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Zukunftsforum Politik

Der deutsche Föderalismus im Reformprozess

з Prof. Dr. Rudolf Morsey, Prof. Dr. Hans-Peter Schwarz
 

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I. 1876–1949

Adenauer war das dritte Kind von fünf Geschwistern und wuchs in beengten Verhältnissen auf. Nach dem Abitur (1894) studierte er mit Hilfe eines Bürgerstipendiums Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft in Freiburg, München und Bonn. Nach 1. juristischem Examen, Referendarzeit und 2. Staatsexamen arbeitete Adenauer als Assessor bei der Staatsanwaltschaft in Köln, ab 1903 bei Rechtsanwalt Hermann Kausen (Vorsitzender der Kölner Zentrumsfraktion), ab 1905 als Hilfsrichter beim Landgericht. 1904 war er durch Heirat mit Emma Weyer (1880–1916) mit dem Kölner Patriziat in Verbindung getreten. Der Ehe entstammten drei Kinder. Von christlich-humanistischen

Wertvorstellungen auf katholischer Grundlage geprägt, blieb Adenauer dem freiheitlichen Geist des nach Westeuropa geöffneten Rheinlands zugewandt und von der demokratisch-föderalistischen Tradition des rheinischen Zentrums beeinflusst.

1906 wurde Adenauer zum Beigeordneten in Köln gewählt, 1909 zum 1. Beigeordneten. 1916 starb seine Frau, 1917 erlitt er einen schweren Autounfall. Im gleichen Jahr zum Bürgermeister von Köln gewählt, verlieh ihm Wilhelm II. den Titel Oberbürgermeister und berief ihn in das Preußische Herrenhaus. 1919 heiratete Adenauer Auguste Zinsser (1895–1948). Dieser Ehe entstammten vier Kinder. Zum Verständnis seiner Persönlichkeit gehört, dass er sich mit immer neuen technischen Einfällen („Erfinden“) beschäftigte, damit sogar Patente erwarb. 16 Jahre lang hat Adenauer die Geschicke Kölns bestimmt und die rheinische Domstadt zur Metropole im Westen Deutschlands ausgebaut. Mit dem Einmarsch britischer Truppen Ende 1918 begann eine siebenjährige Besatzungszeit. Im Zuge der „Rheinlandbewegung“ im Winter 1918-19 trat Adenauer dafür ein, das Rheinland aus Preußen, nicht aber vom Reich zu lösen. In der Staats- und Wirtschaftskrise im Spätherbst 1923 wandte er sich gegen Bestrebungen der Reichsregierung Gustav Stresemann, Westdeutschland zeitweilig vom Reich zu trennen, um „Restdeutschland“ zu retten. Adenauer nahm das französische Sicherheitsbedürfnis ernst und erstrebte eine „organische Verflechtung“ der westdeutschen Schwerindustrie mit der des benachbarten Auslands.

Seit 1921 gehörte der Zentrumspolitiker (auch führend im Provinziallandtag und -ausschuss der Rheinprovinz) dem Preußischen Staatsrat an. Bis 1933 wurde er alljährlich zu dessen Vorsitzenden gewählt. Als Präsident des Münchner Katholikentags 1922 befürwortete er eine interkonfessionelle Zusammenarbeit. Der 1929 wiedergewählte Oberbürgermeister verkörperte für die Nationalsozialisten die ihnen verhasste republikanische Bastion in Preußen. Dessen Gleichschaltung durch Auflösung des Landtags nach Hitlers Regierungsantritt konnte der Präsident des Staatsrats am 6. Februar 1933 nicht verhindern. Nach der Kommunalwahl vom 12. März wurde Adenauer seines Postens enthoben und am 17. Juli entlassen.

