Ausgabe: 4/2021
Nigeria, mit über 200 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas, hat eine sehr junge Bevölkerung. Mehr als 60 Prozent der Menschen sind unter 24 Jahre alt. Das Durchschnittsalter beträgt 18,1 Jahre. Junge Menschen bilden somit die Mehrheit in Nigeria, einem Land, das seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1960 viele Militärdiktaturen erlebte und erst seit 1999 ununterbrochen demokratisch verfasst ist. Die Geschichte eines unabhängigen Nigeria brachte eine Reihe an jungen Diktatoren hervor. General Yakubu Gowon war 31 Jahre alt, als er im Jahre 1966 Staatschef wurde. Spätere Militärherrscher wie Murtala Muhammed und Olusegun Obasanjo hatten bei der Machtübernahme das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht.
Heute, im demokratisch verfassten Nigeria, sucht man vergeblich nach jungen Menschen, die die Geschicke ihres Landes politisch mitgestalten. Nigeria wird seit fast zwei Dekaden von einer Politikerkaste regiert, die sich vor allem durch Elitenkontinuität auszeichnet. Muhammadu Buhari, der 78-jährige ehemalige General und gegenwärtige Präsident des Landes, steht exemplarisch für diese Elitenkontinuität. Er hatte bereits von 1983 bis 1985 die Regierungsgeschäfte als Juntachef inne. In seinem 44-köpfigen Kabinett, das im März 2021 ein Durchschnittsalter von 61 Jahren aufwies, sitzen viele Minister, die bereits in früheren Legislaturperioden oder unter Militärdiktator Sani Abacha in den 1990er Jahren hohe politische Ämter bekleideten. Doch auch im Parlament ist es nicht besser um die Repräsentation der nigerianischen Jugend bestellt. Das Durchschnittsalter im Repräsentantenhaus lag bei Vereidigung der Abgeordneten im Jahre 2019 bei 55,7 Jahren. Und der Senat, zu dem keine Daten vorliegen, aber in dem traditionell viele Ex-Gouverneure und Ex-Minister sitzen, wird im Volksmund gerne als Altersversorgung für in die Jahre gekommene Eliten verspottet.
Junge Menschen werden gesetzlich von politischen Ämtern ausgeschlossen
Wahlberechtigt sind in Nigeria Personen ab einem Alter von 18 Jahren. Junge Menschen in Nigeria sind auch nicht unpolitisch. Es gibt viele, die politisch interessiert sind und mitgestalten sowie mitentscheiden wollen. Die meisten scheitern aber bereits an den gesetzlichen Hürden. Denn die Verfassung, die sich das Land im Jahre 1999 gab, sieht Altersuntergrenzen für Kandidaten vor, die sich für die höchsten politischen Ämter zur Wahl stellen möchten. Das Mindestalter, um bei den Gouverneurs- oder Senatswahlen anzutreten, liegt bei 35 Jahren. Für die Wahl zum Repräsentantenhaus oder für eines der 36 Landesparlamente galt bis vor zwei Jahren ein Mindestalter von 30 Jahren und für die Kandidatur zur Präsidentschaftswahl und damit für die Leitung der Regierungsgeschäfte eine Altersuntergrenze von 40 Jahren.
Nur unter großem zivilgesellschaftlichem Druck und aufgrund einer zweijährigen Kampagne, die sich den Namen „Not Too Young To Run“ gegeben hatte, konnten Jugendorganisationen die Nationalversammlung und den Präsidenten 2018 zu einer Verfassungsreform bewegen. Diese trat noch vor den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahre 2019 in Kraft. Heute gilt: Wer mindestens 25 Jahre alt ist, kann für einen Sitz im Repräsentantenhaus und in einem Landesparlament kandidieren. Das Mindestalter für eine Präsidentschaftskandidatur wurde von 40 auf 35 Jahre reduziert. Für die Wahlen zum Senat und für Gouverneurswahlen wurde das Mindestalter jedoch nicht geändert.
In der Wissenschaft heißt es, dass das Herabsetzen von Altersuntergrenzen für politische Ämter eine positive Wirkung auf das politische Engagement junger Menschen entfalten könne. Mona Krook und Mary Nugent halten zum Beispiel fest: „Niedrigere Altersgrenzen haben unmittelbare und längerfristige ,Mobilisierungseffekte‘, indem sie das Kalkül potenzieller Kandidaten in Bezug auf das Alter bei ihrer ersten Kandidatur für ein Amt verändern.“ Einschlägige Analysen der letzten nigerianischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl bestätigen diese Annahme. So waren 14 Prozent der Präsidentschaftskandidaten zwischen 35 und 40 Jahre alt. Auch bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus und zu den Landesparlamenten ist der Anteil junger Menschen unter den Kandidaten signifikant gestiegen.
