„Verantwortung übernehmen“ wolle er, so hatte es Luis Lacalle Pou bei seiner Vereidigung als Präsident Uruguays am 1. März 2020 vor dem uruguayischen Parlament versprochen. Ein Jahr später zog der Staatschef am gleichen Ort eine Bilanz des ersten Jahres der von ihm angeführten Koalitionsregierung. Hauptthema war der Umgang mit der Corona-Pandemie und die vielleicht wichtigste Grundsatzentscheidung seiner noch jungen Amtszeit: „Getreu unserer tiefsten Überzeugungen haben wir Maßnahmen getroffen, um das Volk zu schützen. Wir haben die Stimmen gehört, die einen Lockdown und eine verpflichtende Quarantäne forderten. Aber diese Regierung hat die Entscheidung getroffen, an die Freiheit in Verantwortung der Bevölkerung zu appellieren“, so der Präsident.
Im Unterschied zu seinen Nachbarstaaten hielt Uruguay bis auf die ersten Wochen der Pandemie ein relativ normales öffentliches Leben aufrecht. Schulen, Restaurants und Einzelhandel blieben geöffnet. Gleichzeitig konnte die Regierung lange auf niedrige Infektionszahlen verweisen und das Gesundheitssystem stieß nie an seine Grenzen. Seine Landsleute danken dies dem Präsidenten. Umfragen zum ersten Amtsjubiläum weisen Zustimmungswerte von bis zu 64 Prozent für den Präsidenten auf.
Erfolgreiches Krisenmanagement
In der Krise präsentiert sich Präsident Lacalle als omnipräsenter und dynamischer Manager, der über die verschiedenen epidemiologischen Details stets bestens informiert ist. Mit dem permanenten Appell an die Eigenverantwortung der Bürger folgt er seit Pandemiebeginn zudem einer klaren Linie. Diese spiegelte sich auch in einer in weiten Teilen beispielhaften und transparenten Regierungskommunikation wieder, bei der Präsidialamtsminister Alvaro Delgado eine wichtige Rolle spielte.
Als besonders wertvoll erwies sich die Einberufung eines aus 55 anerkannten Wissenschaftlern bestehenden Beratergremiums, welches die Regierung bei allen wichtigen Entscheidungen konsultiert. Die effektive Zusammenarbeit zwischen Regierung und Wissenschaft trug wesentlich dazu bei, in der Bevölkerung ein Klima von Kooperation und Vertrauen zu schaffen. Zudem half das überparteiliche Gremium, eine Politisierung der Krise zu vermeiden.
Die Regierung setzte geschickt auf die strukturellen Stärken Uruguays – ein gutes Gesundheitssystem inklusive der insbesondere in ländlichen Gegenden schon lange üblichen medizinischen Diagnose per Internet, die vorhandene wissenschaftliche Kapazität, die weit vorangeschrittene Digitalisierung des Bildungssystems sowie das allgemeine Vertrauen der Bevölkerung in seine Institutionen.
Mit dem Anstieg der Temperaturen im südamerikanischen Frühling (ab Oktober) ließ sich zunehmend eine gewisse Sorglosigkeit der Bevölkerung bei der Befolgung der Hygieneempfehlungen beobachten, was insbesondere seit Weihnachten zu deutlich höheren Corona-Fallzahlen führte. Nichtsdestotrotz wies Uruguay Anfang März eine Sieben-Tage-Inzidenz von 25 pro 100.000 Einwohnern sowie eine geringe Sterblichkeitsrate auf. Nie erreichte die Lage auch nur ansatzweise dieselbe Dramatik wie in den Nachbarländern Argentinien oder Brasilien.
Als die Regierung unter dem Eindruck der Verschärfung der Pandemie-Lage ihre Linie nicht grundsätzlich änderte, gab es kritische Stimmen. Lediglich das Schließen der Grenzen, einige vorsichtige Kontaktbeschränkungen sowie Empfehlungen waren Berichten zufolge selbst manchem Kabinettsmitglied zu wenig. Lauter wurde die öffentliche Kritik als Uruguay nach langen Verhandlungen eines der letzten lateinamerikanischen Länder war, welches Impfstofflieferungen erhielt. Die Impfkampagne begann schließlich mit Erfolg am 1. März und die Regierung erwartet, dass Uruguay als erstes lateinamerikanisches Land bis zum europäischen Sommer die Herdenimmunität erreichen wird. Dennoch bedeuteten die öffentlichen Spekulationen über mögliche Nachlässigkeiten der Regierung bei der Impfstoffbeschaffung einen ersten Flecken auf der sonst weißen Weste des Krisenmanagements.
Letztlich war es China, das Uruguay als erstes relativ große Mengen seines Impfstoffes „Sinovac“ lieferte, während die Beschaffung des ebenso eingekauften Vakzins von BioNTech/Pfizer deutlich größere Verzögerungen mit sich brachte. Dementsprechend dankbar zeigte sich die Regierung auch gegenüber Peking. In einer Pressekonferenz im Präsidialamt durfte der chinesische Botschafter das kommunistische Regime als solidarischen Freund und Helfer inszenieren und Uruguay eine wichtige Rolle in den geostrategischen Machtprojekten Pekings, der „Neuen Seidenstrasse“ sowie der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ zuweisen. Kurze Zeit darauf wollten weder der uruguayische Außenminister noch der Präsident selbst China auf Nachfrage in Interviews als „Diktatur“ bezeichnen.
