Ausgabe: 3/2016
Menschenrechtsverletzungen, Mangelwirtschaft, Ladenplünderungen, Gewaltkriminalität, Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung, Stromausfälle, Trinkwasserknappheit, Massenauswanderung, dreistellige Inflationsraten, Rekorddefizit und demnächst womöglich der Zahlungsausfall: Aus Venezuela kommen schon lange keine guten Nachrichten mehr und alles deutet darauf hin, dass es sogar noch schlimmer kommen könnte. Statt robuster Volkswirtschaft und prosperierendem Wohlfahrtsstaat, wie man ihn der Welt lange vorgegaukelt hat, erinnert das Land heute an ein Paradebeispiel fragiler Staatlichkeit. Unfähig zu ökonomischen Reformen, führt Staatspräsident Nícolas Maduro die Politik seines Vorgängers und einstigen Hoffnungsträgers der internationalen Linken, Hugo Chávez Frías, fort und riskiert den wirtschaftlichen wie sozialen Zusammenbruch des Landes. Während die historische Krise von der Regierung mit der üblichen Propaganda geleugnet wird und sogar Angebote aus dem Ausland für dringend notwendige Hilfslieferungen ausgeschlagen werden, leidet die Bevölkerung in zunehmendem Maße. Angesichts der desaströsen Politik ist es kaum verwunderlich, dass die internationale Solidarität für die Regierung in Caracas schwindet. Dabei könnte das Land mit seinem Reichtum an Erdöl und anderen Ressourcen eine deutlich wichtigere Rolle spielen, sei es in der Region oder an den internationalen Rohstoffbörsen. Wie konnte es dazu kommen, dass sich Venezuela von einem ehemals einflussreichen Akteur in Lateinamerika zu einem Stör- und Instabilitätsfaktor in der Region entwickelt hat?
Der Aufstieg von Hugo Chávez
In Venezuela bestand bis 1999 über vier Jahrzehnte hinweg ein Zweiparteiensystem, in dem sich die sozialdemokratische Partei Acción Democrática (AD) und die christsoziale Partei Comité de Organización Política Electoral Independiente (COPEI) an der Macht abwechselten. Nicht mehr das Militär, sondern eine zivile Elite dominierte die Staatsgeschäfte auf Basis einer repräsentativen Demokratie. Der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez verstaatlichte 1975 die Ölindustrie und formte mit dem Ölkonzern Petróleo de Venezuela S.A.(PDVSA) eines der rentabelsten Staatsunternehmen der Welt. Große Infrastrukturprojekte und Sozialprogramme konnten – dank einer steten Ölrente – finanziert werden und brachten Venezuela den Ruf eines lateinamerikanischen Musterschülers in Sachen Wirtschaftspolitik und Demokratiestandards ein.
Allerdings fusionierten mit der Verstaatlichung des Ölsektors erst recht politische und wirtschaftliche Macht, wodurch sich die „Rentenmentalität“ in der Politik verstärkte und die Gesellschaft veränderte. Staatliche Ineffizienz sowie Korruption, Veruntreuung und der Klientelismus einer Parteienelite, die sich schrittweise von den Wählern entfernte, führten dazu, dass man der sozialen Frage im Land zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Erstmals entlud sich der Unmut im Jahr 1989 in einem blutig niedergeschlagenen Aufstand, der als Caracazo (in etwa „großer Caracas-Aufstand“) in die Geschichtsbücher einging. In der Folge gerieten die traditionellen Parteien zunehmend unter Druck, da es ihnen nicht gelang, die wirtschaftliche Krise zu lösen und das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen. Im Jahr 1992 sah der damalige Offizier Hugo Chávez erstmals die Möglichkeit eines Putsches, der aber kläglich scheiterte und dem späteren Präsidenten eine Gefängnisstrafe einbrachte. 1998 startete der inzwischen begnadigte Chávez einen weiteren Versuch. Als Außenseiter trat er in das Präsidentschaftsrennen ein und ging daraus als Sieger hervor. Seine Zielstrebigkeit und scharfe Rhetorik gegenüber der in Verruf geratenen Parteiendemokratie imponierten vielen Venezolanern, die sich nach einem politischen Wechsel sehnten. Anders als seine Konkurrenten entstammte Chávez der überwiegend dunkelhäutigen Unterschicht und verstand es, besonders diese Wählerklientel rhetorisch und emotional zu binden. Er bediente sich dabei klassischer populistischer Instrumente, beispielsweise einer einfachen Sprache, Simplifizierungen, der Betonung der Opferrolle sowie ausgeprägter Freund-Feind-Schemata. Ein langjähriger Wegbegleiter von Hugo Chávez beschrieb ihn als „primitiv und unbelesen“, jedoch als einen Führer mit einer „schnellen Auffassungsgabe und hoher emotionaler Intelligenz“, der „unabhängig handelte, sogar gegenüber den Castro-Brüdern“.