Letztlich blieben aber bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen des Jahres 2019 die Erfolge junger Kandidaten weitgehend aus. So konnte zum Beispiel kein Kandidat unter 30 Jahren einen Sitz im Repräsentantenhaus erringen. Nur 13 Abgeordnete waren außerdem bei Amtsantritt im Alter zwischen 30 und 35 Jahren. Bei 360 zu vergebenden Sitzen beträgt ihr Anteil nur 3,7 Prozent. Auf Landesebene konnten immerhin 22 Kandidaten im Alter zwischen 25 und 30 Jahren in ein Parlament einziehen. Das macht allerdings nur 2,2 Prozent der landesweit 991 zu vergebenden Sitze aus. Weitere 68 Abgeordnete auf Landesebene und damit 6,7 Prozent aller Abgeordneten waren beim Amtsantritt zwischen 31 und 35 Jahre alt.
Kulturelle Hürden des Politikbetriebs
Die gesetzlichen Hürden, mit denen junge Menschen in Nigeria von politischen Ämtern ausgeschlossen werden, sind zunächst ein Ausdruck des Senioritätsprinzips, das über alle Ethnien des Landes hinweg und religionsübergreifend noch immer tief verwurzelt ist. Diesem Prinzip zufolge wird nur älteren Menschen zugetraut, über den nötigen Grad an Wissen und Erfahrung zu verfügen, der einen dazu befähigt, politische Entscheidungen von Tragweite zu treffen. Jungen Menschen unterstellt man hingegen, dass sie zu unreif und zu unerfahren seien, um sich verantwortungsvoll in politische Entscheidungsprozesse einzubringen. Die Durchsetzung des Senioritätsprinzips geht in Nigeria weit über diese Klischees hinaus. Bereits in der Familie, dann in der Schule und später in der Universität werden junge Menschen dazu erzogen, die Tradition der Gerontokratie zu akzeptieren. Sie lernen, dass erst mit höherem Alter ein Macht- und Herrschaftsanspruch einhergeht und dass man sich Älteren deshalb unterzuordnen habe.
Diese Auffassung von sozialer Hierarchie setzt sich im Berufsleben fort. Hier gilt, dass Ältere unter Gleichen bei Beförderungen zuerst zum Zuge kommen sollen und dort, wo gegen dieses Prinzip verstoßen wird, Ältere in den Ruhestand gehen oder versetzt werden sollen. Der Grund für Letzteres ist die Auffassung, dass Ältere nicht bereit seien, sich Jüngeren unterzuordnen. Ihr Ausscheiden oder eine Versetzung sei notwendig, um Konflikte zu vermeiden. Ein Fall, der in Nigeria diesbezüglich erst kürzlich für besondere Aufmerksamkeit sorgte, war die Ernennung von General Farouk Yahaya zum Generalinspektor der Armee (Chief of Army Staff). Der 55-jährige Yahaya wurde im Mai 2021 überraschend vom Präsidenten zum Nachfolger des kurz zuvor verstorbenen Generals Ibrahim Attahiru ernannt. Bereits am Tag nach seiner Ernennung spekulierte die nigerianische Presse über die Zahl an Generälen gleichen oder höheren Rangs, die aufgrund ihres Alters in den Ruhestand gehen müssten. Schließlich sei dies Tradition bei den Streitkräften. Inzwischen ist klar, dass mindestens 29 Generäle den Dienst quittieren sollen.
Machtsicherung durch Machtausschluss
In Nigeria ist der verfassungsrechtliche Ausschluss junger Menschen von den höchsten politischen Ämtern vor einem zweiten Hintergrund zu bewerten: Der demokratische Transitionsprozess in den Jahren 1998 und 1999 wurde zu Teilen auch von einer bürgerlichen Elite verantwortet, der politische Ämter für lange Zeit verwehrt waren und die seit der Demokratisierung des Landes im Jahre 1999 wenig Bereitschaft zeigt, Macht zu teilen.
