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Sergio Moraes, Reuters

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Die „Generation Weder-Noch“ in der Sackgasse?

von Luiz Gustavo Carlos, Kevin Oswald

Auswirkungen von sozialer Ungleichheit und der Coronapandemie auf die brasilianische Jugend

In Brasilien hat die Pandemie alle Bereiche der Gesellschaft hart getroffen. Die gestiegene Arbeitslosigkeit, das wachsende Bildungsgefälle und das Fehlen adäquater staatlicher Maßnahmen haben das Land in eine heikle Situation gebracht, die das strukturelle Problem der Ungleichheit offenbart und insbesondere bei der jungen Generation für Frust und Zukunftsangst sorgt.

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Als geração nem-nem, das bedeutet „Generation Weder-Noch“, werden in Brasilien diejenigen jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren bezeichnet, die weder in den Arbeitsmarkt integriert sind noch eine Bildungseinrichtung wie Schule oder Universität besuchen. Der Prozentsatz junger Menschen in dieser Situation hat in den frühen 2010er-Jahren deutlich zugenommen und erreichte in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 einen Spitzenwert von nahezu 30 Prozent. Dies ist umso bedenklicher, da junge Erwachsene der entsprechenden Altersgruppe in Brasilien aktuell mit mehr als 50 Millionen Menschen fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung des größten lateinamerikanischen Landes ausmachen.

Obwohl diese Zahlen – wie auch in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern – vor allem im Zuge der verheerenden Coronakrise in der jüngsten Vergangenheit nochmals nach oben schnellten, steht fest, dass das beschriebene Phänomen in Brasilien generell und seit längerer Zeit mit spezifischen Faktoren wie den erschwerten Zugangsbedingungen zum Arbeitsmarkt und zu Bildung in Verbindung steht.

Brasilien hat kontinentale Ausmaße und beherbergt eine Bevölkerung von 213 Millionen Einwohnern, darüber hinaus verfügt das Land über einen beeindruckenden Rohstoffreichtum. Diese drei Aspekte waren in der Vergangenheit mitausschlaggebend für die ungleiche Wirtschaftsentwicklung des Landes. Mit der starken Ausrichtung auf den Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wurde die Entwicklung des ländlichen Raums gefördert und große Flächen wurden für die Agrarproduktion freigegeben, während die Industrieproduktion eher in den Hintergrund geriet und nur eine überschaubare Anzahl an technologisch komplexen Produkten hervorbrachte, wodurch sich die Einkommenskonzentration insgesamt noch verschärfte. Diese wirtschaftliche Grundausrichtung des Landes ist seit Jahrzehnten für einen Teil der strukturellen Ungleichheit verantwortlich, da sie das Einkommen auf eine verhältnismäßig kleine Elite konzentriert. Infolgedessen hat es der brasilianische Staat bisher nicht vermocht, das Einkommen gleichmäßiger auf die Bevölkerung zu verteilen, was zu einer Reihe von strukturellen Problemen führt, etwa beim Zugang zu Bildungschancen, Gesundheit, Wohnraum und sanitärer Grundversorgung.

Laut Daten des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP) von 2019 weist Brasilien nach dem Golfstaat Katar die weltweit zweitgrößte Einkommenskonzentration auf.

 

Abb. 1: Einkommenskonzentration beim reichsten Prozent der Bevölkerung in verschiedenen Ländern

https://www.kas.de/documents/259121/15800105/Ai.4-2021_carlos_oswald_abb_1_DE_EN.svg/a14df409-069b-6e28-ece0-8bde47aefeb1?t=1639648455850

Quelle: eigene Darstellung nach Sasse, Cíntia 2021: Recordista em desigualdade, país estuda alternativas para ajudar os mais pobres, Agência Senado, Senado Federal, 12.03.2021.

