Ausgabe: 1/2022
Der Sahel ist nicht Afghanistan, aber – Vergleichbares und Unvergleichliches
Es ist sicherlich wichtig, gleich zu Beginn festzuhalten, dass sich der Sahel und Afghanistan fundamental unterscheiden. Handelt es sich in letzterem Falle um ein Land mit mehr oder weniger festen Grenzen zu den Nachbarländern, so ist der Sahel eine Region, die sich von Ost nach West über mehrere Tausend Kilometer erstreckt und mindestens fünf Staaten – Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und den Tschad – umfasst. Die Grenzen dieser Staaten sind zum Teil fluide und im Rahmen kolonialer Besatzung überhaupt erst in ihrer heutigen Form festgelegt worden. Aber es ist nicht nur der geografische Raum, der den Unterschied zwischen Afghanistan und dem Sahel ausmacht. Auch die Art der Konflikte, die in beiden Szenarien Raum greifen, könnte kaum unterschiedlicher sein. In Afghanistan gibt es mit den Taliban eine dominierende Gruppe, die selbst über den Zeitraum von fast 20 Jahren – seit ihrer Vertreibung von der Macht – als effektiver Akteur in der Region erhalten blieb. Im Sahel gibt es keine derartige Einzelgruppe. Dort kennt man lediglich einzelne, lokal (zum Teil auch regional) verortete Terrorgruppen ohne übergreifenden ideologischen, ethnischen oder sonstigen Zusammenhalt. Daraus hat sich eine Situation des „jeder gegen jeden“ ergeben. Wenn man von den tendenziell guten Beziehungen Frankreichs zu Teilen der dortigen Eliten absieht, so gibt es im Sahel auch keine proxies für ausländische Mächte, wie dies in Afghanistan – im Falle der Sowjetunion Ende der 1970er Jahre oder der westlichen Mächte im Nachgang zu 9/11 – zu beobachten gewesen ist.
Ein weiteres, für den Blick des Westens nicht unwichtiges Element ist die Tatsache, dass es bislang keinen Terrorismusexport aus dem Sahel gab. Im Gegensatz zu Afghanistan, wo die 9/11-Anschläge geplant und vorbereitet wurden, hatte nach derzeitigen Erkenntnissen kein einziger Terroranschlag im Westen seinen Ursprung in der Sahelregion. Die Gesellschaften dort kennen viele Konflikte, aber – und das ist zentral – es gibt (mit Ausnahme vielleicht des Tschad) keinen jahrzehntelangen Dauerkriegszustand.
Trotz aller Unterschiede gibt es aber dennoch auch vergleichbare Elemente in beiden Regionen. So sind hier wie dort dschihadistische Gruppen aktiv. Während dies in Afghanistan al-Qaida und auch der IS sind, lassen sich für den Sahel vor allem AQUIM (al-Qaida im Maghreb), Boko Haram, ISGS (Islamic State in the Greater Sahara) und ISWAP (Islamic State’s West Africa Province) nennen.
Abb. 1: Verteilung dschihadistischer Gruppen im Sahel 2021
Mangelnde Staatlichkeit und demografisches Wachstum – eine „explosive“ Kombination?Genau wie Afghanistan leiden auch viele Sahelstaaten unter einer mehr oder weniger stark ausgeprägten dysfunktionalen Staatlichkeit. Zentrale Eigenschaften eines funktionierenden Staates sind (so gut wie) nicht vorhanden. Dazu gehören die effektive Kontrolle über die Gesamtheit des eigenen Staatsgebietes, eine funktionsfähige Verwaltung und das Angebot elementarer staatlicher Dienstleistungen nicht nur in den Hauptstädten, sondern auch in weiter entlegenen Gebieten (diese werden mittlerweile in einigen Regionen, im Gegenteil, oft von dschihadistischen Kräften bereitgestellt). Ferner gehören hierzu auch ein funktionierendes und loyales Militär sowie von der Bevölkerung akzeptierte, durchsetzungsstarke Sicherheitskräfte und vieles mehr. Serge Michailof – ein ehemaliger Direktor bei der Weltbank, ehemaliger Direktor der französischen Entwicklungsorganisation AFD (Agence Française de Développement) und ausgewiesener Kenner sowohl Afghanistans als auch Westafrikas – sieht im Fehlen dieser hoheitlichen Gewalt (institutions régaliennes) ein zentrales Problem all dieser Staaten, aber auch für die Effizienz westlicher Entwicklungshilfe. Dazu später mehr.