Er blieb geächtet, bedroht und überwacht. 1933-34 fand er für ein Jahr Unterkunft in der Benediktinerabtei Maria Laach. 1934 übersiedelte er mit seiner Familie nach Neubabelsberg bei Berlin, wo er Ende Juni 1934 zwei Tage verhaftet war, und 1935 nach Rhöndorf. Aus dem Regierungsbezirk Köln ausgewiesen, lebte er ein Jahr lang in Unkel. 1937 erreichte er mit der Stadtverwaltung in Köln einen Vergleich, der ihm erlaubte, in Rhöndorf ein Haus zu bauen. Adenauer mied Kontakte zur innerdeutschen Opposition. Am 26. August 1944 wurde er verhaftet und drei Monate lang in Köln eingekerkert. Seine Frau, ebenfalls zeitweise verhaftet, zog sich dabei eine Erkrankung zu, an deren Folgen sie 1948 gestorben ist. Am 4. Mai 1945 von der amerikanischen Militärregierung zum Oberbürgermeister von Köln ernannt, ging Adenauer mit Energie an den Wiederaufbau der Trümmerwüste. Sein Verhältnis zur US-Besatzung war gut, das zur britischen Militärregierung (ab Ende Juni) gespannt. Am 6. Oktober 1945 wurde er vom Militärbefehlshaber entlassen. Da ihm verboten war, sich politisch zu betätigen, legte er sein Amt als Mitglied des Vorstands (seit dem 2. September) der neugegründeten CDP nieder. Nach Aufhebung des Verbotes politischer Betätigung kumulierte Adenauer in einer parteipolitischen Blitzkarriere sämtliche Führungsämter der CDU Nordrhein-Westfalen und in der britischen Zone. Er leitete auch die 1947 gegründete Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU und gewann als Organisator und massenwirksamer Redner entscheidenden Anteil am Aufstieg seiner Partei.

Aus der Teilung Deutschlands und Europas zog Adenauer die Konsequenz: Keine „Schaukelpolitik“ und nationalstaatliche Restauration, sondern Integration Westdeutschlands in Westeuropa. Mit seiner Wahl zum Präsidenten des Parlamentarische Rates am 1. September 1948 rückte Adenauer in eine überregionale Schlüsselrolle. Als „Sprecher der werdenden Bundesrepublik gegenüber den westlichen Mächten“ (T. Heuss) vermochte er seiner Konzeption von der Rolle Westdeutschlands im Rahmen der freien Welt Resonanz und seinem Führungsanspruch in der Bundesrepublik Deutschland Geltung zu verschaffen.

 

II. 1949–1967

 

Wiedergewinnung der politischen Handlungsfreiheit und Wiederaufbau

Als Adenauer zum Bundeskanzler gewählt wurde, lag die oberste Gewalt über die neue Demokratie bei den drei Hohen Kommissaren der westlichen Besatzungsmächte USA, Großbritannien und Frankreich. Die weitgehend von Fremdbestimmung abhängige Bundesrepublik befand sich im Zustand eines Quasiprotektorats, wobei noch längere Zeit unsicher war, ob die westlichen Siegermächte in neuen Deutschland-Verhandlungen den eben erst ins Leben getretenen Staat erneut zur Disposition stellen würden. Vor allem in Frankreich waren die Besorgnisse vor dem latenten Machtpotential dieses „West-Staates“ und der unstabilen Lage im geteilten Deutschland groß. Doch auch in der von Flüchtlingsmassen überschwemmten, aufgrund von Besatzungsherrschaft und Teilung psychologisch noch ungefestigten Bundesrepublik war unsicher, ob der Wiederaufbau tatsächlich gelingen würde. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie bis zur Rückgabe der nunmehr fast uneingeschränkten Souveränität am 5. Mai 1955 aus dem fremdbestimmten und verelendeten deutschen Kernstaat im Westen die schon damals leistungsfähigste europäische Volkswirtschaft, eine von breiten Mehrheiten getragene Demokratie und ein westeuropäischer Machtfaktor geworden war. Nach allgemeiner Auffassung war dies in erster Linie Adenauer zu verdanken, der aus Sicht der westlichen Demokratien und eines beträchtlichen Teils der Wählerschaft dreierlei gewährleistete: erstens dank seiner nach der Bundestagswahl 1953 unangreifbaren Position eine verlässliche Konsolidierung der anfangs noch recht labil erscheinenden Demokratie, zweitens die ebenso verlässliche Westbindung, welche die Bundesrepublik vor der Sowjetunion schützte und die westlichen Nachbarn der Bundesrepublik vor den „incertitudes allemandes“, drittens dank der ruhigen Verständigungspolitik und Integrationsbereitschaft Adenauers nach Westen hin eine Wiederherstellung des deutschen politischen und moralischen Kredits.

