Ausgabe: Sonderausgabe 2022/2022
Obwohl die allermeisten Länder den Angriff Russlands auf die Ukraine mittlerweile verurteilt haben, hält sich die bevölkerungsreichste Demokratie der Erde in dem Konflikt bislang auffällig zurück. Die Regierung in Neu Delhi hat sich in allen UN-Gremien, in denen der Angriff Russlands bisher von einer Mehrheit per Resolution verurteilt worden war, ihrer Stimme enthalten. Die offiziellen Stellungnahmen Neu Delhis gingen bisher nicht über den Aufruf zur Beendigung der Gewalt und der Respektierung der „territorialen Integrität und Souveränität aller Staaten“ hinaus. Dabei haben neben der Ukraine selbst, die Indien zu einer klaren Verurteilung der russischen Aggression aufgerufen hatte, auch die USA und die EU keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sich von ihrem „Wertepartner“, als der Indien gesehen wird, mehr erwarten.
Doch Neu Delhi steckt in einem Dilemma: An der Grenze im Himalaja sowie im Indischen Ozean übt China militärisch zunehmend Druck auf Indien aus. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte es an der Grenze vor zwei Jahren auch wieder Tote gegeben, darunter 20 indische Soldaten. Für die eigene Drohkulisse ist das Land auf die russischen Lieferungen angewiesen, die Schätzungen zufolge mehr als die Hälfte der indischen Waffenimporte ausmachen. Indien hat seit vielen Jahrzehnten russische Kampfflugzeuge, Hubschrauber und U-Boote im Einsatz. Für den Kauf russischer Boden-Luft-Raketen hatte Indien schon vor dem Krieg in der Ukraine sogar amerikanische Sanktionen in Kauf genommen. Beim Besuch von Russlands Präsident Wladimir Putin in Neu Delhi nur wenige Wochen vor der Invasion hatten die beiden Länder weitere Waffengeschäfte vereinbart.
Darüber hinaus kann die „strategische Partnerschaft“ zwischen Indien und Russland auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie geht zurück bis auf die Zeit des Kalten Kriegs, als Indien zu den sogenannten Blockfreien gehörte. Das Verhältnis überdauerte auch das Ende der Sowjetunion und Indiens Abkehr von einem sozialistisch geprägten Wirtschaftssystem. Die anhaltende Zusammenarbeit äußerte sich dann auch schon in Indiens Zurückhaltung bei der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014. Auf der anderen Seite hatte Russland auch eine kritische Resolution zur indischen Politik in der Unruheregion Kaschmir verhindert.
Gleichwohl hat sich Neu Delhi im drohenden Konflikt mit China auch immer mehr den USA angenähert. In den Indopazifik-Strategien des Westens spielt Indien die Hauptrolle in dem Bemühen, ein Gleichgewicht zu China in der Region zu schaffen. Dafür schaut der Westen auch weitgehend über die Gängelung religiöser Minderheiten in Indien hinweg. Doch die Zurückhaltung, mit der Indien auf die russische Aggression reagiert, zeugt von einer Kluft zwischen Neu Delhi und den neuen Partnern. Zwar verzichtet Washington bisher darauf, Indien direkt zu kritisieren. Dennoch wird deutlich gemacht, dass man sich eine klarere Positionierung Indiens wünschen würde. In einer internen Mitteilung des US-Außenministeriums an seine Botschaften, die der Presse zugespielt worden war, hieß es, dass sich Indien mit seiner Haltung faktisch auf die Seite Moskaus geschlagen habe.
Bei einem Onlinegipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der sogenannten Quad, zu der neben den USA und Indien auch Australien und Japan gehören, hatte Präsident Joe Biden gesagt, es gebe in der jetzigen Situation keinen Raum für „Mehrdeutigkeit“. Jedoch gelang es Indien, selbst in diesem Rahmen eine direkte Verurteilung Russlands zu verhindern. Schließlich muss Neu Delhi auch fürchten, dass sich die Lage im Indopazifik als Folge zu seinen Ungunsten entwickelt. So könnte sich Moskau noch stärker China annähern. Auch eine Achse China-Pakistan-Russland erscheint möglich, schließlich weilte der pakistanische Ministerpräsident Imran Khan zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine in Moskau. Indien sorgt sich auch um die Entwicklung im Nachbarland Afghanistan, aus dem sich die USA militärisch zurückgezogen haben. Die Regierung in Neu Delhi muss außerdem befürchten, dass der Krieg in Osteuropa die Aufmerksamkeit der EU und der USA wieder aus dem Indopazifik ablenkt.
Hinzu kommt, dass der Blick der indischen Öffentlichkeit auf den Krieg ein anderer ist als in Europa. Die Medienberichterstattung kreist vor allem um die möglichen Auswirkungen auf die Wirtschaft sowie um die Rettung Tausender in der Ukraine gestrandeter indischer Studenten. Das Narrativ, wonach der Westen zumindest eine Mitschuld am Krieg trage, findet in Indien auch einige Anhänger. Unter dem Hashtag #IStandWithPutin zeigen manche Inder sogar Sympathien für den russischen Präsidenten, den sie für seine vermeintliche Stärke bewundern. Dagegen werden die USA traditionell kritisch beäugt. Der Politologe Harsh V. Pant weist darauf hin, dass in den indischen Straßen wahrscheinlich längst amerikanische Flaggen brennen würden, wenn die USA ein Land auf diese Weise angegriffen hätten.
Der Geostratege Brahma Chellaney kritisiert auch die den USA zugeschriebene Haltung, wonach ein Land im Konflikt entweder für sie sei oder gegen sie. So ganz möchte sich Indien von seiner „strategischen Autonomie“ nicht verabschieden. Harsh V. Pant fordert aber eine Kursänderung. „Neu Delhi wird schwerlich von einer ‚regelbasierten‘ Ordnung sprechen können, wenn es nicht bereit ist, für dieselben Prinzipien anderswo einzutreten“. Moskaus Bedeutung für Indien schwinde, während der Westen wichtiger werde. Pant: „Nun, da Russland die Rolle des Störenfrieds weiterspielt, müsste Indien über eine Neugestaltung seiner Beziehungen zu Russland nachdenken.“
Till Fähnders ist politischer Korrespondent der F.A.Z. für Südostasien, Australien und Neuseeland mit Standort in Singapur.
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