Chávez verfolgte von Beginn an einen Staatsumbau, zunächst etwas kopflos, doch mit den Jahren zunehmend planvoller und radikaler. Die systematische Destruktion von Institutionen, die Schaffung neuer Institutionen zu eigenen, parteipolitischen Zwecken sowie eine voranschreitende Marginalisierung Andersdenkender bildeten dabei das Fundament.
Ein Militär an der Macht
Mit der neuen Verfassung von 1999 leitete Chávez grundlegende Veränderungen ein, die – der militärischen Logik ihres Initiators folgend – auf eine Zentralisierung des politischen Systems abzielten. Die Exekutive wurde deutlich gestärkt, wie im Fall des Nationalen Wahlrats, des Obersten Gerichts, des Obersten Rechnungsprüfers und des Generalstaatsanwalts. Der Senat wurde als zweite Kammer des Parlaments abgeschafft – und damit die Möglichkeit der Präsidentenanklage mit Hilfe dieses Organs. Chávez verfolgte zwar nicht von Beginn an die Einführung eines sozialistischen Modells, allerdings liebäugelte er mit sozialistischen Ideen und machte aus seiner Bewunderung für Fidel Castro, der ihn wiederum tatkräftig unterstützte, keinen Hehl.
Der politische Widerstand, den Chávez hervorrief, gipfelte 2002 in dem gescheiterten Putsch unter Führung von Pedro Carmona, mit dem sich keineswegs alle Oppositionsvertreter einverstanden zeigten. Kurz darauf folgte mit dem Ziel der Absetzung Chávez’ der Paro Nacional, der im Kern ein Generalstreik der Ölindustrie war. Der Präsident reagierte, indem er Streikbrecher organisierte und 20.000 Mitarbeiter von PDVSA entließ. Die Ereignisse der Jahre 2002/2003 sollten Chávez verändern und dienen den Machthabern bis heute als Legitimation für die Bekämpfung und Marginalisierung der Opposition, die sich überwiegend aus freiheitlich-demokratischen Gruppen, Parteien und Aktivisten zusammensetzt.
Ein von der Opposition 2004 initiiertes Abberufungsreferendum führte ebenfalls nicht zum Erfolg. Chávez rächte sich, indem er Wähler, die in dem Referendum gegen ihn gestimmt hatten, aus dem Staatsdienst entfernte. Mindestens 65.000 Venezolaner verloren nachweislich ihre Arbeit. Aufgrund dieser Erfahrungen befürchten viele Bürger noch heute bei Wahlgängen Repressionen.
Machterhalt vor Ideologie
Erst nach dem gewonnenen Referendum 2004 begann man im Präsidialamt, eine konzeptuell-ideologische Grundlage für die „bolivarianische Revolution“ zu entwickeln. Davor hatte die Richtung, in die Chávez den Staat entwickeln wollte, nicht eindeutig festgestanden. Als Militärs waren er und seine Mitstreiter schon immer extrem nationalistisch ausgerichtet. Sozialistisches Gedankengut, dem Chávez von jeher nicht abgeneigt war, floss durch linke Ideengeber ein. Die eindeutige Hinwendung zum Sozialismus erfolgte in dieser Zeit und wurde durch das Konzept El Salto Adelante („Der Schritt vorwärts“) von Chávez’ Vordenker Haiman El Troudi ideologisch untermauert. Mit blumiger Sprache und vagen Formulierungen wurde ein neuer, „noch nie dagewesener“ Sozialismus angekündigt. Während unklar bleibt, wie diese Utopie zu erreichen ist, geht das Basiskonzept konkret darauf ein, wie die Macht konzentriert, konsolidiert und gegenüber den Feinden der „Revolution“ verteidigt werden kann. Staatsräson ist in erster Linie die Absicherung der Macht und weniger der soziale und wirtschaftliche Fortschritt. Das Dokument würdigt ausdrücklich den politischen Nutzen des pragmatischen Handelns, wenn es dem Zweck des Machterhalts dient.
Als die demoralisierten Oppositionsparteien bei den Parlamentswahlen 2005 aus Protest nicht antraten, war es keineswegs überraschend, dass die Chavisten diese Chance für sich nutzten. Mit der Mehrheit im Parlament konnte Chávez seine Macht erst recht ausbauen und scheindemokratisch legitimieren. Auch die Präsidentschaftswahlen 2006 gewann er mit großem Vorsprung. Im Wahlkampf machte er unmissverständlich deutlich, dass er ab sofort ein sozialistisches Staatsmodell anstrebe.