Ihr Emporkommen wurde zunächst von den Militärdiktatoren Muhammadu Buhari in den Jahren 1983 bis 1985 und Ibrahim Babangida in den Jahren 1985 bis 1993 verhindert. Als tragisches Ereignis hat sich im Gedächtnis dieser Elite sodann die gescheiterte Präsidentschaftswahl im Jahre 1993 festgesetzt. Mit dieser Wahl sollte nach zehn Jahren Militärherrschaft eine neue demokratische Ära begründet werden. Die bürgerliche Elite scharrte sich um Moshood Abiola, den Präsidentschaftskandidaten der Sozialdemokraten. Er gewann die Wahl, doch diese wurde vom Militär annulliert. Noch im gleichen Jahr konnte General Sani Abacha die Macht ergreifen und einen Polizeistaat errichten. Erst als Abacha im Jahre 1998 unerwartet verstarb, sah die bürgerliche Elite, die bei den Wahlen im Jahre 1993 nicht zum Zuge gekommen war, eine neue Chance, im Wege demokratischer Wahlen an die Macht zu kommen. Diese Elite verantwortete auch die verfassungsrechtlich hohen Altersuntergrenzen für politische Ämter, die vor allem dazu dienten, ihren Herrschaftsanspruch nicht nur bei den ersten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahre 1999, sondern auf zwei Jahrzehnte hinweg gegen aufstrebende, jüngere Konkurrenz abzusichern.
Zu diesem Umstand passt, dass die zwei großen Parteien Nigerias bis heute keine ernsthaften Bemühungen zeigen, selbstorganisierte und meinungsstarke parteinahe Jugendvereinigungen hervorzubringen, die auch eine Plattform für den politischen Nachwuchs sein könnten. Die erste Regierungspartei, die Peoples Democratic Party (PDP), die sich von 1999 bis 2015 ununterbrochen an der Macht halten konnte und die seit 2015 mit Abstand die größte Opposition in der Nationalversammlung stellt, rekrutierte ihre Funktionselite aus dem bürgerlichen Lager, dem die Machtergreifung auf demokratischem Wege im Jahre 1993 verwehrt wurde. Es lag nicht im Interesse dieser Elite, die Macht mit jüngeren Generationen zu teilen bzw. innerparteilichen Wettbewerb um Positionen und Ämter auf Jüngere auszuweiten.
Die gegenwärtige Regierungspartei, der All Progressive Congress (APC), ging wiederum im Jahre 2013 aus einem Bündnis von Oppositionsparteien hervor, die sich bis zu den Wahlen im Jahre 2015 nicht gegen die PDP durchsetzen konnten. Auch ihre Funktionselite entstammt dem gleichen bürgerlichen Lager, das bei der annullierten Wahl im Jahre 1993 das Nachsehen hatte. Außerdem profitierte sie personell von einer Großzahl an Übertritten von Politikern, die in der PDP über viele Jahre hinweg nicht zum Zuge gekommen waren.
Finanzielle Hürden der politischen Teilhabe
Übertritte von einer Partei zur anderen sind typisch für den nigerianischen Politikbetrieb. Diese Übertritte finden in der Regel im Vorfeld von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen und vor dem Hintergrund statt, dass Parteien in Nigeria ideologisch kaum voneinander zu unterscheiden sind. Parteien werden als „Plattformen“ bezeichnet, mit denen man ein politisches Amt erringen möchte. Parteiprogramme haben dagegen nur eine geringe Bedeutung und sind nicht der Grund, weshalb sich jemand entscheidet, einer Partei beizutreten oder diese zugunsten einer anderen zu verlassen. Es geht in der Regel um einen persönlichen Vorteil, der sich aus der Mitgliedschaft in einer Partei ergeben kann. Dies hat wiederum viel mit dem Verständnis von Staat und Politik in Nigeria zu tun: Viele Nigerianer teilen die Auffassung, dass ein politisches Mandat der schnellste Weg zum Reichtum sei. Damit sind weniger die in Nigeria dem Vernehmen nach vergleichsweise üppigen Gehälter gemeint, die mit Minister- und Gouverneursposten oder Abgeordnetensitzen einhergehen sollen, sondern vor allem die Möglichkeit, sich an staatlichen Geldern zu bereichern. Das Land leidet seit Jahrzehnten unter einer endemischen Korruption, die auch deshalb so lukrativ ist, weil Nigeria zu den größten Erdölexporteuren der Welt gehört und sich große Teile des Staatshaushalts aus den Erdöleinnahmen finanzieren. In der Rangliste der korruptesten Länder der Welt, die von Transparency International herausgegeben wird, rangiert Nigeria deshalb schon lange im letzten (korruptesten) Drittel. Für das Jahr 2020 belegte es gemeinsam mit Ländern wie Iran oder Kamerun Rang 149 von 180.