 

Abbildung 1 zeigt, dass das eine Prozent der Meistverdienenden mehr als ein Viertel des landesweiten Einkommens (28,3 Prozent) auf sich vereint. Wenn man statt des einkommensstärksten Prozents der Bevölkerung die einkommensstärksten zehn Prozent in den Blick nimmt, so erwirtschaftet dieser Anteil der Bevölkerung nach denselben Daten des UNDP 41,9 Prozent des Gesamteinkommens des Landes. Das heißt im Umkehrschluss, dass die übrigen 90 Prozent der brasilianischen Bevölkerung weniger als 60 Prozent des Gesamteinkommens in Form von Lohn erhalten – ein klares Zeichen für die Einkommenskonzentration und demnach die extreme sozioökonomische Ungleichheit im Land. Einen weiteren wichtigen Hinweis zur Gesellschaftsstruktur Brasiliens gibt auch der Gini-Index von 0,539, der auf der Grundlage einer geschätzten Datenbasis von 2018 ermittelt wurde. Dieser von der Weltbank entwickelte Index weist eine Schwankungsbreite zwischen 0 und 1 auf. Je näher er an 0 (vollkommene Gleichheit) liegt, desto weniger Ungleichheit gibt es im Land; je näher an 1 (vollkommene Ungleichheit), desto größer die Ungleichheit. Auf Grundlage dieses Indikators nimmt Brasilien ebenfalls einen Platz auf der Liste der zehn Länder mit der größten Ungleichheit in der Welt ein.

Die Proteste von 2013 waren Vorboten der Unruhe, auf die sich Politik und Wirtschaft Brasiliens zubewegten.

Zwischen 2003 und 2010 versuchte Brasilien die positive gesamtwirtschaftliche Situation, die aus dem sogenannten Rohstoffboom und damit verbundenen Rekordexporterlösen resultierte, im Sinne einer gesellschaftlichen Umverteilung zu nutzen. Es wurde in Sozialprogramme und öffentliche Sozialpolitik investiert, was zu einem deutlichen Anstieg des Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) führte. Insbesondere der Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem wurde verbessert und es wurden verschiedene Initiativen zur Verbesserung des Urbanisierungsprozesses gestartet. Gleichzeitig konnten sowohl eine Senkung der Kindersterblichkeit als auch eine höhere Lebenserwartung erreicht werden.

Diese positive Entwicklung begann sich ab 2013 umzukehren, als Brasilien von einer Reihe politischer Proteste und Massendemonstrationen erschüttert wurde, die im Rückblick als Vorboten dafür betrachtet werden können, dass sich Wirtschaft und Politik auf ein unruhiges Szenario zubewegten. Ein weiteres wichtiges Element, das sich 2014 auf die politisch-wirtschaftliche Landschaft auswirkte, war die Operation Lava-Jato, die – teils auf widersprüchliche und juristisch fragwürdige Art und Weise – Korruptionsfälle aufdeckte, an denen eine Vielzahl prominenter Politiker und Geschäftsleute beteiligt war. Diese politischen Erschütterungen hielten bis zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 an und lösten eine tiefe institutionelle Krise aus, die sich über fast alle Bereiche der Gesellschaft erstreckte. Zudem nahm die Investitionssicherheit in Brasilien immer mehr ab, die schwelende wirtschaftliche und politische Krise vertiefte sich und es kam zu einer erheblichen Spaltung und Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Das brasilianische Bruttoinlandsprodukt (BIP) spiegelt die beschriebene politisch-ökonomische Entwicklung. Im Jahr 2013 konnte das Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) noch einen deutlichen Anstieg gegenüber dem Vorjahr beobachten, der sich jedoch in den folgenden Jahren nicht weiter fortsetzte. In den Jahren 2015 und 2016 schrumpfte die brasilianische Wirtschaft um jeweils mehr als drei Prozent. Wichtig ist auch der Wert für 2020, der die eingangs erwähnten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in Brasilien veranschaulicht.

 

Einkommensungleichheit und Bildungsgefälle als strukturelle Probleme für die brasilianische Jugend