Der Ausbau staatlicher Wohlfahrt und die populistische Verkleidung bestehender Sozialprogramme in einem neuen, roten Gewand ließen eine euphorisierte Chávez-Anhängerschaft im In- und Ausland davon träumen, nach dem Niedergang der Sowjetunion und des Ostblocks ein neues sozialistisches Alternativmodell gefunden zu haben. Freilich half ein historisch hoher Ölpreis der neuen Regierung, ihre Wohltaten zu finanzieren. Anstatt die Ölrente zukunftsträchtig zu investieren, förderte Chávez gezielt, aber keineswegs nachhaltig den Konsum. Insbesondere die bisher vernachlässigte Unterschicht profitierte von den Wohltaten des Staates und dankte es Chávez mit treuer Gefolgschaft. Redistributive Maßnahmen schufen eine große Abhängigkeit von Sozialprogrammen, aus der der Líder Máximo Chávez großes elektorales Kapital zu schlagen vermochte. Wahlgänge hatte er daher nicht zu fürchten.
Unmittelbar nach dem Wahlsieg 2006 nutzte Chávez seine unglaubliche Machtfülle und verkündete, den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela einzuführen. Seinen Ankündigungen folgte eine aggressive Enteignungswelle von Immobilien und Unternehmen, vor allem in der Medienbranche sowie der Agrar- und Lebensmittelindustrie. Für die soziale und politische Kontrolle der armen Bevölkerungsschicht waren diese Bereiche strategisch besonders wichtig. Meist wurden treue Militärs als Unternehmenslenker eingesetzt, die weniger vom Geschäft verstanden, dafür jedoch rasch eine ausgeprägte Selbstbereicherungsmentalität entwickelten. Zwar konnte Chávez seine Verfassungsreform, die (s)eine unbegrenzte Wiederwahl vorsah, per Volksabstimmung nicht durchsetzen, allerdings gab der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ die künftige Regierungslinie vor. Jegliches politische Handeln wurde der Kontrolle und dem Machterhalt durch die Zentralregierung untergeordnet.
Gleichschaltung von Öffentlichkeit und Medien
Die Medienlandschaft wurde schrittweise vom Staat vereinnahmt, sei es durch Enteignung, Gängelung, Entzug der Lizenz oder sonstige Formen der Behinderung. Dabei ging es nicht nur um die Kontrolle von Fernsehen und Presse, sondern auch um die Durchsetzung einer im Orwellschen Sinne vereinheitlichten Sprache und bestimmter Kommunikationsformen. Der Zuschnitt auf Chávez nahm dabei messianische Züge an.
Der Regierung war und ist es wichtig, die Definitionshoheit über bestimmte Begriffe zu erlangen oder neue Begrifflichkeiten zu etablieren und mit Leben zu füllen. In den Jahren verstärkte sich in Venezuela die Verfolgung kritischer Journalisten und führte zu einer Autozensur, die bis heute weit verbreitet ist. Eine Zensur findet auch insofern statt, als über bestimmte Ereignisse nicht mehr berichtet wird bzw. berichtet werden darf. Die wenigen verbliebenen kritischen Medien lässt die Regierung gewähren, da sie größtenteils für ihre Wählerklientel irrelevant sind und auch nach außen den Schein wahren, es gäbe in Venezuela eine unabhängige, freie Presse. Die Medien wandelten sich über die Jahre zu einem gigantischen Propagandaapparat im Dienste der Regierung. Die „bolivarianische Revolution“ wurde dabei als großes Spektakel inszeniert. In einer Art „Politainment“ werden angebliche „Revolutionserfolge“ der Regierung übertrieben dargestellt oder erfunden mit dem Ziel, ein verzerrtes Bild der venezolanischen Realität zu zeichnen. Die auf bildungsferne Schichten zugeschnittenen Informations- oder besser Manipulationssendungen des Staates nahmen dabei groteske Formen an, etwa der mehrstündige Cadenas, schier endlose Direktübertragungen von unvorbereiteten Reden des Staatspräsidenten, die wöchentliche Live-Sendung ¡Alo Presidente! von Chávez oder die seines Nachfolgers En Contacto con Maduround schließlich die Fernsehsendung Con el Mazo dando („Mit dem Knüppel gebend“), in der der ehemalige Parlamentspräsident Diosdado Cabello wahlweise Geheimdienstberichte über Oppositionelle verliest, Drohungen ausspricht, Rührseliges über den verstorbenen Staatslenker Chávez zum Besten gibt oder Klassendenken propagiert. Die Regierungsrhetorik bedient sich dabei der üblichen Idealisierung des Unterschichtenlebens, die in Venezuela Tradition hat und eher zur Verfestigung als zur Überwindung bestehender sozialer Verhältnisse beiträgt.
