen zwischen Moskau und Peking wieder normalisierten.

Zur Annäherung beigetragen haben dabei gemeinsame Interessen, allem voran die Ablehnung der westlichen Ordnung und die eines unipolaren US-amerikanischen Führungsanspruches. In den letzten Jahren haben beide Staaten ihre Zusammenarbeit in vielen Bereichen koordiniert und vertieft. Beispielsweise gründeten beide Staaten zwei multinationale Entwicklungsbanken, die als Gegengewicht gegen Weltbank und IMF fungieren sollen. Zum Ärger Washingtons traten 103 Staaten, darunter auch Deutschland, der von China initiierten Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank bei. Die Schaffung solcher Parallelstrukturen ist ein Dorn im Auge Washingtons. Drängt insbesondere China mit diesen Mitteln doch auf eine Rolle, die spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges den USA vorbehalten schien und untermauert seine globalen Führungsansprüche.

 

Chinas facettenreiches Dilemma

Insbesondere gemeinsame Wirtschaftsinteressen führen dazu, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine für Peking zum Dilemma wird. In der Energiepolitik ist China auf Russland angewiesen, wenn es seinen Plan verwirklichen möchte, bis 2060 klimaneutral zu werden. Wie bislang Berlin setzt auch Peking für den Übergang auf Gas statt auf Kohle. So zitiert das Handelsblatt eine Studie der Beratungsagentur McKinsey, der zufolge China im Jahr 2035 doppelt so viel Gas verbrauchen wird wie heute[v]. Bei Putins Besuch in Peking vor wenigen Wochen unterschrieben beide Länder dann auch eine Vereinbarung über Gas- und Öllieferungen über 117 Milliarden US-Dollar. Der China-Kenner Frank Sieren konstatiert: „Russland verfügt über die größten Gasreserven weltweit, ist der größte Gasexporteur und hat zudem die achtgrößten Ölreserven. Putin wird durch die neuen Rohstoffgeschäfte mit China schrittweise unabhängiger von Europa. Damit hat Peking – auch wenn es nach eigenen Aussagen ausdrücklich keinen Krieg um die Ukraine will – indirekt den Handlungsspielraum für Putin in der Ukraine geschaffen[vi].“ Allerdings hilft das Russland nicht kurzfristig, da die dafür notwendige Pipeline-Infrastruktur noch lange nicht fertig ist. Fakt ist: China sieht in Russland einen strategischen Partner, nicht zuletzt zur Umsetzung seiner Energiewende. China ist seit Jahren der größte Handelspartner Russlands. Das bilaterale Handelsvolumen erreichte im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand von knapp 150 Milliarden US-Dollar. Dies erschwert es Peking offensichtlich, das Vorgehen Moskaus klar und deutlich zu verurteilen.

Gleichzeitig kann Chinas Führung kein Interesse an einer dauerhaften Destabilisierung der Ukraine haben. Seit mehreren Jahren ist die Ukraine Mitglied der chinesischen Seidenstraßen-Initiative. Rund eine Billion US-Dollar hat die Führung in Peking bis 2025 für dieses weltumfassende Programm angekündigt. Darüber hinaus ist die Ukraine schon heute wichtiger Lieferant von Agrarprodukten und Eisenerz. Die Volksrepublik war zuletzt größter Abnehmer ukrainischer Gerste und auch ein Drittel der chinesischen Mais-Importe des vergangenen Jahres stammte aus der Ukraine[vii]. Zudem beliefert die Ukraine China mit wichtigen Rüstungsgütern, dazu gehören beispielsweise Gasturbinen-Motoren für Lenkwaffenzerstörer[viii].