Die monetären Anreize, die mit einem politischen Amt einhergehen, haben zweierlei zur Folge: Erstens spielen Klientelismus, Nepotismus, Seilschaften und Abhängigkeitsverhältnisse eine entscheidende Rolle bei der Nominierung von Kandidaten für politische Ämter. Oft wird eine Entscheidung über eine Nominierung im Hintergrund von Parteigranden getroffen, die über viel Geld verfügen und einen Kandidaten protegieren können. Das ist insofern hilfreich, als Nominierungen oft erkauft werden müssen, indem Parteidelegierte bestochen werden. Zweitens werden vor dem Hintergrund eines relativen Mehrheitswahlrechts Wahlkämpfe unerbittlich geführt und Wahlen häufig durch Wahlbetrug in Form von Stimmenkauf entschieden. Das entscheidende Prinzip heißt hier: The winner takes it all. Der Gewinner einer Wahl ist sodann häufig derjenige, der das meiste Geld aufbringen kann.
Geld entscheidet also letztlich über die politische Teilhabe Einzelner in einem Land, dessen überwiegend junge Bevölkerung zu den ärmsten der Welt zählt. Ende 2020 sollen 51 Prozent der Menschen in Nigeria in extremer Armut gelebt haben. Hohe Arbeitslosigkeit und das Abrutschen in den informellen Sektor haben für viele Menschen zur Folge, dass sie von der Hand in den Mund leben. Nur wenige sind wiederum sozioökonomisch so privilegiert, dass sie sich das Wettbieten mit anderen um ein politisches Amt leisten können.
Große Hoffnung, große Enttäuschung
Die Euphorie war vor allem unter jungen Menschen in Nigeria groß, als Muhammadu Buhari 2015 zum Präsidenten gewählt wurde. Trotz seines damals schon hohen Alters verbanden mit ihm viele die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Buhari galt als integer, soll er sich doch als Juntachef in den 1980ern nicht an den Staatskassen bereichert haben. Und Buhari und seine Partei, die APC, versprachen Veränderungen nach 16 Jahren PDP-Herrschaft: Die Terrormiliz Boko Haram sollte in nur wenigen Monaten besiegt werden. Die schwächelnde Wirtschaft sollte sich binnen kurzer Zeit erholen und vor allem jungen Menschen eine Perspektive geben. Buhari kündigte zudem an, konsequent gegen die endemische Korruption auch unter politischen Eliten vorzugehen. Vor allem deshalb schaffte er im Jahre 2015 mit der APC etwas, das noch nie in Nigeria und nur selten andernorts in Subsahara-Afrika gelungen war: einen demokratisch legitimierten, friedlichen Machtwechsel von einer Partei zur anderen.
Als Buhari allerdings im Jahre 2019 zur Wiederwahl antrat, war von der einstigen Euphorie nicht mehr viel übrig. Die Lebensverhältnisse im Land hatten sich nicht gebessert, sondern verschlechtert. Inzwischen lebten 48 Prozent der Menschen in extremer Armut. Die Arbeitslosigkeit und Minderbeschäftigung hatte mit 42 Prozent einen neuen Spitzenwert erreicht. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung verfügte außerdem noch immer nicht über einen Anschluss an das Stromnetz. Die Straßen des Landes blieben marode. Die Korruption unter der politischen Elite hatte nicht spürbar abgenommen. Boko Haram war nicht besiegt und steigende Gewaltkriminalität breitete sich im gesamten Land aus.
Unter Buhari hatten sich vor allem die Perspektiven junger Menschen deutlich verschlechtert. Im letzten Global Youth Development Index and Report, der 2020 erschien und Untersuchungsergebnisse der Jahre 2016 und 2019 miteinander vergleicht, belegte Nigeria Rang 161 von 181 untersuchten Ländern. Damit ist das Land in nur drei Jahren um 20 Plätze abgerutscht. Die Studie stellte dem nationalen Bildungswesen ein besonders schlechtes Zeugnis aus. Nur etwa 60 Prozent der Menschen unter 25 Jahren sollen über ein Mindestmaß an Alphabetisierung verfügen. Etwa 30 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren besuchen weder eine Schule noch haben sie einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeit.