Autokratie auf allen Ebenen
Der sozialistische Kommunalstaat, der bereits in dem Konzept Salto Adelante Erwähnung fand, wurde in den Jahren 2009 und 2010 mittels eines Gesetzesbündels schrittweise eingeführt. Unter dem Deckmantel der „politischen Partizipation“ wurde eine Vielzahl sozialistischer Kommunen gegründet, die parallel zu den demokratisch gewählten Gemeinderäten und Bürgermeistern existieren und mit staatlichen Mitteln ausgestattet sind. Relativ unbemerkt gelang es der Regierung so, auf der lokalen Ebene eine Struktur zu entwickeln, die direkt von ihr abhängig ist und der sozialen und politischen Kontrolle an der Basis dient. In dem neuen Kommunalstaat soll das „Volk“, das im Sinne der Regierungspropaganda im Allgemeinen als Anhänger des Chavismus interpretiert wird und einem „rechten Bürgertum“ gegenübersteht, angeblich über eigene Belange entscheiden. Tatsächlich ist es jedoch von den Zuwendungen der Regierung abhängig. Der massive Einsatz staatlicher Mittel für parteipolitische Zwecke bzw. chavistische Gruppen wurde gesetzlich verankert und spielt hinsichtlich der Wählermobilisierung eine gewaltige Rolle. Politologen wie Ángel Álvarez und Benigno Alarcón Deza ordnen Venezuela daher als „kompetitive Autokratie“ ein: Der Wahlprozess spielt für die Legitimierung noch eine gewichtige Rolle, wird im Zweifel jedoch durch unlautere Methoden für sich entschieden.
Petrodiplomatie im Sinne des Chavismus
Venezuela hat mit seinem Erdölreichtum zwar traditionell regionale Politik betrieben, allerdings ordnete Chávez die Petrodiplomatie seinen ideologischen Zielen und der Absicherung seiner Macht in der Region unter. Es wurden neben einer Reihe bilateraler Energiebündnisse auch regionale Allianzen geschmiedet. In den meisten Fällen sah die Kooperation verbilligte Erdöllieferungen im Gegenzug für politische Unterstützung des Regimes in Caracas vor. Zusammen mit Kubas Castro-Brüdern verfolgte Chávez das Ziel, eine breite anti-US-amerikanische Allianz zu bilden. Caracas versucht fortwährend, regionale Foren mit starkem US-Einfluss, wie die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), zu lähmen, während zugleich neue ideologische Bündnisse aus der Taufe gehoben wurden. Dazu zählt in erster Linie die „Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas“ (ALBA), die von Venezuela dominiert wird. Auch in anderen Bündnissen, wie der „Union südamerikanischer Nationen“ (UNASUR) oder dem „Gemeinsamen Markt des Südens“ (Mercosur), konnte Venezuela bisher geschickt seinen Einfluss geltend machen.
Der Antiamerikanismus ist seit 1999 Leitlinie venezolanischer Außenpolitik. Damit ging die Regierung in Caracas auch zunehmend Kooperationen mit US-kritischen Staaten, wie etwa Russland, Weißrussland, Iran oder China, ein. Mit Peking wurde die Zusammenarbeit so weit vertieft, dass man einen gemeinsamen Entwicklungsfonds gründete. Die meisten chinesischen Entwicklungsprojekte zahlt Venezuela in Form von Erdöllieferungen, die jedoch mit dem Verfall des Erdölpreises immer üppiger ausfallen und die Staatseinnahmen der Regierung in Caracas mindern. Seit 2005 hat sich gegenüber China ein Schuldenberg von rund 65 Milliarden US-Dollar angehäuft.
Nach wie vor sind die USA einer der wichtigsten Abnehmer venezolanischen Öls und einer der wichtigsten Handelspartner. Der Antiamerikanismus bietet außenpolitisch keine Vorteile; innenpolitisch erfüllt er jedoch die wichtige Funktion, dem Volk ein Szenario angeblicher ausländischer Bedrohung vorzutäuschen sowie linke Gruppen im In- und Ausland für sich zu gewinnen. Das politische Geplänkel zwischen Caracas und Washington nutzt die venezolanische Regierung immer wieder, um vom eigenen Versagen abzulenken oder internationale Kritik abzuwehren, beispielsweise mit Blick auf die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land. Durch eine Reihe traditioneller Fürsprecher, darunter Bolivien, Ecuador, Kuba oder Nicaragua, über gekaufte Schweiger, allen voran die Karibikstaaten, bis hin zu einigen Relativierern, darunter bis vor Kurzem Brasilien unter Lula und Rousseff, verstand es Caracas, internationalen Druck abzuwehren. Je mehr das Regime in ökonomisch schwieriges Fahrwasser kam und der Protest im Inland zunahm, desto stärker wurde die Repression. Unter den Augen der internationalen Staatengemeinschaft kam es 2014 zur Niederschlagung von Unruhen, die hauptsächlich von Studenten initiiert worden waren. Statt eindeutige Signale an die venezolanische Regierung zu senden, verloren sich die lateinamerikanischen, aber auch die europäischen Regierungen in Debatten über die richtige Interpretation der Proteste und ließen Präsident Maduro und die Militärs de facto weiter gewähren.