In der Folge dieser widerstreitenden Interessen verstrickt sich China durch seine unklare Positionierung in außenpolitische Widersprüche. Die Achtung der Souveränität von Staaten und das Gebot der Nichteinmischung und Wahrung der Territorialität gelten seit jeher als Eckpfeiler chinesischer Politik. So reagiert China auf internationale Kritik an der Menschenrechtssituation im Land, etwa in Bezug auf die Uiguren und andere muslimische Minderheiten in der Provinz Xinjiang, seit Jahren mit demselben Hinweis: Es handle sich um innere Angelegenheiten Chinas. Einmischung von außerhalb verbiete man sich. Der Streit um die Einhaltung der Menschenrechte führte im März 2021 zu wechselseitigen Sanktionen zwischen China und der EU. Die EU setze daraufhin die Verhandlungen beziehungsweise die bevorstehende Ratifikation des EU-China-Investitionsabkommens (Comprehensive Agreement on Investment, CAI) aus.

 

Gelenkte Medien und die ungeklärte Taiwan-Frage

Fehler passieren. Und dieses Versehen der chinesischen „Horizon News“ erlaubte einen seltenen Einblick in Chinas System der Medienkontrolle. „Nichts posten, was unvorteilhaft für Russland oder prowestlich ist“, war in der Zensurdirektive zu lesen, die „Horizon News“ auf seiner Weibo-Seite, dem chinesischen Pendant zu Twitter, in der vergangenen Woche offenkundig irrtümlich veröffentlichte[ix]. So bemühen sich die chinesischen Medien derzeit einerseits die Antikriegshaltung des Landes zu betonen, indem sie in Echtzeit über den Verlauf des Krieges und über die durch den Krieg verursachten Zerstörungen und Flüchtlingsprobleme berichten[x]. Andererseits kritisieren chinesische Wissenschaftler in den Medien die USA und zeigen Verständnis für die angeblich schwierige Sicherheitslage Moskaus[xi]. So inszeniert sich China in seinem eigenen Narrativ als Friedensmacht, deren Gegner wohl am ehesten in Washington anzutreffen ist.

Ein weiteres Narrativ sorgte dieser Tage international für Aufmerksamkeit: Nicht nur in Europa und den USA wurde darüber diskutiert, ob China Lehren aus der russischen Invasion für einen möglichen Angriff auf Taiwan ziehen kann. Die Frage wurde auch in den taiwanesischen Medien intensiv diskutiert[xii]. Provokationen aus China folgten. Zuletzt war Peking immer häufiger mit Kampfjets in den taiwanischen Luftraum eingedrungen. So interessant die Frage auch sein mag: Pekings Parteiführung wird aus der russischen Invasion in der Ukraine kaum Lehren ziehen können. Wie hoch wäre der Preis, wenn die Volksbefreiungsarmee in Taiwan einmarschierte? Wie die vergangenen Tage gezeigt haben, wird die Antwort auf diese Frage nicht zuletzt von der Haltung der westlichen Welt abhängen.

 

Außerhalb der eigenen Komfortzone

Als Partner Russlands und zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde spielt China in der momentanen Krise zweifellos eine wichtige Rolle, aber dies in einem Konflikt, der nicht direkt seine eigenen Kerninteressen wie Taiwan oder seine regionalen Nachbarn wie Nordkorea betrifft. China befindet sich deshalb weit außerhalb seiner Komfortzone. Wie wir gesehen haben, hat China durch den Krieg wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren.

Ironischerweise haben die letzten Tage gezeigt, dass die westlichen Regierungen zunehmend etwas an den Tag legen, was China gerne für sich in Anspruch nehmen würde: die Fähigkeit, schnell, wirksam und glaubwürdig auf eine Krise von großer Tragweite zu reagieren. China hingegen weicht aus. Es ist noch zu früh, um zu sagen, welche Schlüsse Peking aus dieser Lageentwicklung ziehen wird. Als starker Partner Chinas wird Russland in Zukunft wohl ausfallen, denn das Land wird auf absehbare Zeit ein internationaler Pariah bleiben wie Syrien, Iran oder Nordkorea. Gleichzeitig erhöht sich Russlands Abhängigkeit von China infolge der scharfen westlichen Sanktionen, und das flächendeckend in allen Sektoren. Als Energielieferant wird Russlands Bedeutung für China in den nächsten Jahren sicher steigen, sobald die notwendigen Pipelines fertiggestellt sind. Ansonsten wird Russland sowohl politisch als auch ökonomisch für China zu einer enormen Belastung werden, wenn Peking an der bisherigen Allianz festhalten sollte. Ob die russisch-chinesische Militärkooperation sich voll entfalten kann und damit zu einer großen Herausforderung für die NATO-Staaten und ihre weltweiten Verbündeten wird, hängt nicht zuletzt vom weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine ab. Klar ist, dass China derzeit einen sehr unbequemen Drahtseilakt vollführt – mit offenem Ausgang.