Einen weiteren, durchaus vergleichbaren Aspekt stellt die demografische Entwicklung in beiden Regionen dar. Bis zum Sturz der Taliban im Jahr 2001 hatte Afghanistan eine der höchsten Geburtenraten weltweit. Im Durchschnitt brachte dort jede Frau mehr als sieben Kinder zur Welt (Fertilitätsrate 2000: 7,48 Kinder pro Frau). In den Jahren darauf sank diese Zahl deutlich auf – immer noch hohe – 4,32 Kinder pro Frau im Jahr 2019. Im Sahel ist die Geburtenrate ebenfalls sehr hoch. Im Tschad liegt sie pro Frau bei 5,80, in Mali bei 5,92 und in Niger sogar bei 6,95 (Höchstwert weltweit).
Abb. 2: Erwartete demografische Entwicklung weltweit mit Fokus auf den Sahel in Prozent 2025–2030
Wie Abbildung 2 zeigt, weist der gesamte Sahelgürtel global das dynamischste Bevölkerungswachstum auf. Insgesamt gehen Schätzungen davon aus, dass 80 Prozent der Gesamtbevölkerung der Region unter 30 Jahre alt sind. Die UN erwarten, dass sich allein im Falle Nigers die Bevölkerung – von heute etwas mehr als 25 Millionen Einwohnern – bis 2041 verdoppeln und die 50-Millionen-Grenze überschreiten wird.
Ein solcher Aufwuchs der Bevölkerung verstärkt natürlich wiederum die bereits existierenden erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Denn schon jetzt verharrt die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder auf sehr niedrigem Niveau. So sind die Staaten weitgehend landwirtschaftlich geprägt bzw. vom Export von Rohstoffen abhängig. Eine wirtschaftliche Diversifizierung hat nicht stattgefunden und Experten sehen wenig Hoffnung, dass sich in der Region eine großangelegte Industrialisierung oder eine leistungsfähige Dienstleistungsbranche umsetzen bzw. in Gang setzen ließe. Schon heute – und noch viel stärker perspektivisch – muss deswegen damit gerechnet werden, dass ganze Generationen junger Menschen heranwachsen, die weder gut ausgebildet sind noch eine angemessene Lebensperspektive entwickeln können. Gerade mit Blick auf die schulische Bildung sind die Perspektiven in den Sahelstaaten sehr düster.
Abb. 3: Erwartete Bevölkerungsentwicklung in Niger bis zum Jahr 2100
Dieser dynamischen Bevölkerungsentwicklung steht eine sehr bescheidene Entwicklung der jeweiligen Wirtschaften der Sahelstaaten gegenüber. Zwar können alle Staaten auf natürliche Ressourcen zurückgreifen. In Mali ist das vor allem Gold, in Niger sind es Edelsteine sowie Edelmetalle und, wie auch im Tschad, Öl. Das Wirtschaftswachstum fiel in den letzten Jahren dennoch niedrig aus. Es erreichte im Tschad 2019 noch 3,2 Prozent, 2020 jedoch nur noch 0,8 Prozent (auch aufgrund der COVID-19-bedingten Einschränkungen). Im Niger waren es 5,9 (2019) und zuletzt 3,6 Prozent (2020) sowie in Mali um die 4 Prozent in den vergangenen Jahren. In praktisch allen Ländern der Region übersteigt damit das Bevölkerungswachstum kontinuierlich die wirtschaftlichen Wachstumszahlen. Die Länder befinden sich in einer Armutsfalle.
Abb. 4: Bevölkerungsanteile mit Sekundarbildung in den Staaten der Sahelregion 2015 in Prozent
Radikalisierungsprozesse und MigrationsströmeDer Vergleich zwischen Afghanistan und der Situation im Sahel wurde im Laufe der letzten zehn Jahre immer wieder gezogen, an Warnungen mangelte es nicht. So kommentierte die algerische Tageszeitung El Watan bereits im September 2010 – also noch vor dem Eingreifen der französischen Truppen zur Stabilisierung Malis: „Es ist klar, dass die Situation im Sahel gefährlich, ja sogar explosiv ist. Sie ruft geradezu nach einer dringenden Reaktion der Staaten der Region, bevor andere daraus ein zweites Afghanistan machen.“ Und 2015 schrieb der bereits erwähnte Serge Michailof: „Die Situation im Norden des Sahel erinnert heute wirklich an Afghanistan zu Beginn der 2000er Jahre, wo der Zusammenbruch der Landwirtschaft, die Korruption des Staates und die Abwesenheit des Letzteren in den ländlichen Gebieten den Taliban den Weg geebnet hatten.“
Die Tatsache, dass die Attentäter des 11. September in Afghanistan ausgebildet und trainiert wurden, zeigt, dass durch derartige Entwicklungen auch weit entfernte Gesellschaften einer sehr konkreten Bedrohung ausgesetzt sein können. Droht uns Ähnliches aus dem Sahel?