Das Militär als Staat im Staate
Mit dem Konzept einer „zivil-militärischen Union“ verfolgte Chávez das Ziel, das Militär zur Speerspitze seiner „bolivarianischen Revolution“ zu machen. Die Politisierung und Gleichschaltung des Militärs waren die Folge, sodass Chávez von dieser Seite keine Bedrohung zu fürchten hatte. Als er 2011 an Krebs erkrankte, drängten jedoch zunehmend mehr Militärs in politische Ämter. Fühlten sich die Militärs durch Chávez zu Genüge repräsentiert, so schien das bei dessen Nachfolger Nícolas Maduro weniger der Fall zu sein. Als jemand, der selbst nicht aus den Reihen des Militärs stammte, musste sich Maduro deren Loyalität teuer erkaufen und ihnen mehr Einfluss zugestehen. Rund ein Drittel aller Ministerposten des Kabinetts und deutlich mehr Vizeministerposten werden deshalb heute von Militärs bekleidet. Auch an der Spitze von Staatsunternehmen oder im diplomatischen Dienst finden sich Angehörige des Militärs. Der Historiker Luis Alberto Buttó, der ein Experte für die Zusammenhänge zwischen Militär und Zivilgesellschaft ist, merkt an, dass die venezolanischen Generäle – im Gegensatz zu ihrem Selbstverständnis – von Staats- und Unternehmensführung oftmals keine Ahnung hätten und höchst ineffizient verwalteten.
Das Militär verfügt nicht nur über eigene Versorgungssysteme mit Nahrungsmitteln und Medikamenten – oft zulasten der Bevölkerung –, sondern auch über eine neu gegründete Bank, einen Fernsehsender und seit diesem Jahr auch über ein eigenes Erdöl- und Bergbauunternehmen, die Compañía Anónima Militar de Industrias Mineras, Petrolíferas y de Gas (CAMIMPEG), über die ausschließlich das Militär Kontrolle hat, einschließlich der Erlöse. Für die Leiterin der Nichtregierungsorganisation Control Ciudadano, Rocio San Miguel, ist es eindeutig, dass sich Maduro mit diesem Schritt zusätzliche Gefolgschaft der Militärs erkauft hat. Zudem dürfe das Militär laut Verfassung gar keine Erdölförderung und keinen Bergbau betreiben, denn damit begünstige man lediglich die Korruption im Militär.
Die Militarisierung der venezolanischen Gesellschaft ist in den Regierungsjahren unter Chávez und Maduro deutlich vorangeschritten. Nicht nur in der Regierung, sondern auch im Alltag sind die Militärs omnipräsent und übernehmen oft polizeiliche Funktionen. Die Militärführung lässt sich gerne folkloristisch im Staatsfernsehen als „Erben Simón Bolívars“ feiern und hält gelegentliche Übungsmanöver ab, die dem US-amerikanischen „Imperium“ zur zweifelhaften Abschreckung dienen sollen. Der Machtanspruch und die Bevorteilung von Militärs sind allgegenwärtig, werden von der Bevölkerung selbst bei einfachen Soldaten hingenommen, wie etwa bei der Zuteilung von Nahrungsmitteln, und lassen in Vergessenheit geraten, dass es bis 1999 fast vier Jahrzehnte lang eine zivile Republik gab. Neben dem politisch motivierten Eingreifen von Militärs geht heute aber eine deutlich höhere Gefahr von den allseits gefürchteten Colectivos aus. Dabei handelt es sich um meist motorisierte Gangs, die von der Regierung bewaffnet wurden. Bei Bedarf verbreiten die Gruppen unter Oppositionellen und Abweichlern Angst und Schrecken. Da die Colectivos in ihrem Viertel auch „soziale Arbeit“ verrichten, werden sie von Chavisten und linken Ideologen verbrämt und idealisiert. Mit den Jahren wandelten sich jedoch viele Colectivos zu kriminellen Organisationen, die jenseits des Gesetzes stehen und sich überwiegend illegalen Aktivitäten widmen. Aus politischem Kalkül lässt die Regierung sie gewähren. Dasselbe gilt auch für das allmächtige Militär bzw. den Sicherheitsapparat, der die Regierung vereinnahmt hat. In einem Klima der Recht- und Straflosigkeit wurden zudem viele Bindungen mit der „klassischen“ Mafia eingegangen, sodass Venezuela heutzutage hoffnungslos im Sumpf der organisierten Kriminalität versunken zu sein scheint.