Programmtreue mit Pragmatismus
Der Amtsantritt Lacalles war noch von Bedenken überschattet worden. Zu heterogen sei die Fünf-Parteien-Koalition von linksliberal bis rechtspopulistisch, zu groß die Meinungsverschiedenheiten in zentralen Politikfeldern und zu zerstritten die Führungskräfte. Dennoch muss konstatiert werden, dass die Koalition bisher trotz einiger Störgeräusche besser gehalten hat, als von vielen erwartet. Bei seiner Regierungserklärung war Präsident Lacalle Pou sichtlich bemüht, verschiedene Erfolge seines ersten Amtsjahres hervorzuheben, die dank des gemeinsamen Wirkens der Koalition im Parlament beschlossen werden konnten.
Von besonderer Bedeutung war dabei ein Mammut-Gesetzespaket, das den Namen Ley de Urgente Consideración (LUC) trägt und Reformen im Bereich Sicherheit, Wirtschaft und Flexibilisierung des Arbeitsrechts beinhaltet. Die Verabschiedung des LUC und wenige Monate später des Fünf-Jahres-Haushalts stellen die Weichen für die Politik der nächsten Jahre.
Bei einem zentralen Wahlversprechen, der Senkung des Haushaltsdefizits, legte die Regierung Pragmatismus an den Tag und entschied sich gegen eine zu akzentuierte Austeritätspolitik in Krisenzeiten. So sollen für die Abmilderung der Folgen der Pandemie auch 2021 eine halbe Milliarde US-Dollar bereitgestellt werden.
Das wohl wichtigste Wahlkampfthema von 2019, die Sicherheitspolitik, zieht sich wie ein roter Faden durch die politische Agenda der Koalition. Angetreten war Lacalle Pou mit dem Versprechen einer Politik der „harten Hand“ (mano dura) für ein „Leben ohne Angst“ (vivir sin miedo). Unter der Führung des prominenten Innenministers Jorge Larañaga konnten im ersten Amtsjahr einige Erfolge verbucht werden. So sank die Zahl der Morde um fast 20 Prozent, während die Polizeipräsenz und Kontrollen deutlich ausgebaut wurde. Zudem konnten knapp 1.500 kg Kokain sichergestellt werden.
Daneben wurden Reformen zur Steigerung der Rentabilität von Unternehmen, ein Programm zur Wiederankurbelung der Wirtschaft sowie kleinere Liberalisierungen beschlossen, um die Macht der omnipräsenten Staatsmonopole in Trippelschritten einzuschränken. Beispiele sind der Wegfall des staatlichen Monopols auf den Verkauf von Flugbenzin sowie Schiffstreibstoff, eine deutliche Erleichterung des Wechsels von Krankenkassen sowie die Erlaubnis, die eigene Mobiltelefonnummer bei einem Wechsel des Anbieters mitzunehmen. Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, die Omnipräsenz von Staatsunternehmen sowie ein aufgeblähter und ineffizienter Verwaltungsapparat bleiben jedoch wichtige Baustellen für die Zukunft.
Schwäche der Opposition
Vergleichsweise leicht machte es der Regierung im ersten Jahr auch die Opposition. Das plurale Linksbündnis Frente Amplio (FA) erholt sich nur langsam von der Wahlniederlage Ende 2019 und ist durch innere Konflikte um Kurs und Führung geschwächt. Während der Corona-Krise gelang es dem FA nicht, eigene Akzente zu setzen, sondern es beschränkte sich im Wesentlichen darauf, die Corona-Staatshilfen als unzureichend zu bezeichnen. Auch eine Unterschriftenkampagne gegen das LUC gemeinsam mit den dem FA eng verbundenen Gewerkschaften, kommt bisher nicht richtig in Gang. Zwar gewann das FA bei den insgesamt für die PN sehr erfolgreich verlaufenen Regionalwahlen im September 2020 das traditionell links wählende Montevideo mit Carolina Cosse als Kandidatin für das Oberbürgermeisteramt, jedoch erreichte ihre Herausforderin Laura Raffo mit knapp 40 Prozent der Stimmen einen Achtungserfolg. Die Wirtschaftswissenschaftlerin agiert seit der Wahl als PN-Parteivorsitzende von Montevideo und ist dabei, zum ersten Mal seit Jahren eine ernstzunehmende Oppositionsplattform in der Hauptstadt aufzubauen.