Die Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation in der Sahelregion birgt sicherlich die Gefahr, dass viele junge Männer – und auch Frauen – für radikale Ideologien empfänglicher werden. Aber auch ohne direkte terroristische Bedrohungslage, die ja ohnehin zunächst die Staaten selbst treffen würde, wird auch das enorme Bevölkerungswachstum mittel- und langfristig zu einer enormen Herausforderung für den Nachbarkontinent Europa werden. Die Perspektivlosigkeit in der Heimat, verbunden mit der über soziale Medien vermittelten Hoffnung auf ein besseres Leben irgendwo in Europa, setzt schon heute massive Migrationsbewegungen aus dem Sahelraum über Nordafrika nach Europa in Gang. Dieser Druck wird in Zukunft noch zunehmen, insbesondere, wenn Stabilitätsanker im Norden (Maghreb) und im Süden der Sahara (Länder des Golf von Guinea) zunehmend durch die Entwicklungen im Sahelraum unter Druck geraten. Erol Yayboke vom Center for Strategic & International Studies (CSIS) hat dies folgendermaßen zusammengefasst:
„Mehrere sich überschneidende Faktoren treiben die irreguläre Migration durch den Sahel an. Die Mehrheit der größtenteils jungen und männlichen Migranten gibt dabei ökonomische Gründe als Hauptüberlegung an (…). Dies (…) ist jedoch mit anderen destabilisierenden Faktoren verknüpft. Regierung ist nicht existent oder mangelhaft. Grundlegende Dienstleistungen sind in abgelegenen Gebieten kaum vorhanden. Das Vertrauen in die Regierung ist niedrig und Gewalt daher verbreitet. In den letzten Jahren haben extremistische Organisationen eine nie dagewesene Welle an Angriffen auf Zivilisten freigesetzt. Der Klimawandel verschlimmert diese Unsicherheit. Tödliche Kämpfe auf kommunaler Ebene um Ressourcen haben zugenommen und sind nun für mehr Todesfälle verantwortlich als der Extremismus. Die Temperaturen im Sahel steigen 1,5-mal schneller als im Rest der Welt, was dazu führt, dass sich die Extrema Dürre und Überflutung abwechseln, was wiederum die Verdrängung von ganzen Gemeinden und niedrige landwirtschaftliche Erträge zur Folge hat. Fügt man dieser Mischung noch die unzureichende Informationsvermittlung über die Gefahren der Migration sowie beträchtliche Pull-Faktoren – darunter der regelmäßige Zugriff auf soziale Medien und stilisierte Traumbilder vom Leben und den Lebensumständen in Europa – hinzu, so ist es kein Wunder, dass Menschen diese gefährlichen Reisen auf sich nehmen.“
Alle diese Faktoren und insbesondere die Kombination aus prekärer Sicherheitslage, dynamischer demografischer Entwicklung sowie fehlender wirtschaftlicher Perspektive führen dazu, dass wir es im Sahel mit einer hochexplosiven Mischung zu tun haben – für die Gesellschaft im Sahel, möglicherweise aber auch darüber hinaus.
Wachsende politische Instabilität trotz internationaler Interventionen
Diese Entwicklungen führen auch zu einem erhöhten Maß an politischer Instabilität. So fanden allein in Mali in den letzten 15 Monaten zwei Militärputsche statt, im Tschad kam der langjährige Präsident unter bis heute nicht geklärten Umständen durch Schüsse aus seinem unmittelbaren Umfeld ums Leben (die Regierungsgeschäfte hat zwischenzeitlich ein Militärrat unter Leitung des Adoptivsohns des Getöteten, Mahamat Idriss Déby, übernommen). Erst nach einer Übergangsphase von jeweils 18 Monaten soll es in beiden Ländern Neuwahlen geben – ein Fahrplan, der von der malischen Übergangsregierung mittlerweile auf fünf Jahre ausgedehnt wurde. Am 24. Januar 2022 kam ein weiterer Putsch in Burkina Faso hinzu. Dem waren massive Proteste gegen die Regierung vorausgegangen, da es dieser nicht gelungen war, die prekäre Sicherheitslage im Land zu verbessern. Genau wie in Afghanistan in den 2010er Jahren ist derzeit auch in der Sahelregion zu beobachten, wie sich die Sicherheitslage – trotz der Entsendung verschiedenster militärischer Stabilisierungsmissionen und eines umfassenden Engagements im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit – immer weiter verschlechtert.
