Ausgabe: 2/2018
Ai:Herr Dr. Keller, Terroranschläge im Herzen Europas, ein zunehmendaggressiver auftretendes Russland, unzählige Brandherde im NahenOsten und in Nordafrika, Flüchtlingsströme auf dem Weg nach Europa –der ein oder andere spricht angesichts solcher Entwicklungen sogar schon von der „neuen Unsicherheit“. Täuscht der Eindruck, oder ist die Welt in den letzten Jahren tatsächlich unsicherer geworden?
Patrick Keller: Die Welt war immer unsicher. Viele neigen zum Beispiel in der Rückschau auf die vermeintliche Stabilität des Kalten Krieges zu falscher Nostalgie. Aber es stimmt schon, dass uns in den letzten Jahren eine Vielzahl unterschiedlicher Krisen gleichzeitig fordert. Das liegt nur zum Teil daran, dass Deutschland durch die Globalisierung und die voranschreitende Vernetzung auch von geografisch weit entfernten Krisen heute stärker betroffen ist als früher. Im Wesentlichen ist es die Folge von allmählichen Machtverschiebungen im internationalen System, beschleunigt durch revolutionäre technologische Entwicklungen, welche die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Ordnung knirschen lassen.
Ai:Welche Machtverschiebungen meinen Sie?
Patrick Keller:Wir befinden uns in einer Sattelzeit; etwas Altes endet, aber wir wissen noch nicht, welche Gestalt das Neue hat. Das gilt für die Gestaltung des Digitalen Zeitalters ebenso wie für die damit zusammenhängende machtpolitische Ordnung der Welt. Die vergangenen zwanzig Jahre waren ein sehr langer unipolarer Moment der amerikanischen Vorherrschaft, aufbauend auf der Ordnung, die insbesondere die USA zumindest für große Teile der Welt nach 1945 erschaffen und durchgesetzt haben. Nun spüren wir, dass diese ordnungspolitische Hegemonie Risse bekommt – insbesondere durch den ökonomischen und machtpolitischen Aufstieg Chinas, aber auch durch eine Schattenseite der Globalisierung, nämlich die Ermächtigung nichtstaatlicher Organisationen verschiedener Art, von klassischen Nichtregierungsorganisationen über internationale Konzerne bis zu Terrornetzwerken.
Und durch die neue Schwäche – oder zumindest Selbstvertrauenskrise – des Westens, die sich an den wenig erfolgreichen Interventionen wie Afghanistan, Irak und Libyen ebenso manifestiert wie an der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, fühlen sich mit dem ordnungspolitischen Status quo unzufriedene Akteure ermutigt, diesen offen infrage zu stellen. Nimmt man nun noch hinzu, dass die machtpolitischen Grundlagen der USA allen Unkenrufen zum Trotz denen aller Herausforderer immer noch weit überlegen sind, wird es wirklich kompliziert – und gefährlich. Die Fehleinschätzung der Fähigkeiten und der Entschlossenheit des Gegners ist oft Auslöser von Gewalt.
Ai:Wer sind aus Ihrer Sicht denn die„Gegner“und welche Gefahr geht von ihnen aus?
Patrick Keller:Das Wort „Gegner“ ist im diplomatischen Zusammenhang natürlich starker Tobak; ich meinte das im Sinne einer theoretischen Konstellation. Aber es hilft auch nichts, die Wirklichkeit in Watte zu packen: Es gibt die eben beschriebenen Akteure, die eine fundamental andere gesellschaftliche Ordnung wollen als wir sie in einer offenen Gesellschaft wie Deutschland genießen. Sie wollen ihren Wirkungsbereich ausdehnen und fühlen sich von der Strahlkraft liberaler Ideen in ihrem Machtanspruch bedroht. Ich denke an autoritär geführte Großmächte wie China und Russland, aber auch kleinere Mächte wie Iran und Nordkorea und Terrororganisationen wie den sogenannten Islamischen Staat. In den aktuellen Strategiepapieren der USA, z. B. der National Security Strategy oder der National Defense Strategy, werden diese „strategischen Konkurrenten“ eindeutig benannt. Die konkrete Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Das reicht von Propaganda über politischen Druck, Sabotage und Terrorismus bis zur militärischen Gewalt. Deshalb ist es auch erforderlich, eine Vielzahl von Instrumenten wirksam und einsatzbereit zu halten, um diesen Gefahren zu begegnen und das strategische Umfeld positiv zu gestalten.