 

Die Adenauersche CDU als „Partei der Bundesrepublik“

Adenauer begann seine Nachkriegslaufbahn als Parteiführer und hat sich auch im Amt des Bundeskanzlers in starkem Maß als Parteiführer begriffen. Die CDU, wie sie sich in den 1950er Jahren entwickelte, war gleichzeitig sein Werk und sein Werkzeug. Vom katholischen Zentrum herkommend und in festen religiösen Überzeugungen wurzelnd, war er schon früh – als Präsident des Katholikentages in München 1922 – für eine interkonfessionelle Volkspartei eingetreten. Seiner Führungskraft war es in erster Linie zu verdanken, dass aus der 1945 entstandenen CDU in Verbindung mit der CSU die stärkste politische Kraft der Bundesrepublik wurde, die sich weitgehend mit diesem deutschen Kernstaat im Westen und der von Adenauer gestalteten Politik identifizierte, und die die Bundesrepublik durch eine moderat konservative, wirtschaftsfreundliche, doch zugleich auch sozial ausgleichende Politik stabilisierte. Nicht die Traditionspartei SPD wurde somit in den für die spätere Entwicklung maßgeblichen Jahren der Ära Adenauer zur eigentlichen Partei der Bundesrepublik, sondern die damals noch ausgeprägt christliche, westlich orientierte und sowohl innen- wie außenpolitisch moderne CDU.

 

Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft

Vor der Währungsreform 1948 plädierten auch starke Gruppierungen in der CDU für eine mehr oder weniger weit gehende sozialistische Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Demgegenüber war Adenauer ein Befürworter der marktwirtschaftlichen Richtung, allerdings verbunden mit sozialer Absicherung und mit Ausgleichsmaßnahmen. So setzte er den parteilosen Neoliberalen Ludwig Erhards innerhalb der CDU durch und behielt den „Vater des Wirtschaftswunders“ bis 1963 im Kabinett. Adenauer schwankte zwischen einer marktwirtschaftlichen Orientierung (z. B. bei der Lohnpolitik, bei der Steuerpolitik, bei der Politik gegenüber den Gewerkschaften, in der Wohnungsbaupolitik) und stärker etatistischen und sozialstaatlichen Präferenzen (z. B. bei der Energiepolitik, der Landwirtschaftspolitik, der Gesetzgebung über den Lastenausgleich, der dynamischen Rente, der Subventionspolitik). Alles in allem aber nahm die Bundesrepublik unter seiner Kanzlerschaft eine ausgeprägt marktwirtschaftliche Entwicklung mit hohen Wachstumsraten, Abbau der protektionistischen Barrieren, großen Exporterfolgen, Währungsstabilität und geringem Einfluss der Gewerkschaften.