Dass Buhari und die APC die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahre 2019 dennoch gewinnen konnten, lag womöglich weniger an einem kolportierten Wahlbetrug, sondern an dem Spitzenkandidaten der PDP für das Präsidentenamt. Die größte Oppositionspartei hatte den 72-jährigen Atiku Abubakar nominiert, einen ehemaligen hohen Zollbeamten, der mit Geschäften im Logistik- und Ölsektor reich geworden war und das Land bereits von 1999 bis 2007 als Vizepräsident mitregiert hatte. Im Wahlkampf machten Atiku jedoch alte Korruptionsvorwürfe zu schaffen. Er soll sich als Vizepräsident bei der Privatisierung von Staatsbetrieben bereichert haben. Die überwiegend junge Wählerschaft stand somit vor einem Dilemma: Sie konnte ihre Stimme entweder einem alten Mann geben, der sie vier Jahre lang enttäuscht hatte, oder seinem ebenso in die Jahre gekommenen Gegenkandidaten, der sich der Korruptionsvorwürfe nicht entledigen konnte. Eigentlich hätte das Land schon bei dieser Präsidentschaftswahl einen neuen, unverbrauchten Kandidaten gebraucht – jemanden, der glaubwürdig für ein zukunftsorientiertes Nigeria gestanden hätte. Doch die althergebrachten Eliten der zwei größten Parteien des Landes hielten weiter an ihrer Macht fest.
Alternative Formen politischer Teilhabe
Junge Menschen in Nigeria sind letztlich gezwungen, auf situative, themenbezogene politische Aktivitäten auszuweichen. Diese Aktivitäten sind häufig protestorientiert und finden überwiegend in den Sozialen Medien statt. In den letzten zwei Dekaden ist es hingegen nur selten vorgekommen, dass sich junge Menschen auf den Straßen der Städte zu Demonstrationen zusammenfanden. Eine dieser wenigen Ausnahmen stellten die sogenannten EndSARS-Proteste im Oktober 2020 dar. Überwiegend im christlichen Süden des Landes, in der Millionenmetropole Lagos und der Hauptstadt Abuja protestierten tausende junge Menschen über drei Wochen hinweg friedlich gegen Polizeigewalt.
Anstoß der Proteste war ein virales Video. Es legte nahe, dass Polizeikräfte der berüchtigten Special Anti-Robbery Squad einen jungen Nigerianer auf offener Straße zu Tode prügeln und sein Auto entwenden. Der Einheit, kurz SARS genannt, wurden seit Jahren schwere Vergehen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Ihre Mitglieder sollen sich der Entführung, Erpressung und Folter sowie des Raubs und Mords schuldig gemacht haben. Amnesty International hatte nur wenige Monate vor den Protesten einen Bericht dazu veröffentlicht. Dieser dokumentiert mindestens 82 Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen, die die Spezialeinheit in einem Zeitraum von drei Jahren begangen haben soll. Die meisten Opfer sollen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren gewesen sein.
Politisch Verantwortliche kannten seit vielen Jahren die Vorwürfe gegen die Spezialeinheit, doch sie blieben tatenlos. Nun trug die Jugend ihren Protest unter dem Hashtag #EndSARS mit einer Wucht und Hartnäckigkeit auf die Straße, welche die Regierung überraschten. Selbst als der Präsident dem Druck nachgab und die Auflösung der Spezialeinheit anordnete, gingen die Proteste weiter. Die Jugend demonstrierte nicht mehr nur gegen Polizeigewalt, sondern nun auch gegen die schlechte Regierungsführung, die Korruption, den Klientelismus und den Nepotismus unter politischen Eliten.
Es dauerte nicht lange, bis sich Bilder von friedlichen Demonstranten mit Bildern von brennenden Polizeistationen und Gruppen von jungen Männern abwechselten, die mit Stöcken und Macheten bewaffnet durch die Straßen zogen. Schnell kam in den Sozialen Medien der Vorwurf auf, dass der Geheimdienst die Gewalt im Hintergrund organisiere, um den Sicherheitskräften einen Grund zu liefern, gewaltsam gegen die friedliche EndSARS-Bewegung vorzugehen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober fanden dann die Proteste ihr jähes Ende. Armeeangehörige und Polizeikräfte schossen in Lagos mit scharfer Munition auf friedliche Demonstranten. Laut Amnesty International sollen dabei zwölf Menschen getötet und viele verletzt worden sein. Eine unabhängige Untersuchungskommission, die von der Regierung des Stadtstaates Lagos eingesetzt wurde, kam im November 2021 zum Ergebnis, dass sich Armee und Polizei eines Massakers schuldig gemacht hätten.