Ai:Sie haben die Ermächtigung nichtstaatlicher Akteure als„Schattenseite der Globalisierung“bezeichnet. Wenn es um Terrornetzwerke wie den sogenannten Islamischen Staat geht, ist das natürlich naheliegend. Was aber ist mit internationalen Konzernen wie Amazon und Facebook oder Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace und Transparency International –hat der gewachsene Einfluss solcher Akteure nicht auch positive Seiten?
Patrick Keller:Natürlich, das ist nicht schwarz / weiß, und die Vorzüge sind ja offenkundig. Aber wir haben über Unsicherheit gesprochen, und die vor allem durch die Digitalisierung und das Internet entstandene neue Macht dieser Organisationen trägt ganz wesentlich zu den Umbrüchen bei, welche die Bürger verunsichern – selbst wenn sich am Ende (vielleicht durch klug gestaltende Politik) ergibt, dass die Umbrüche den größten Nutzen für die größte Zahl gebracht haben. Und das gilt eben auch für die internationale Ordnung: Wenn nichtstaatliche Akteure erheblich an internationalem Einfluss gewinnen, stört das ein bestehendes System, das sich auf Staaten beruft. Das ist völlig unabhängig davon, ob man die Ziele einer Organisation wie, sagen wir, Greenpeace befürwortet oder nicht. Ich würde zudem immer noch anmerken, dass unabhängig vom moralischen Anspruch einer nichtstaatlichen Organisation ihre demokratische Legitimation – gerade im Vergleich zur gewählten Führung eines freiheitlichen Staates – fragwürdig ist.
In jedem Fall gibt es einen Prozess der Neuausrichtung, der Balance-Findung, der machtpolitischen Stabilisierung. Das kann nicht ohne Friktionen ablaufen, und die erleben wir derzeit.
Ai:Könnte man in diesem Zusammenhang vielleicht die These vertreten, dass sich in den letzten Jahren weniger etwas an der tatsächlichen (Un-)Sicherheitslage geändert hat, dafür aber einiges in Sachen gefühlte (Un-)Sicherheit? Das Risiko, in Europa oder Nordamerika Opfer eines kriegerischen oder terroristischen Gewaltaktes zu werden, ist bekanntlich nach wie vor verschwindend gering – und wird es wohlauch noch einige Zeit bleiben. Trotzdem hat man den Eindruck,dass mehr und mehr vermeintlich unumstößliche Gewissheiten ins Wanken geraten und große Unsicherheit herrscht: Was ist richtig, was ist falsch bzw. was ist wahr und was ist fake? Wie entscheiden wir darüber, was wahr und was falsch ist bzw. wer hat in solchen Fragen Autorität? Welche Lehren haben wir aus der Vergangenheit gezogen? Was macht uns als Gesellschaft aus, für welche Werte treten wir ein und wer sind unsere Partner? Teilen Sie den Eindruck, dass sich insbesondere in dieser Hinsicht etwas verändert hat?