Das Rechtsempfinden der herrschenden Elite in Staat und Militär sowie in den Kreisen ihrer Handlanger hat mit dem Rechtsstaat westlicher Prägung immer weniger gemein. Hierfür finden sich zahlreiche Belege. Die Exekutive wird in Venezuela längst nicht mehr kontrolliert, weshalb es kaum verwundert, dass es allerorts zu staatlicher Willkür im Interesse der Machthaber kommt. Die Veruntreuungs- und Korruptionskultur nimmt in diesem Kontext endemische Ausmaße an. So zählt Transparency International Venezuela 2016 zu den zehn korruptesten Ländern der Welt.
Auf dem Weg in den wirtschaftlichen Ruin
Mit den Enteignungswellen, die im Staatsfernsehen populistisch zur Schau gestellt wurden, leitete Chávez den wirtschaftlichen Ruin des Landes ein. Weitere Maßnahmen, wie die Preisbindung für Tausende von Produkten und vor allem die Fixierung des Wechselkurses, trugen zum Niedergang der Volkswirtschaft maßgeblich bei. In völliger Ignoranz wirtschaftlicher Zusammenhänge entpuppten sich Chávez und seine Mitstreiter vor allem auch als miserable Volkswirte.
In Venezuela, das aufgrund der starken Ausrichtung seiner Volkswirtschaft auf die Ölförderung seit vielen Jahrzehnten ein Diversifikationsproblem hat, erhöhte sich seit 1999 die Abhängigkeit von der Erdölförderung. Unglaubliche 96 Prozent betrug 2015 der Anteil der Erdölexporte an den gesamten Ausfuhren. Die Devisenerwirtschaftung liegt somit in den Händen des Staates und damit ebenfalls fast die gesamte Importkontrolle.
Viele Unternehmen, die verstaatlicht wurden, produzieren heute weniger oder haben den Betrieb eingestellt. Besonders wichtige Bereiche wie die Landwirtschaft sind davon betroffen. Die Versorgung der Bevölkerung mit vielen lebenswichtigen Produkten muss somit durch Importe aufrechterhalten werden, zu denen nur der Staat in der Lage ist, da er fast als einziger Devisen erwirtschaftet. Dieser Effekt verstärkt sich durch ein System unterschiedlicher Wechselkurse. Der Realwert der Währung entfernte sich zunehmend vom festgelegten Wechselkurs, weshalb sich ein Schwarzmarkt für Devisen entwickelte. Durch ständig steigende Staatsausgaben und Ineffizienz wuchs das Haushaltsdefizit stetig und erreichte 2015 rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Haushaltsloch musste die Regierung durch weitere Mittelabflüsse aus dem Staatsunternehmen PDVSA, durch das Aufbrauchen der Währungs- und Goldreserven und durch das Drucken der heimischen Währung Bolivares gegenfinanzieren. Dadurch erreicht die Inflation ständig neue Höhen. Die Nachfrage nach Devisen kann die Regierung mit den US-Dollars aus den Erdöleinnahmen längst nicht mehr decken. Der Schwarzmarktpreis für den US-Dollar erreichte 2016 das über Hundertfache des festgelegten Wechselkurses. Die Produktionskosten in Venezuela steigen daher seit Jahren kontinuierlich, u.a. auch, da Vorprodukte teuer eingeführt werden müssen, während die Preisdeckelung der Produkte durch die Regierung kaum Schritt hält. Tausende privater und staatlicher Unternehmen können unter den derzeitigen Bedingungen kaum mehr Gewinn erwirtschaften. Betriebsschließungen und Arbeitsplatzvernichtung sind die Folge und verschärfen die Abhängigkeit des Landes von Importen, die die Regierung nicht mehr finanzieren kann. Das Erlahmen der heimischen Produktion trägt zusätzlich zur Inflation bei und vergrößert die Schere zwischen dem offiziellen Kurs und dem Schwarzmarktwechselkurs des US-Dollar. Für 2016 prognostiziert der Internationale Währungsfonds für Venezuela eine Inflationsrate von 500 Prozent, 2017 soll sie gar bei 1.700 Prozent liegen.
Maduro als Verwalter eines kranken Systems
Noch bevor Hugo Chávez 2013 starb, erkor er Nícolas Maduro zu seinem Nachfolger. Dieser wurde im April 2013 mit zweifelhaftem Ergebnis zum Staatspräsidenten gewählt und führt seitdem die Amtsgeschäfte weiter, ohne wirkliche Reformen durchzuführen.