Die oben erwähnte Zeit politischer Erschütterungen wirkte sich unmittelbar auf das gesamte brasilianische Gesellschaftsgefüge aus, wobei Jugendliche und junge Erwachsene die meisten Rückschläge hinnehmen mussten. Junge Menschen sind besonders von Arbeitslosigkeit betroffen und mussten im Zuge der Wirtschaftskrise vier Mal so hohe Einkommenseinbußen hinnehmen wie der Durchschnitt der anderen Bevölkerungsgruppen. Laut einer Studie des Zentrums für Sozialpolitik der Fundação Getulio Vargas (FGV Social), in der die soziale Ungleichheit der individuellen Arbeitseinkommen auf der Grundlage des Gini-Index untersucht wird, ist von 2014 bis zum zweiten Halbjahr 2019 ein Aufwärtstrend des Index zu beobachten, der auf eine progressive Zunahme der Ungleichheit hindeutet. Die Einkommensungleichheit unter jungen Menschen im Alter von 15 bis 29 Jahren war 2019 um 41,2 Prozent höher als in der Gesamtbevölkerung, was die Notwendigkeit besonderer politischer Maßnahmen für diese Gruppe unterstreicht.

 

Abb. 2: Jährliche Veränderung des brasilianischen ­­BIP in Prozent

https://www.kas.de/documents/259121/15800105/Ai.4-2021_carlos_oswald_abb_2_DE_EN-01.svg/01364abb-eb0e-b3e2-6823-ebea916c3400?t=1639391418647

Quelle: eigene Darstellung nach ­­IBGE 2021: Contas Nacionais Trimestrais. 4° Trimestre de 2020. Coordenação de Contas Nacionais, 03.03.2021, S. 17.

 

Der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung in Brasilien ist heute weitgehend denjenigen vorbehalten, die über ausreichend finanzielle Ressourcen verfügen, um entweder für eine Privatuniversität zu bezahlen oder bestmögliche Voraussetzungen bereitzustellen, um den Sprung auf eine der renommierten öffentlichen Universitäten zu schaffen. In Brasilien gibt es – selbst im internationalen Vergleich – eine große Zahl öffentlich zugänglicher schulischer Bildungseinrichtungen, die Kindern und Jugendlichen eine umfassende und kostenfreie Bildung ermöglichen. Problematisch ist jedoch die Tatsache, dass diese im Vergleich zu privaten und somit meist kostenpflichtigen Bildungseinrichtungen als qualitativ signifikant schwächer anzusehen sind. Das brasilianische Bildungswesen weist eine Besonderheit beim Zugang zur Hochschulbildung auf: Um an einer der Universitäten des Landes aufgenommen zu werden, müssen die angehenden Studenten für die meisten öffentlichen und für die besten privaten Universitäten eine nationale Hochschulprüfung (Exame Nacional do Ensino Médio, ENEM) ablegen. Diese Prüfung dient nicht nur dazu, das Bildungsniveau der Schüler in der Oberstufe landesweit vergleichbar zu messen, sondern auch dem Zweck, die Schüler in einer Rangliste zu klassifizieren, die dann den Zugang zu den öffentlichen Universitäten oder Stipendien für private Universitäten regelt. Das ENEM ist auch ein wichtiger Gradmesser für den Stand der öffentlichen Bildungspolitik, da Millionen von Schülern daran teilnehmen. Die Ungleichheit zwischen privaten und öffentlichen Bildungseinrichtungen in der Grund- und Sekundarschulbildung zeigt sich immer wieder bei der Auswertung der ENEM-Ergebnisse und beim Zugang zu den besten Universitäten, da diejenigen, die eine bessere – das heißt in den allermeisten Fällen: eine private – Schulbildung in der Grund- und Sekundarschule genossen haben, größere Chancen auf einen Platz an den besten öffentlichen und privaten Universitäten des Landes haben. Anhand von wissenschaftlichen Erhebungen lässt sich belegen: Je höher das jährlich zu entrichtende Schulgeld ausfällt, desto höher ist letztlich auch die durchschnittliche ENEM-Punktzahl der Absolventen.

Die aktuelle Regierung räumt der Bildungspolitik einen geringen Stellenwert ein.