 

Die Erfindung der Kanzlerdemokratie

Der Begriff tauchte 1953 auf, als Adenauer seinen ersten großen Wahlsieg errang. Die institutionellen Voraussetzungen der Kanzlerdemokratie waren allerdings schon im Grundgesetz angelegt. Adenauer aber hat die entsprechenden Möglichkeiten maximal ausgeschöpft. Wie auch bei anderen Bundeskanzlern nach ihm beruhte seine Machtstellung darauf, dass er das Amt des Bundeskanzlers und den Parteivorsitz der stärksten Regierungspartei in einer Hand vereinigte. Dank dieser Doppelmacht saß Adenauer bei allen Auseinandersetzungen am längeren Hebel gegenüber den eigenen Kabinettsmitgliedern, gegenüber den Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, gegenüber den Koalitionspartnern, auch gegenüber den Landesverbänden der CDU sowie gegenüber der CSU und in allen Konflikten mit den Länderregierungen. Im wesentlichen hat Adenauer die CDU vom Bundeskanzleramt aus geführt, Wahlkämpfe ließen sich so mit der Parole führen: „Auf den Kanzler kommt es an!“ Im Umgang mit den Ministern seines Kabinetts hielt Adenauer zwar viel von gründlicher argumentativer Sachdiskussion, regierte aber im großen und ganzen auch im Umgang mit ihnen autoritativ. Auch im Umgang mit den kleineren Koalitionsparteien setzte er weniger auf Kompromisse und den Konsens als auf Konflikte. Die Ära Adenauer ist auch die Geschichte zahlloser Koalitionskrisen, die der Kanzler eher zu provozieren als zu vermeiden suchte, um sich dabei jeweils durchzusetzen. 1949–1955 kam Adenauer die Gunst der Konstellation zugute. Bis zur Rückgabe der Souveränität liefen alle Kontakte zu den Hohen Kommissaren und zu den westlichen Regierungen über ihn. Er war 1951–1955 sein eigener Außenminister und vermochte somit in den Anfängen der europäischen Integration seine Politik in eigener Person zu vertreten. Auch die für die Vorbereitung des deutschen Verteidigungsbeitrags zuständige Dienststelle Blank unterstand ihm bis 1955 direkt. In die Zuständigkeit für das Bundespresse- und Informationsamt ließ er sich von keiner anderen Partei hereinreden. Dabei trug auch sein hohes Lebensalter zu seiner überlegenen Stellung bei. Zudem verstand es Adenauer, alle, die politisch mit ihm zu tun hatten, stolz, ironisch und oft auch verletzend auf Distanz zu halten. So gewöhnte er auch die damals noch stärker als später autoritätsfixierte deutsche Öffentlichkeit daran, dass Demokratie und Regierungsautorität keine Gegensätze sind, sondern sich idealiter ergänzen.

 

Westbindung

Seit Kriegsende lebte Adenauer in ständiger Sorge vor weiterer Expansion der Sowjetunion. Ein in freiheitlich-christlichen Überzeugungen wurzelnder Antikommunismus war eines seiner stärksten Motive. Daher hielt er abwartende oder vermittelnde Positionen im Ost-West-Konflikt für verfehlt und plädierte für eine bedingungslose Westbindung erst der Westzonen, dann der Bundesrepublik Deutschland. Das Streben nach Wiedergewinnung deutscher Handlungsfreiheit wenigstens gegenüber den Westmächten und das Verlangen nach Schutz durch sie, vor allem durch die USA, kamen dabei zur Deckung. Eine Vertiefung der Teilung Deutschlands, so sah er es, musste unter diesen Umständen in Kauf genommen werden. Grundsätzlich begriff Adenauer die Demokratien im atlantischen Bereich als ideelle Einheit. Nachdem seine Position gefestigt war, zögerte er zwar nie, die drei Deutschland-Mächte dann und wann auch, allerdings behutsam, notfalls gegeneinander auszuspielen. Im großen und ganzen suchte er aber einseitige Optionen zu vermeiden, folgte zumeist der amerikanischen Führung, jedenfalls bis in die frühen 1960er Jahre, als er sich aus Enttäuschung über die Berlin- und Deutschland-Politik von London und Washington zunehmend Frankreich unter Staatspräsident Charles de Gaulle zuwandte. Von der Unerlässlichkeit einer deutsch-französischen Versöhnung war er von Anbeginn an überzeugt. Das äußerte sich im vorbehaltlosen Aufgreifen des Schuman-Plans wie in der nicht ganz so vorbehaltlosen, aber lange Zeit doch nachdrücklichen Mitarbeit an den von Frankreich lancierten und unablässig umformulierten Plänen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die 1954 in Paris scheiterte, womit sich der Weg zum deutschen Verteidigungsbeitrag im Rahmen der NATO öffnete. Schon vor der Machtübernahme de Gaulles im Jahr 1958 hat er nach Lösung der Saar-Frage im deutschen Sinne bei den Verhandlungen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auch mit dem Ziel gemeinsamer Kernwaffen-Produktion in trilateraler Zusammenarbeit zwischen Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und Italien der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Rahmen der Sechsergemeinschaft (Frankreich, Italien, Benelux-Länder und Bundesrepublik Deutschland) einen privilegierten Platz eingeräumt. Die Orientierung hin auf Frankreich verstärkte sich bis zum Abschluss des deutsch-französischen Vertrags von 1963. Wie auf allen Feldern der Außen- und Innenpolitik ruhte allerdings sein Misstrauen auch Frankreich gegenüber nie. Neben dauernden Bemühungen um Zusammenarbeit stand deshalb eine lange Abfolge von Kontroversen.