Machterhalt durch repressive Maßnahmen
Der Vorfall in Lagos muss als repressiver Eingriff in die Rechte junger Menschen gewertet werden, mit dem die herrschende Elite des Landes ihren Machtanspruch behaupten wollte. Die Botschaft an die Jugend Nigerias lautete, sie solle sich nicht gegen die etablierten Herrschaftsstrukturen auflehnen. Diese Botschaft hat die Regierung in den Folgemonaten weiter untermauert. Sie ging gegen die überwiegend jungen, internetaffinen Unterstützer der friedlichen Proteste vor, indem sie Bankkonten sperrte und sie daran hinderte, das Land zu verlassen. Seit Juni 2021 ist außerdem der Kurznachrichtendienst Twitter in Nigeria gesperrt. Dieser war das Hauptmedium, mit dem die Jugend ihren Protest organisierte und über das sie internationalen Zuspruch erhielt. Der damalige Präsidentschaftskandidat und heutige US-Präsident Joe Biden, der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, internationale Popmusikgrößen, Fußballspieler europäischer Topclubs und nicht zuletzt Twitter-Gründer Jack Dorsey solidarisierten sich über den Kurznachrichtendienst mit der Protestbewegung. Schon damals kritisierten Regierungsangehörige die Rolle von Twitter scharf. Als Twitter im Juni 2021 eine Nachricht von Buhari löschte, in der dieser einem ethnischen Bevölkerungsteil mit Gewalt drohte, nahm die Regierung dies zum Anlass, den Dienst vom nationalen Netz zu nehmen. Anfang Oktober 2021 hat der Präsident in Aussicht gestellt, dass die Twitter-Sperre aufgehoben werden könne, wenn der Kurznachrichtendienst eine Reihe von Voraussetzungen erfülle und damit sicherstelle, dass er nationalen Nutzern nur für geschäftliche Zwecke und positive Aktivitäten zur Verfügung stehe.
Viele in Nigeria sehen mit der Sperre des Kurznachrichtendiensts die Meinungsfreiheit auch vor dem Hintergrund bedroht, dass Journalisten zunehmend von staatlichen Behörden an einer freien Berichterstattung gehindert werden. In der Rangliste von Reporter ohne Grenzen ist das Land seit der Machtübernahme Buharis um acht Plätze gefallen, es wird inzwischen auf Platz 120 von 180 geführt. Die Organisation beurteilt die Arbeitsbedingungen der Presse als besonders schlecht. Journalisten müssen Einschüchterung, Vorladungen, Verhaftung, Verhöre und Misshandlung befürchten, wenn sie kritisch über die Arbeit der Regierung berichten. Erschwerend kommt hinzu, dass seit Buharis Machtübernahme Gesetzesvorhaben in beiden Kammern der Nationalversammlung beraten werden, mit denen die Nutzung von Sozialen Medien weiter eingeschränkt oder zumindest staatlich kontrolliert werden soll. Eine im Dezember 2020 vom Staat eingeführte „National Identification Number“ gilt außerdem als Voraussetzung für den Abschluss eines privaten Mobilfunkvertrags. Experten und Journalisten sehen in dieser staatlich organisierten Registrierung ein Instrument der Regierung, mit dem in Zukunft die Informationsströme der Bevölkerung überwacht werden sollen.
Schlechte Perspektiven für junge Menschen in Nigeria
Spätestens seit dem gewaltsamen Ende der EndSARS-Proteste ist es mehr als offensichtlich geworden, dass die nigerianische Gesellschaft tief gespalten ist. Junge Menschen und damit die Mehrheit der Bevölkerung sehen sich einer in die Jahre gekommenen Funktionselite gegenüber, die für einen verkrusteten, von Korruption durchsetzten Politikbetrieb steht. Die moderne, global denkende und internetaffine Jugend in Lagos fühlt sich längst nicht mehr von dieser Politelite repräsentiert. Doch auch im Rest des Landes dürfte die Unzufriedenheit unter jungen Menschen angesichts der grassierenden Arbeits- und Perspektivlosigkeit groß sein. Das Africa Polling Institute veröffentlichte erst kürzlich eine Studie, der zufolge nur noch 26 Prozent der Bevölkerung Buharis Regierung das Vertrauen aussprechen.