Neben den damit einhergehenden ungleichen Chancen hinsichtlich des Zugangs zu universitärer Bildung haben die ENEM-Prüfungsergebnisse auch weitreichende Auswirkungen auf den Zugang zur ersten Arbeitsstelle, da viele Absolventen öffentlicher Schulen, die keinen Studienplatz erhalten haben, auf dem umkämpften Arbeitsmarkt ebenfalls kaum eine Chance haben. Dies liegt daran, dass sie nur wenig oder gar keine praktische Vorerfahrung mitbringen und wie dargestellt eine schlechtere schulische Ausbildung genossen haben als Absolventen privater Bildungseinrichtungen. Angesichts des Überschusses an jungen Menschen mit einem ähnlichen Profil auf dem Arbeitsmarkt und einer nicht in gleichem Maße angestiegenen Nachfrage nach Arbeitskräften entscheiden sich die Unternehmen natürlich aus einem großen Bewerberpool für die am besten Ausgebildeten. Diejenigen, die etwa aufgrund eines geringen Einkommens der Eltern lediglich eine durchschnittliche öffentliche Schulbildung genossen hatten, haben im Rennen um Studienplätze oder eine berufsbezogene, praktische Ausbildung folglich schlechte Karten. So werden sie oftmals noch vor Vollendung des 18. Lebensjahres praktisch gleichzeitig vom Arbeitsmarkt und von den weiterführenden Bildungseinrichtungen ausgeschlossen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die aktuelle Regierung unter dem rechtspopulistischen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro der Bildungspolitik einen geringen Stellenwert einräumt. Im Jahr 2021 wurde das Budget des Bildungsministeriums im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag des Kongresses um 2,7 Milliarden Reais gekürzt. Diese Ausgabenkürzungen wurden laut offizieller Begründung im Rahmen allgemein notwendiger Sparmaßnahmen vorgenommen, welche sämtliche Ministerien treffen sollten. Es fällt jedoch auf, dass beispielsweise das Wirtschaftsministerium lediglich eine Kürzung von 1,4 Milliarden Reais hinnehmen musste, was mehr als eine Milliarde weniger ist als die Reduktion im Bildungsressort. Darüber hinaus ist das Bildungsministerium seit Amtsantritt der Regierung Bolsonaro im Januar 2019 eines der Häuser, welches den meisten Kontroversen ausgesetzt ist und deren Leiter verblüffend häufig wechselten. Auch scheint als Kriterium für die Eignung als Bildungsminister weniger Fachkompetenz als vielmehr die Übereinstimmung mit der ideologischen Ausrichtung des Präsidenten entscheidend zu sein.

So erklärte der derzeitige Bildungsminister Milton Ribeiro kürzlich in einer Rede, dass „die Universität in der Tat nur für einige wenige da sein sollte“. Diese Aussage des Ministers, die dem Zugang zu Hochschulbildung für unterprivilegierte Gruppen und einer Diversifizierung der Studentenschaft eine klare Absage erteilt, steht in Einklang mit der Position der derzeitigen Regierung. Verbale Angriffe der Regierung auf Universitäten sowie die Wissenschaft im Allgemeinen sind unter Bolsonaro keine Seltenheit. Im Zuge des katastrophalen Krisenmanagements während der Pandemie zeigte sich deutlich, dass auf wissenschaftlich fundierte Politikempfehlungen kein Wert gelegt wird, sondern kritische Akademiker und Wissenschaftler durch Mittelkürzungen und Fake News zunehmend in die Enge getrieben werden.

 

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem

Die weltweite Pandemie verschärfte die strukturellen Probleme in vielen Ländern, da viele Volkswirtschaften durch die notwendige soziale Isolierung fast vollständig lahmgelegt wurden. In Brasilien wirkte sich die Pandemie auch direkt auf die jungen Menschen im Alter von 15 bis 29 Jahren aus, die weder arbeiten noch in irgendeiner Form an Aus- oder Weiterbildungsprogrammen teilnehmen. Mit der Pandemie nahmen die Zahlen um etwa drei Prozentpunkte zu und der Anteil derjenigen, die innerhalb der Altersgruppe zur „Generation Weder-Noch“ gezählt werden müssen, stieg insgesamt auf den eingangs erwähnten Rekordwert von 29,33 Prozent. Dies lässt sich insbesondere auf die coronabedingte Rezession (siehe Abb. 2) zurückführen. Die brasilianische Wirtschaft brach im Corona-Krisenjahr 2020 um 4,1 Prozent ein, was vor allem im Dienstleistungssektor, etwa im Tourismus und dem sich über Monate im Lockdown befindlichen Hotel- und Gaststättengewerbe, zu einer massiven Entlassungswelle führte, von der jüngere Beschäftigte in besonderem Maße betroffen waren.