Großbritannien stand Adenauer anfänglich trotz der kränkenden Absetzung als Kölner Oberbürgermeister unvoreingenommen gegenüber, auch in Würdigung der britischen Weltmacht-Rolle, die sich im Verlauf seiner Kanzlerschaft allerdings abschwächte. Die fehlende Bereitschaft Londons zur Beteiligung an den verschiedenen Projekten europäischer Integrationspolitik (GKS, EVG, EWG, Euratom ließ ihn mehr und mehr eine engere Zusammenarbeit mit Frankreich anstreben. Ein Hauptmotiv seiner Politik der Westbindung war die Entschlossenheit, zum Schutz der Bundesrepublik vor der NVA der DDR und der Roten Armee eigene Streitkräfte aufzubauen, die in die Verteidigungsorganisationen des Westens integriert sein sollten. Dies führte anfänglich zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen mit der SPD und mit der Gesamtdeutschen Volkspartei Gustav Heinemanns. Die gesamte Politik der Westbindung musste gegen die SPD durchgesetzt werden, die jedes entsprechende Vertragswerk vor allem mit der Feststellung kritisierte, dass die deutsche Spaltung dadurch vertieft und die Ost-West-Gegensätze verschärft werden würden. Neben der Sicherheitsfrage und der Notwendigkeit, mit Billigung der Westmächte eine Rückkehr der deutschen Wirtschaft auf die Weltmärkte zu erreichen, erschien Adenauer eine denkbar enge Verflechtung mit den westlichen Demokratien auch zum Zweck der Stabilisierung der demokratischen Entwicklung in der Bundesrepublik unerlässlich.

 

Deutschlandpolitik

Adenauer hat die Bundesrepublik als deutschen Kernstaat in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches konzipiert und bis zum Ende seiner Kanzlerschaft unbeirrt daran festgehalten. Dies schloss nicht aus, dass er seit Mitte der 1950er Jahre, ganz besonders unter dem Druck der Berlin-Krise, gelegentlich intern Modifikationen dieser Grundlinie ausarbeiten ließ. Angesichts der unverändert expansiven sowjetischen Politik schien es ihm jedoch geboten, erst mit Unterstützung der USA das westliche Deutschland und Westeuropa zu konsolidieren. Erst danach mochte seiner Einschätzung zufolge irgendwann unter günstigen Bedingungen eine Lösung der deutschen Frage durch Wiedervereinigung, vielleicht auch eine Korrektur der Ostgrenzen erreichbar sein. Dass Adenauer der Sicherung der Freiheit, des Wiederaufstiegs und der Prosperität durch Westbindung die Priorität vor riskanter Wiedervereinigungspolitik einräumte, ist stark kritisiert worden. Im Rückblick wird man in Adenauers Zurückhaltung bezüglich der Teilung einen der wichtigsten Beiträge zur Stabilisierung der Bundesrepublik sowie des westeuropäischen Staatensystems erblicken. Dass dieses System zu Lebzeiten Adenauers aufgrund einseitiger sowjetischer Pressionen immer noch eine Kriegsgefahr beinhaltete und unstabil blieb, bewies die von 1955–1962 andauernde Krise um Berlin. Aus Adenauers Kurs unbedingter Westbindung ergab sich auch seine Entschlossenheit, keine Vorschläge für einen blockfreien Status des wiedervereinigten Deutschland zu akzeptieren. Auch Gesamtdeutschland sollte bezüglich der Allianzen und der europäischen Integration zumindest Entscheidungsfreiheit besitzen.