Die Mehrheit der Bevölkerung kann sich heute nur noch Waren leisten, die vom Staat zum festgesetzten Wechselkurs importiert oder produziert und in den staatlichen Geschäften angeboten werden. In der Hoffnung, knappe, preisregulierte und erschwingliche Waren zu ergattern, bilden sich vor vielen Supermärkten täglich enorme Warteschlangen. Millionen von Venezolanern leben vom Kauf und Weiterverkauf dieser Waren und verdienen damit mehr als mit ihrer regulären Arbeit, da die Löhne durch die Inflation aufgezehrt werden. Der Regierung kommt diese systembedingt geschaffene Abhängigkeit nicht ungelegen, da sie auch der sozialen Kontrolle dient. Allerdings hat in den vergangenen Monaten die Unterversorgung der Bevölkerung – vor allem mit Nahrungsmitteln und Medikamenten – ein derartiges Ausmaß erreicht, dass es immer häufiger zu Plünderungen von Geschäften kommt. Um eine vierköpfige Familie zu ernähren, war 2013 noch der Gegenwert von 4,7 Mindestlöhnen notwendig, 2016 liegt diese Rate bei rund 17 Mindestlöhnen.
Wirtschaftlich steht Venezuela vor dem Ruin. Ökonomen warnen bereits vor den gravierenden Folgen, die auf das Land im Fall einer Zahlungsunfähigkeit zukommen. Schon jetzt schlagen die Abgeordneten der Opposition Alarm: Die meisten Medikamentenimporte können nicht mehr finanziert werden, da es an Devisen fehlt. Jeden Tag häufen sich die Nachrichten von sterbenden Menschen in den Krankenhäusern und zunehmendem Hunger in den Armenvierteln. Eine humanitäre Katastrophe droht, die die Regierung jedoch vehement leugnet. Realitätsverlust und ideologische Verbohrtheit führen sogar soweit, dass dem katholischen Hilfswerk Caritas untersagt wurde, Hilfslieferungen aus dem Ausland nach Venezuela einzuführen.
Düstere Aussichten
Mit den gewonnenen Parlamentswahlen vom Dezember 2015 wähnte sich die demokratische Opposition, die sich im „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) zusammenschloss, einen Schritt näher an der Ablösung von Nícolas Maduro. Anstatt den haushohen Sieg der MUD als Zeichen der Zeit zu erkennen, wählte der reformresistente Präsident den Weg noch stärkerer politischer Repression. Das Parlament wurde de facto entmachtet, indem jede Entscheidung von dem von der Regierung kontrollierten Obersten Gerichtshof für nichtig erklärt wurde. Insgesamt verabschiedete das neue Parlament in der ersten Jahreshälfte 2016 sogar mehr Gesetzesvorschläge als das vorige Parlament in der gesamten Legislaturperiode. Unter Missachtung der Verfassung wurden die Gesetzesnovellen jedoch nicht nur kassiert, sondern zusätzliche Verordnungen von Präsident Maduro erlassen, mittels derer er sich selbst uneingeschränkte Rechte einräumt, wobei er sich zynischerweise auf die Verfassung selbst beruft. Während Chávez sich zumindest noch demokratisch legitimieren konnte, macht Maduro nun von dem dem Chavismus inhärenten Machtpragmatismus Gebrauch, um sich abzusichern und politisch zu überleben.
Von der gravierenden Situation in Venezuela alarmiert, versuchte der Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, die Demokratie-Charta der OAS zu aktivieren. Diese hätte ein kollektives Vorgehen gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, die schrittweise Abschaffung der Demokratie und die katastrophale humanitäre Situation ermöglicht. In seinem 130-seitigen Begründungsschreiben an den Präsidenten des Ständigen Rates der OAS beschreibt Almagro detailliert die dramatische Situation in Venezuela und wirft der Regierung vor, individuelle über kollektive Interessen zu stellen. Er ruft die amerikanischen Staaten dringend zu einem gemeinsamen Handeln gegenüber der Regierung in Caracas auf. Die außenpolitische Absicherung Venezuelas, die Uneinigkeit im Hinblick auf die Bewertung des Ausmaßes der Krise sowie die Ansicht, dass Konfrontation und Sanktionierung nicht immer erfolgreich sind, führten dazu, dass die OAS die Demokratie-Charta gegenüber Venezuela nicht aktivierte, sondern in einer um Ausgleich bemühten Erklärung zu einem Dialog aufrief. Präsident Maduro und Außenministerin Delcy Rodriguez feierten die Erklärung erwartungsgemäß als diplomatischen Sieg.