In Brasilien gelang es den privaten Bildungseinrichtungen in den ersten Monaten des Jahres 2020 vergleichsweise schnell, zu improvisieren und Mechanismen so zu verändern, dass die geregelte Durchführung des Schuljahres 2020 durch virtuellen Unterricht und Hausaufgaben sowie Anpassungen in der Jahresplanung gewährleistet war. Öffentliche Schulen hingegen mussten in ihren Lehrplänen viel stärkere Abstriche machen, da die überwiegende Mehrheit der Schüler aus wenig privilegierten Schichten stammt, die oftmals nicht auf internetfähige Endgeräte zugreifen können, um etwa Fernunterricht zu folgen. Entsprechend trat das Problem der digitalen Ungleichheit an dieser Stelle deutlich zutage. Neben der Tatsache, dass der Zugang zu den digitalen Medien angesichts der Einkommensunterschiede nicht für die gesamte Bevölkerung gleichermaßen gewährleistet werden konnte, sind auch die digitalen Kompetenzen sehr unterschiedlich, da insbesondere die am wenigsten privilegierten Jugendlichen keinen durchgängigen Zugang zu stabilem Internet haben, geschweige denn grundlegende technische Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt bekommen. Die Unmöglichkeit, allen Schülern einen gleichberechtigten Zugang zum Internet und zu technischen Hilfsmitteln zu garantieren, war so einer der Gründe für vermehrte Schulabbrüche, was wiederum als eine weitere Hauptursache für den erheblichen Anstieg derer gilt, die infolge der Pandemie zur „Generation Weder-Noch“ gezählt werden müssen.

 

Abb. 3: Arbeitslosenquote in Brasilien in Prozent

https://www.kas.de/documents/259121/15800105/Ai.4-2021_carlos_oswald_abb_3_DE-01.svg/ddbea910-939c-0af5-9f1a-34afa629c11e?t=1639392313428

Quelle: eigene Darstellung nach IBGE 2021: Biblioteca. PNAD contínua trimestral, ID 2421.

 

Ein weiterer negativer Begleitumstand ist die Arbeitslosenquote. Sie steigt seit 2012 fast kontinuierlich an, konnte sich zwischen 2017 und 2019 stabilisieren und schnellte im Jahr 2020 durch die Coronakrise und den darauffolgenden globalen Konjunktureinbruch abermals nach oben, was die Situation der „Generation Weder-Noch“ stark beeinträchtigte. Die Abbildung 3 veranschaulicht den Anstieg der Arbeitslosenzahlen von der ersten Hälfte des Jahres 2020 bis zu ihrem Höhepunkt im Jahr 2021.

Gemäß der Studie von FGV Social stieg die Arbeitslosenquote in der Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 29 Jahren pandemiebedingt von 49,4 auf 56,3 Prozent. Mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Zahl der Schulabbrecher sowie angesichts der Schwierigkeiten, an den virtuellen Unterrichtsstunden teilzunehmen, geraten junge Menschen in Brasilien in eine Situation, in der sie in Millionen von Fällen weder studieren noch arbeiten können.

 

Fazit

Brasilien wurde von der Pandemie hart getroffen und hat große Schwierigkeiten, die bereits vor Corona existierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu bewältigen, was vor allem auf die politische Instabilität sowie Inkompetenz in den Reihen der Regierung zurückzuführen ist. Die Coronanothilfe (Auxílio Emergencial) war eine der wenigen wirksamen staatlichen Maßnahmen, mit denen versucht wurde, den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch sowie Massenarmut und eine weitere Verschärfung der sozialen Ungleichheit zu verhindern. Da ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung im informellen Sektor arbeitet und durch die Pandemie schlagartig keine Einkommensquelle mehr hatte, konnten mit dieser wichtigen Maßnahme positive Ergebnisse erzielt und Millionen von Familien unterstützt werden.

Zugleich stellt sich die Situation der Jugend in Brasilien dramatisch dar. Obwohl sich das Phänomen der „Generation Weder-Noch“ bereits vor der aktuellen pandemiebedingten Krise abzeichnete, sind deren Auswirkungen für die jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren, die unter Chancenlosigkeit, Arbeitslosigkeit und mangelnder Bildung leiden, besonders verheerend.