 

Der Stabilisierer Europas

In historischer Sicht verdient Adenauer in zweierlei Hinsicht das Prädikat eines „großen Europäers“. Er hat durch Festhalten am Primat der Westpolitik die aufgrund der Teilung mit dem absurden Status West-Berlins labile Lage in Deutschland stabilisieren helfen. Da das Reich zuvor an der Zerstörung des europäischen Staatensystems entscheidenden Anteil hatte, wurde die Politik dieses nach Westen hin ausgleichenden und integrativen Kanzlers als große staatsmännische Leistung betrachtet. Man wird ihn daher als einen der wichtigsten „Stabilisierer Europas“ begreifen müssen. Das war er aber auch deshalb, weil er mit ganz bemerkenswerter Aufgeschlossenheit, Dynamik und Weitsicht die Integration des westlichen Europa voranzubringen versuchte. Aus der anfangs prekären Ausgangslage ergab sich, dass er aufgriff und im Sinn der deutschen Interessen modifizierte, was jeweils angeboten wurde: Beitritt zum Europarat, Schuman-Plan, EVG, die Vorschläge einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG), die Pläne einer europäischen Zollunion, aus denen sich dann nach Verhandlungen im Sechser-Rahmen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft herausbildete, die Vorschläge Frankreichs für eine Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) oder de Gaulles Drängen auf Errichtung einer Politischen Union. Es war erstaunlich, mit wie viel Experimentierfreude und Optimismus dieser noch aus dem Kaiserreich stammende, betagte Adenauer recht unerprobte, alles in allem aber zukunftsweisende Institutionen ins Leben zu rufen bereit war. Dabei ließ er sich auf kein bestimmtes Europa-Konzept festlegen. Er blieb auch in dieser Hinsicht kein Visionär, sondern ein experimentierfreudiger Pragmatiker. Die Entschlossenheit, die Bundesrepublik fest in den westeuropäischen Gemeinschaften zu verankern, war jedenfalls einer seiner wichtigsten Beiträge zur Geschichte der Bundesrepublik, doch ebenso zur Geschichte Europas. Unter allen Staatsmännern, die im Nachkriegsjahrzehnt an der Einigung des westlichen Europa arbeiteten, war er der wichtigste.

 