 

 

[1] Vgl. Busse, Nikolas 2022, Chinas Stoppschild für Putin, FAZ, 19.02.2022 in: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/china-gegen-militaerischen-einmarsch-russlands-in-die-ukraine-17818961.html, zuletzt abgerufen am 28.02.2022.

[i] Vgl. Fahrion, Georg 2022, Warum China Putin jetzt zur Seite springt, SPIEGEL-Online, 24.02.2022.

[ii] Vgl. Radunski, Michael 2022, Chinesische Dialektik im Russland-Ukraine-Konflikt, China.Table, 25.02.2022.

[iii] Vgl. Lamby-Schmitt, Eva 2022, Angriff auf die Ukraine – China zeigt Verständnis, 24.02.2022 in: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/china-russland-109.html, zuletzt abgerufen am 28.02.2022.

[iv] Vgl. Agenturmeldung dpa/AFP 2022, China enthält sich – Russland-Resolution scheitert im Sicherheitsrat, 26.02.2022 in: https://www.tagesspiegel.de/politik/china-enthaelt-sich-russland-resolution-scheitert-im-sicherheitsrat/28108572.html, zuletzt abgerufen am 28.02.2022.

[v] Vgl. Petring, Jörn 2022: Eine Freundschaft mit Grenzen, 27.02.2022 in: https://www.wiwo.de/politik/ausland/china-russland-und-die-ukraine-eine-freundschaft-mit-grenzen-/28110860.html

[vi] Sieren, Frank 2022: Der ewige Kampf um Öl und Gas, China.Table, 25.02.2022.

[vii] Vgl. Gusbeth, Sabine 2022: Welche strategischen Interessen China in der Ukraine hat, 25.02.2022 in: https://www.handelsblatt.com/politik/international/russische-invasion-welche-strategischen-interessen-china-in-der-ukraine-hat/28105676.html?ticket=ST-4208518-1wR6E3HbD0e6FTTTDYc0-ap4, zuletzt abgerufen am 28.02.2022.

[viii] Vgl. Radunski, Michael 2022, Chinesische Dialektik im Russland-Ukraine-Konflikt, China.Table, 25.02.2022.

[ix] Vgl. Fahrion, Georg 2022, Warum China Putin jetzt zur Seite springt, SPIEGEL-Online, 24.02.2022.

[x]Vgl. Jianmian News 2022: Über 200.000 Menschen sind aus der Ukraine in die Nachbarländer gelangt, 27.02.2022 in: https://news.sina.com.cn/w/2022-02-27/doc-imcwipih5662651.shtml, zuletzt abgerufen am 28.02.2022.

[xi] Vgl. Huang, Jiaqi 2022: Professor der Universität Wuhan erklärt die Situation zwischen Russland und der Ukraine: Werden die USA China verantwortlich machen?, 23.02.2022 in: http://news.cnhubei.com/content/2022-02/23/content_14523541.html, zuletzt abgerufen am 28.02.2022.

[xii] Zhongshi News 2022: Die Ukraine heute, Taiwan morgen?, 25.02.2022, in: https://www.chinatimes.com/realtimenews/20220225005182-260407?chdtv, zuletzt abgerufen am 28.02.2022.

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