Trotz der Investitionen in die Sozial- und Bildungspolitik, die sich positiv auf das Leben der jungen Brasilianer auswirkten, haben die Regierungen unter Führung der linken Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) von 2003 bis 2016 eine Reihe von Fehlern gemacht. Das Hauptproblem war ihr Versäumnis, eine solide Strategie für eine nachhaltig chancengerechte und finanzierbare Bildungs- und Sozialpolitik zu entwickeln, die nicht Interessengruppen einerseits und wirtschaftlichen Schwankungen andererseits ausgeliefert ist. Durch den Rohstoffboom und Brasiliens wirtschaftlichen Aufschwung wurden eine Vielzahl erfolgversprechender sozial- und bildungspolitischer Maßnahmen implementiert. So hatte beispielsweise das Programm „Universität für alle“ (Universidade para todos, ProUni) aus dem Jahr 2006 das Ziel, durch staatliche Finanzierung Stipendien an privaten Universitäten für Studenten aus armen Verhältnissen zu vergeben. Durch die Ausweitung des Studienfinanzierungsfonds (Fundo de Financiamento Estudantil, FIES) für die Hochschulbildung übernahm der Staat die Ausbildungskosten, welche von den Absolventen nach dem Abschluss zinsfrei zurückgezahlt werden konnten. Bei all diesen Neuerungen wurde es jedoch verpasst, langfristig zu denken und sie tiefergehend in der brasilianischen Gesetzgebung zu verankern. Als die Rohstoffpreise (insbesondere ab 2010 während des Übergangs von der zweiten Regierung Lula zur ersten Regierung Dilma Rousseff) zu fallen begannen, verlor das Politikfeld aufgrund von Interessenkonflikten und der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung rasch wieder an Bedeutung. Mit der Verschärfung der Krise im Jahr 2016 und der Amtsenthebung Dilma Rousseffs wurden zahlreiche Maßnahmen nach und nach wieder ausgehöhlt oder aus Kostengründen nicht verlängert. Darüber hinaus wurde die Gelegenheit verpasst, neben dem verbesserten Zugang zu Hochschulbildung ebenso Maßnahmen zu ergreifen, die die Eingliederung junger Menschen in den Arbeitsmarkt erleichtern und nichtakademische, praxisorientierte Ausbildungsmodelle fördern.

Auch die aktuelle Regierung scheint sich der Probleme der jungen Generation nicht annehmen zu wollen und versucht stattdessen, das Feld der Bildungspolitik zu ideologisieren. Der Wille zur internationalen Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Technologie ist in der Regierung Bolsonaro ebenso wenig ausgeprägt. Dabei wäre es umso wichtiger, dass die Politik der besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppe der 15- bis 29-Jährigen mit speziellen Angeboten entgegenkommt, da es sich bei dem beschriebenen Dilemma der „Generation Weder-Noch“ zweifelsohne um ein Thema von gesamtgesellschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Tragweite handelt. Gleichzeitig befinden sich die betroffenen Personen auf ganz individuelle Weise in einer jeweils entscheidenden Phase ihrer Entwicklung zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Gelingt es nicht, effiziente politische Maßnahmen für diesen Teil der Bevölkerung zu verabschieden, die sich auf wissenschaftliche Daten und reale Bedürfnisse stützen, wird das Problem lediglich in die Zukunft verschoben – und die aktuelle „Generation Weder-Noch“ könnte zu einer „verlorenen Generation“ werden. Es handelt sich somit um ein Thema, über das es sich lohnen würde, im bereits anlaufenden Präsidentschaftswahlkampf zu debattieren und einen konstruktiven Wettstreit der Ideen zu entfachen. Brasilien als „Land der Zukunft“ sollte seiner Jugend weder mangelnde Bildungschancen noch berufliche Perspektivlosigkeit zumuten und seinen nem-nems schnellstmöglich Wege aus der Sackgasse aufzeigen.

 


 

Luiz Gustavo Carlos ist Projektkoordinator im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.


 

Kevin Oswald ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.


 

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