Eine wichtige Priorität der Koalitionsregierung war von Anfang an die Adressierung der Interessen der dünnbesiedelten und oft unter einer defizitären Infrastruktur leidenden Agrarregionen, in denen die PN ihre politische Herzkammer hat. Der Satz „Ich stehe zum ländlichen Raum“ (Estoy con el campo) wurde neben „Freiheit in Verantwortung“ zum zweiten geflügelten Wort des ersten Regierungsjahres. Uruguay ist von einem starken Stadt-Land-Gefälle geprägt – rund die Hälfte der 3,5 Millionen Uruguayer konzentriert sich auf Montevideo und die umliegende urban geprägte Region Canelones. In seiner Regierungserklärung kündigte Lacalle Pou ein Investitionsprogramm von 1,2 Mrd. USD für den ländlichen Raum an. Dazu gehören Wasserstraßen über den Río Uruguay und die Grenzgewässer mit Brasilien, der Ausbau wichtiger Landstraßen und sowie die Konzession von fünf Regionalflughäfen. Linien-Inlandsflüge gibt es in Uruguay bisher keine, so dass sieben- bis achtstündige Autofahrten zwischen Montevideo und der 500 km entfernten zweitwichtigsten Stadt Salto zum Alltag vieler Menschen gehören.
Außenpolitik ohne Glanz
Ein Bereich, in dem die Regierung bisher wenig Akzente setzen konnte, war die Außenpolitik. Die uruguayische Präsidentschaft des Wirtschaftsbündnisses MERCOSUR stand unter dem Stern des einzigen Ministerwechsels bislang – von Ernesto Talvi, der überraschend seinen Rückzug aus der Politik erklärte, zum Karrierediplomaten Francisco Bustillo. Die Erfolge bei der uruguayischen Agenda einer Flexibilisierung des MERCOSUR-Wirtschaftsraums gingen in einem schwierigen geopolitischen Umfeld nicht wesentlich über Absichtserklärungen und informelle Treffen Lacalle Pous mit den Präsidenten Argentiniens, Brasiliens und Paraguays hinaus. Zudem macht sich in Uruguay zunehmend Frustration über den mangelnden Fortschritt bei der Ratifizierung des EU-Mercosur-Abkommens breit. So bezeichnete Präsident Lacalle die Aussichten desselben als „dunkelgrau“ und Außenminister Bustillo betonte, der Ball zur Ratifizierung liege in Europa. Gleichzeitig brachte die uruguayische Regierung die Idee eines Freihandelsabkommens zwischen dem MERCOSUR und China ins Gespräch. Letzteres wird von Uruguay vor allem als wichtiger Absatzmarkt für heimische Agrarprodukte gesehen.
In einer Umfrage der Tageszeitung „El País“ wurde von 20 Experten und Analysten zur Jahresbilanz der Regierung neben dem mangelnden außenpolitischen Profil der Regierung Kritik an der Sozialpolitik geäußert. Demnach hätten besonders soziale Schwache stärker von staatlicher Seite unterstützt werden können. Ein vor allem durch den Einbruch des internationalen Tourismus verschuldeter Wirtschaftsrückgang von 5,7 Prozent 2020 hat die Armut im Land verstärkt. Nach Angaben der CEPAL stieg sie von 3 auf 5,1 Prozent – ein Wert, der bei einer weitergehenden Schließung der Wirtschaft wohl noch deutlich dramatischer ausgefallen wäre.
Kaum zu widersprechen ist der nicht erst zum Internationalen Frauentag am 8. März lautgewordenen Kritik am sehr geringen Frauenanteil in der Regierung. Nur zwei von 15 Ministerien werden von Frauen geführt. Einer Untersuchung zufolge bekleiden Männer fast 80 Prozent aller Führungspositionen der Regierung – im Präsidialamt sind es 91, im Innenministerium sogar 100 Prozent.
Ausblick
Insgesamt gehen Präsident Lacalle Pou und seine Regierung gestärkt aus dem ersten Regierungsjahr hervor. Ob sich dieser Erfolg konsolidiert, wird maßgeblich von der Wiederankurbelung der Wirtschaft und der sozialen Entwicklung abhängen. Das zweite Regierungsjahr dürfte jedenfalls neue Herausforderungen bereithalten. Insbesondere ist abzuwarten, ob die Taktik der Regierung, den steigenden Infektionszahlen durch schnelle Impfungen zu begegnen, Erfolg haben wird. Zudem ist zu erwarten, dass die Gewerkschaften sowie die Opposition ihre Mobilisierungskapazitäten in dem Maße steigern werden, in dem die sozialen Schieflagen in Folge der Pandemie sichtbarer werden. Schließlich dürfte die bisher erfolgreiche Strategie Lacalle Pous, die Regierungskoalition direkt und mit wenigen formellen Koordinationsinstanzen zu führen an ihre Grenzen stoßen, sollten die persönlichen Umfragewerte des Präsidenten nachlassen. Auch in der Außenpolitik wird der Hinweis auf den Ministerwechsel und die Schwierigkeiten des Reisens in der Pandemie im zweiten Amtsjahr immer weniger als Grund für stockende Fortschritte akzeptiert werden. Präsident Lacalle Pou machte jedenfalls deutlich, dass er über all dies Anfang März 2022 erneut zu berichten gedenkt. „Wir sehen uns hier im nächsten Jahr“, so der Präsident.
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Regionalprogramm Parteiendialog und Demokratie in Lateinamerika
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