Der Modernisierer Adenauer

Die von Adenauer zur Seite gedrängten christlichen Sozialisten und die marxistische Linke haben schon zu Lebzeiten des Bundeskanzlers, doch auch später, die Ära Adenauer als Epoche der „Restauration“ kritisiert. Über den marxistischen Restaurationsvorwurf kann man leicht hinweggehen. Adenauers und Erhards Soziale Marktwirtschaft war ein Konzept des ordnungspolitisch und sozialstaatlich domestizierten Kapitalismus. Dass Adenauer als Bundeskanzler gern autoritativ regierte, ist zwar richtig. Zweifellos brachte dieser von Arroganz nicht freie soziale Aufsteiger aus den Jahrzehnten des Kaiserreichs und auch der Weimarer Republik auch ein Amtsverständnis mit, das den höchsten Amtsträgern Gestaltungsfreiheit und Weisungsbefugnis zusprach – so diese in den Koalitionskabinetten, im Parlament und bei allgemeinen Wahlen Mehrheiten finden. Eben mit diesem letztlich doch demokratischen Amtsverständnis unterschied sich Adenauer von der Regierungspraxis im früheren Obrigkeitsstaat. Ganz unzutreffend war der ihm wegen der Wiederbewaffnung entgegen gehaltene Vorwurf einer militaristischen Restauration. In keinem anderen Bereich ist die demokratische Zuverlässigkeit der mittleren und höheren Eliten vom Parlament so gründlich überprüft worden wie bei den Offizieren der einstigen Wehrmacht. Nirgends war die politische und bürokratisch-zivile Kontrolle schon zu Zeiten Adenauers so dicht wie bezüglich der Bundeswehr. Dass Adenauer der sowjetischen Machtpolitik westliche Gegen-Macht entgegenzusetzen bestrebt war, ist richtig. Dieser Aspekt der „Restauration“ von Machtpolitik ist allerdings vor allem von kommunistischer Seite, daneben von den Verfechtern eines mehr oder weniger unbedingten Pazifismus erhoben worden. In Wirklichkeit war die Bundesrepublik während der gesamten Ära Adenauer eine Gesellschaft, die sich in voller Modernisierung befand. Und in Gestalt Adenauers hatte ein entschlossener Modernisierer im Bundeskanzleramt Platz genommen. Dieser Typ des Modernisierers – technikfreundlich, gestaltungswillig, recht unbedenklich, für Innovation aller Art offen – war schon während des industriellen Aufschwungs im Kaiserreich, in der Weimarer Republik aufgetreten und hatte auch das Dritte Reich überdauert. Adenauer war, wie seit seiner Kölner Oberbürgermeisterzeit allgemein bekannt, einer dieser eigenwilligen, unbequemen, wagemutigen Modernisierer, aus denen die moderne deutsche Gesellschaft ihre Dynamik bezog. Viele der eben skizzierten Leistungen können als das Werk eines Modernisierers begriffen werden: die Umgestaltung des überkommenen Parteiensystems mittels der CDU, der Aufbau und Ausbau der Kanzlerdemokratie, die nachhaltige Fortführung und Förderung der während der Besatzungszeit unterbrochenen Spitzentechnologien, nicht zuletzt der Kernkraft, Modernisierung der Landwirtschaft durch die „Grünen Pläne“, Autobahnbau, Wohnungsbau – es gibt nur wenige Bereiche, in denen der Bund aktiv werden konnte, die in den 1950er und 1960er Jahren nicht durch vielfach fundamentale Modernisierung gekennzeichnet waren. Auch bei der bedenkenlosen Mitwirkung an den völlig neuartigen Projekten der Einigung Europas erwies sich Adenauer als Modernisierer von hohen Graden. Erst gegen Ende seines Lebens kamen ihm zusehends Bedenken, als er feststellte, wie tiefgreifend die von ihm selbst mit entfesselte technische Innovation mitsamt dem Wohlstand die bisher geltenden religiösen Wertesysteme, das Arbeitsethos, den individuellen Leistungswillen, doch auch die vertrauten Landschaften und Bauten in Mitleidenschaft zog. Nicht erst nach dem Abschied vom Kanzleramt, doch von nun immer nachhaltiger, begann er „das Chaos der Werte“, eine weltweite „Unordnung“, den Verfall der Religiosität und des Patriotismus, die atemberaubende Unruhe der Modernität, desgleichen die Erschlaffung der Schöpferkraft zu beklagen. So holten auch ihn die Widersprüche und die unbeabsichtigte Wirkung einer Modernisierung ein, die er zeitlebens selbst vorangetrieben hatte.

Bestand: Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus Rhöndorf.

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