Die Opposition, ihrer politischen Handlungsoptionen im Parlament beraubt, initiierte im April 2016 ein Abberufungsreferendum. Die Verfassung sieht vor, dass sich in allen Bundesstaaten mindestens ein Prozent aller im Wählerregister eingeschriebenen Wähler auf Unterschriftenlisten für die Aktivierung des Abberufungsreferendums aussprechen muss. Nach nur einem Tag wurde diese Hürde genommen. In einem zweiten Schritt wurden die Unterschriften von einem Teil der Wähler persönlich in den regionalen Zentren des Nationalen Wahlrates (Consejo Nacional Electoral, CNE) validiert. Die Unterschriften des Großteiles der Wähler wurden ohne Angaben von Gründen nicht zur Validierung zugelassen. Der dritte Schritt sieht nun einen landesweiten Abstimmungsprozess vor, bei dem sich mindestens 20 Prozent der Stimmberechtigten, etwa vier Millionen Wähler, für ein Abberufungsreferendum aussprechen müssen. Das eigentliche Abberufungsreferendum folgt in einem vierten Schritt, bei dem sich mehr Venezolaner für die Abwahl von Maduro aussprechen müssen als dieser Stimmen bei der vergangenen Wahl erhalten hat – rund 7,6 Millionen Wähler. Sollte das Referendum nicht vor dem 10. Januar 2017 abgehalten werden, würde es im Fall eines Rücktritts oder einer Abwahl Maduros nicht zu Neuwahlen kommen, sondern der Vizepräsident würde die letzten zwei Jahre der Legislaturperiode als Präsident beenden. Es ist mehr als offensichtlich, dass dies die Taktik Maduros ist, der unverhohlen bereits in einer Fernsehansprache ankündigte, dass es dieses Jahr kein Referendum geben werde. Angesichts der unlauteren Praktiken des Regierungslagers ist es gut möglich, dass eine Volksabstimmung über den Verbleib des Präsidenten bis in das nächste Jahr hinein verschoben wird, obwohl es hierfür keinen administrativen oder technischen Grund gibt und dadurch die Verfassungsregeln missachtet werden würden.
Parallel zum Abberufungsreferendum wurden verschiedene Dialogversuche auf internationaler Ebene initiiert. Einerseits bemüht sich der Vatikan schon seit geraumer Zeit, hinter den Kulissen zwischen der Regierung und der Opposition zu vermitteln, andererseits gibt es eine Initiative der UNASUR, die von den sozialdemokratischen Ex-Staatschefs Zapatero, Torrijos und Fernandez angeführt wird. Die Opposition verschließt sich einem Dialog nicht, befürchtet aber, dass die Regierung gar keinen echten Dialog führen, sondern lediglich Zeit gewinnen will, um das Abberufungsreferendum bis in das nächste Jahr aufschieben zu können. Mit Blick auf den letzten Dialogversuch zwischen Opposition und Regierung nach den Unruhen von 2014 ist dieser Verdacht nicht unbegründet. Über soziale Netzwerke machte sich die chavistische Führung bereits damals über die Opposition öffentlich lustig, während man zeitgleich einen „Dialog“ führte. Die jahrelange Erniedrigung, politische Verfolgung, Gewaltanwendung und psychische Zermürbung – noch heute sitzen etliche Oppositionspolitiker ohne Grund oder nach Schauprozessen im Gefängnis – haben bei der MUD Spuren hinterlassen und riefen großes Misstrauen hervor. Die Erfolgsaussichten für einen Dialog dürften daher sehr gering sein.
Da die Regierungsclique und die obersten Militärs im Falle eines Machtwechsels vor allem wegen der Veruntreuung von Steuermitteln und illegaler Selbstbereicherung juristische Verfolgung zu befürchten haben, müssen sie sich zwangsläufig an die Macht klammern, um ihre Pfründe zu wahren. Weder die Durchführung eines Abberufungsreferendums noch ein ernsthafter Dialog sind für sie primäre Handlungsoptionen. Sollte der internationale Druck weiterhin verhältnismäßig gering bleiben, wird die Regierung keine Notwendigkeit verspüren, ernsthaft in Verhandlungen zu treten. Viel eher scheint die chavistische Führung geneigt, Maduro im kommenden Jahr vorzeitig aus dem Amt zu verabschieden und einen Präsidenten einzusetzen, der ihr nicht gefährlich werden kann. Doch auch dieses Kalkül ist nicht ohne Risiko: Die notleidende Bevölkerung ist auf schnelle Hilfe und grundlegende Reformen angewiesen, da sie sonst der Hunger auf die Straße treiben wird. Während die Politik keine Eile hat, läuft dem Land die Zeit davon.
Henning Suhr ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Venezuela.
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