Der gleichen Studie zufolge möchten inzwischen 73 Prozent der Befragten das Land verlassen, wenn sie die Chance dazu erhalten. Bereits vor der COVID-19-Pandemie galt die EU als eine attraktive Destination für nigerianische Migranten. Viele Jahre lang überwog die Zahl der in der EU gestellten Asylanträge aus Nigeria oft diejenige aus anderen afrikanischen Staaten. 25.000 waren es zum Beispiel im Jahre 2018. In Deutschland belegte Nigeria zudem oft einen Platz unter den Top-5-Herkunftsländern. Die Grenzschließungen auf beiden Kontinenten, die mit der Pandemie einhergingen, haben die Migrationsbewegung in Richtung Europa gebremst. Doch bei wiedereinsetzenden Grenzöffnungen dürften Migranten aus Nigeria schon bald wieder und dann wahrscheinlich in noch größerer Zahl den Einlass in die EU begehren.
Viele Nigerianer blicken nun eher mit gebremster Hoffnung auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahre 2023. Werden diese womöglich eine Regierung hervorbringen, die Aufbruchstimmung entfachen kann? Die Chancen dafür stehen schlecht. Längst haben unter den etablierten Funktionseliten in beiden großen Parteien die Diadochenkämpfe begonnen, aus denen die Kandidaten hervorgehen werden. Kleineren Parteien wird hingegen kein Erfolg bei den Wahlen zugetraut. Dazu werden ihnen die Ressourcen fehlen, die man in Nigeria braucht, um einen Wahlsieg zu erringen.
Es bleibt also die große Frage nach der mittel- bis langfristigen Perspektive für junge Menschen in Nigeria. Diese sieht nicht gut aus, denn ein baldiges Wirtschaftswachstum, das Arbeitsplätze schafft, ist nicht zu erwarten. Viel zu lang haben die Regierungen seit 1999 auf die beschäftigungsarme, aber lange Zeit lukrative Ölindustrie gesetzt und es verpasst, die Wirtschaft zu diversifizieren. Inzwischen schwächelt der internationale Erdölmarkt und die Einnahmen des nigerianischen Staates sind empfindlich gesunken. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bevölkerung des Landes aufgrund einer hohen Geburtenrate rasant wächst. Die VN haben bereits vor Jahren vorausgesagt, dass in Nigeria im Jahre 2050 über 400 Millionen Menschen leben werden. Dann soll das Land die USA überholt und hinter China und Indien die drittgrößte Bevölkerung weltweit haben. Um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten, müsste die Wirtschaft des Landes zweistellige Wachstumszahlen aufweisen.
Die EndSARS-Proteste haben möglicherweise vorweggenommen, auf was sich das Land einzustellen hat. Nach den Schüssen in Lagos herrschte landesweit der Ausnahmezustand. Große Ansammlungen von jungen Männern plünderten, zerstörten und bedrohten das Leben anderer. Die Polizei war überfordert und die Armee musste ausrücken. Dieses Gewalt- und Zerstörungspotenzial wird nicht abnehmen, sondern mit wachsender Armut und Bevölkerungsgröße steigen. Soziale Unruhen könnten dann bei entsprechenden Anlässen wellenartig in immer kürzeren Abständen ausbrechen. Eines haben aber die EndSARS-Proteste, die fast ausschließlich im christlichen Süden des Landes stattfanden, auch gezeigt. Es ist unwahrscheinlich, dass eine große, landesweite Jugendbewegung entsteht, die sich gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse auflehnt. Dafür ist die Jugend in Nigeria zu sehr ethnisch, religiös und sozial gespalten. Viele der etwa 250 Volksgruppen in Nigeria leben nicht in Frieden miteinander. Das Misstrauen zwischen Christen und Muslimen, die jeweils etwa 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen und das Land in Nord und Süd aufteilen, ist auf beiden Seiten eher hoch. Und die junge, internetaffine, gut gebildete Bevölkerungsschicht in Lagos, welche die friedlichen EndSARS-Proteste organisierte, ist eine kleine Minderheit unter jungen Menschen in Nigeria. Der weitaus größere Teil von ihnen ist weniger gut ausgebildet und lebt in Armut.
Dr. Vladimir Kreck ist Leiter des Auslandsbüros Nigeria der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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