Patrick Keller:Der Begriff der „gefühlten Unsicherheit“ ist un-glücklich, weil er immer unterstellt, viele Bürger seien einer geradezu wahnhaften, diffusen Angst verfallen. Dabei gibt es handfeste Gründe, von neuer Unsicherheit zu sprechen. Allerdings ist es nötig, die verschiedenen Ebenen, die Sie ansprechen, zu differenzieren. Das eine ist die Ebene der internationalen Sicherheitspolitik. Das Konfliktrisiko und die Konfliktbereitschaft hat in den vergangenen Jahren zugenommen, und gewalttätige Konflikte sind näher an Deutschland herangerückt – sei es die russische Gewalt gegen die Ukraine oder der metastasierende Krieg in Syrien. Beides betrifft Deutschland direkt, auch wenn – wie Sie es zum Maßstab machen – bislang kaum Deutsche ihr Leben deswegen lassen mussten. (Im Übrigen zählt die Ukraine, wo praktisch täglich Menschen im militärischen Konflikt sterben, auch zu Europa, weswegen der Hinweis in Ihrer Frage auf die Sicherheitslage in Europa nur eingeschränkt gilt.)
Die andere Ebene ist die, wenn Sie so wollen, postmoderne Irritation, welche die Gesellschaften Europas und Nordamerikas derzeit beschäftigt. Dass dieses Phänomen in anderen Gesellschaften, die zum weiten Kreis des Westens zählen, wie Australien oder Japan, weniger Wirkung entfaltet, ist vielleicht ein Schlüssel zu seiner Erklärung. Jedenfalls sind die Nachwehen der gesellschaftlich-akademischen Revolution der 1960er Jahre, die in den USA und Westeuropa besonders ausgeprägt war, heute als unheimliches Echo zu vernehmen: Aus dem befreienden „Anything Goes“ wurde ein desorientiertes „Was gilt?“. Nimmt man die wirklich fundamentalen und noch nicht abgeschlossenen Veränderungen im Zuge der digitalen Revolution für unsere Art zu leben, zu arbeiten, zu kommunizieren, zu konsumieren hinzu, ergeben sich da sehr nachvollziehbare Verunsicherungen. Und ein Widerstand, der Traditionelles bewahren will und dabei immer Gefahr läuft, Atavistisches in Kauf zu nehmen.
Ai:Ist es aber nicht geradezu symptomatisch für die Entwicklung der letzten Jahre, dass die„strategischen Konkurrenten“des Westens,insbesondere Russland, beide Ebenen ganz bewusst zusammendenken? Unsicherheit lässt sich in diesem Sinne nicht nur erzeugen, indem man seine Truppen an der Grenze zusammenzieht und seine Nachbarn überfällt, sondern auch, indem man die Stützpfeiler einer freiheitlichen Demokratie – Vertrauen in eine unabhängige Presse, freie Wahlen und eine gemeinsame Werteordnung – systematisch zu untergraben versucht.
Patrick Keller:Richtig. Aber beide Ebenen erfordern unterschiedliche Antworten. Wir brauchen einen breit gefächerten Werkzeugkasten und die Klugheit und Entschiedenheit, das jeweils passende Werkzeug zu nutzen. Sicherheitspolitik geht eben weit über ihren Kernbereich, die Verteidigungspolitik, hinaus.
Ai:Wenn Sie auf den deutschen bzw. europäischenWerkzeugkasten schauen, wo sehen Sie dann die größten Defizite?
Patrick Keller:Angesichts der aktuellen Zeitungsberichte fällt mir zuerst der Zustand der Bundes-wehr ein. Und es stimmt: Nach mehr als zwei Jahrzehnten der drastischen Einsparungen sind die Streitkräfte nicht mehr in der Lage, den ihnen zugewiesenen Auftrag umfassend zu erfüllen. Das ändert man nicht über Nacht, und die von Ministerin von der Leyen eingeleitete Trendwende bei den Verteidigungsausgaben ist auch nur ein erster Schritt – zumal es nicht nur um Budget geht, sondern z. B. auch um Beschaffungsprozesse.
Zum Instrumentenkasten gehört allerdings nicht nur das Militär. Handlungsbedarf sehe ich auch beim Schutz und der Resilienz unserer kritischen Infrastrukturen: Cybersicherheit, Ausstattung und Vernetzung von Geheimdienst und Verfassungsschutz sowie der Blaulichter von Polizei, Feuerwehr, Rettung. All das gilt für die deutsche Ebene; mit Blick auf die europäische Zusammenarbeit kann man das multiplizieren. Die Hindernisse bei der Zusammenarbeit souveräner Staaten mit unterschiedlichen, gewachsenen politisch-strategischen Kulturen sind ja wohlbekannt.
Die grundlegende Herausforderung in Sachen „Werkzeugkasten“ halte ich daher für eine gesamtgesellschaftliche. Die Bürger müssen verstehen, wie sehr sich die strategische Lage unseres Landes und unseres Kontinents geändert hat. Deutschland ist eben keine Insel der Seligen, isoliert von den Übeln einer Welt, mit der man gleichwohl wie selbstverständlich Handel treibt. Wir sind betroffen und gemeint, von autoritären Herausforderern, Migrationsbewegungen, staatlichem Zerfall. Wir müssen uns daher deutlicher als in der Vergangenheit darüber verständigen, wer wir sind und sein wollen, wofür wir uns einsetzen wollen und welchen Preis wir dafür zu zahlen bereit sind. Das erfordert politische Führung, aber ebenso das Mitwirken von Medien, Wirtschaft, Kirchen – letztlich jedem Einzelnen.
Ai:Wir haben es also offenbar mit einer erheblichen Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu tun. Und das, obwohl die Forderung, Deutschland müsse endlich mehr Verantwortung übernehmen und dafür auch die entsprechenden Mittel bereitstellen, ja nicht erst seit gestern erhoben wird. Müssen wir uns vielleicht eingestehen, dass Deutschland schlicht nicht bereit und deshalb auch nicht in der Lage ist, noch mehr Verantwortung zu übernehmen? Ist es vielleicht an der Zeit, unsere Ansprüche an die Wirklichkeit anzupassen, weil es umgekehrt ganz offensichtlich nicht funktioniert?
Patrick Keller:Das sehe ich nicht so. Sowohl Anspruch als auch Wirk-lichkeit sind ja ständig im Fluss und stehen in wechselseitiger Beziehung zu einander. Unser Anspruch ist Ergebnis eines politisch-gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Die Wirklichkeit ist die strategische Lage unseres Landes mitsamt den Anforderungen, die daraus erwachsen. Es ist natürlich, dass ein Land versucht, mit einem möglichst geringen Aufwand an Kosten und Risiken so viel wie möglich, aber vor allem das Minimum an Sicherheit zu erreichen. So gesehen, war die deutsche Sicherheitspolitik – die über Jahrzehnte daran gewöhnt war, sich unter dem Flügel einer Supermacht einrichten zu können, wenn es wirklich bedrohlich wird – recht erfolgreich: Deutschland hat bei allen Einsparungen und aller Zurückhaltung immer gerade genügend getan, etwa bei der Beteiligung an Auslandseinsätzen, um seine Bündnisfähigkeit begründen zu können und die amerikanische Schutzmacht investiert zu halten.
Wenn sich in den vergangenen Jahren aber die strategische Lage so dramatisch zu verändern begonnen hat, wie ich meine, können wir davon ausgehen, dass es mit dieser Minimal-Politik nicht mehr lange getan ist. Nicht nur mit Blick auf die USA, sondern auch den Zusammenhalt in Europa. Deswegen ist die veränderte Politik der Bundesregierung so begrüßenswert, auch wenn Tempo und Umfang noch kritisiert werden können. In dieser Situation immer noch zu argumentieren wie in der Bonner Republik und unsere eigenen Einflussmöglichkeiten kleinzureden, halte ich für fahrlässig. Zumal dieser Kleinmut vielen unserer Partner und Verbündeten, die fast alle schwächer sind als wir, wie Hohn vorkommen muss. Wer, wenn nicht wir, soll für unsere Interessen und Überzeugungen einstehen und die Zukunft entsprechend zu gestalten versuchen?
Das Gespräch führte Sebastian Enskat.