Abb. 5: Sicherheitslage im Sahel 2021
Die Franzosen waren die ersten vor Ort mit der Operation Serval (2013 bis 2014), gefolgt von der Operation Barkhane (2014 bis 2021) mit bis zu 5.100 französischen Soldaten. Nach Beendigung von Barkhane wird die Terrorismusbekämpfung von der bereits im März 2020 gegründeten multinationalen Task Force Takuba federführend fortgesetzt. Die Bundeswehr ist seit 2013 im Sahel engagiert. In Mali beteiligt sie sich an der EU-Ausbildungsmission EUTM (European Union Training Mission) sowie an der von den Vereinten Nationen geführten Stabilisierungsmission MINUSMA. Während sich das Mandatsgebiet von EUTM-Mali auf alle fünf Sahelstaaten erstreckt – hier wird unter anderem die gemeinsame Einsatztruppe der G5-Staaten militärisch beraten und ausgebildet – ist der Zuständigkeitsbereich der UN-Blauhelmmission auf Mali und Niger begrenzt. Im Niger ist die Bundeswehr zudem an der Ausbildung von Spezialkräften beteiligt. Trotz dieses aufwändigen Engagements der vergangenen acht Jahre ist festzustellen, dass die Sicherheitslage von Jahr zu Jahr angespannter wird. Dies verdeutlichen Karten des französischen Außenministeriums, die für die Sahelregion immer mehr Gebiete ausweisen, vor deren Besuch ausdrücklich gewarnt wird (formellement déconseillé). Allein im Zeitraum zwischen August 2020 und Juni 2021 erhielten weitere Gebiete an der Südflanke der Sahelregion eine solche tiefrote Markierung. Damit wird mittlerweile auch von Reisen in Gebiete im Norden von Côte d’Ivoire, Benin und Nigeria ausdrücklich abgeraten (siehe Abb. 5). Besonders mit Blick auf Burkina Faso belegen die französischen Karten sehr eindrücklich, wie sehr sich die Lage gerade in diesem zentralen Sahelstaat in den vergangenen Jahren verschlechtert hat (siehe Abb. 6).
Abb. 6: Verschlechterung der Sicherheitslage in Burkina Faso 2010–2021
Die Unterschiede zwischen Afghanistan und der Sahelregion sind sicherlich gravierend und es ließen sich noch weitere aufführen. Dies gilt auch für die vergleichbaren Aspekte. Im vorliegenden Zusammenhang galt es aber vor allem herauszustellen, dass es keine einfachen Übertragungen vom Szenario Afghanistan auf das Szenario Sahel geben kann. Und dennoch sollten bei allen Policy-Überlegungen für die Sahelregion die Erfahrungen aus dem Scheitern des Afghanistaneinsatzes berücksichtigt und mit der Einbeziehung der sehr spezifischen Bedingungen, die im Sahelraum bestehen, verbunden werden.
Zentrale Herausforderungen der Sahelregion
Die Sahelregion ist mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert – von wirtschaftlichen über sicherheitspolitische bis hin zu politischen und demografischen. Dabei ist auf der einen Seite zu unterscheiden zwischen Herausforderungen, die sich aus dem Sahel selbst, seiner Lage, den Traditionen, der Kultur und anderem ergeben, und auf der anderen Seite Herausforderungen, die aufgrund der vor acht Jahren begonnenen internationalen Bemühungen, die Region bei der Stabilisierung und der Abwehr terroristischer Gefahren zu unterstützen, entstanden sind.
An dieser Stelle sollen nicht alle Herausforderungen, die oben bereits genannt oder angerissen wurden, wiederholt werden. Es gibt allerdings auch solche, die bislang aufgrund der Konzentration auf den Vergleich mit Afghanistan noch nicht explizit angesprochen wurden, die aber auf keinen Fall zu vernachlässigen sind. Spricht man mit Experten der Region, dann wird hier immer wieder auf grundlegende Konflikte hingewiesen, die bereits vor der Ausbreitung der dschihadistischen Kräfte in der Region existierten. Hierzu zählt die Tatsache, dass das heutige Staatsgebiet Malis zwei komplett unterschiedliche Kulturräume zusammenfügt – den Norden, der eher dem arabischen Kulturraum zuzurechnen ist, und den Süden, der eher dem „schwarz-afrikanischen“ Kulturraum zugerechnet wird. Mit Gründung des malischen Staates und der Etablierung der Hauptstadt des Landes in Bamako (also im Süden) entstand eine Dominanz im südlichen Teil des Landes, was unter anderem von den im Norden beheimateten Tuareg nicht akzeptiert wurde. Einer der Gründe für den Aufstand im Norden Malis im Jahr 2012, der nur durch die Intervention Frankreichs zurückgeworfen werden konnte, wird von vielen Beobachtern genau in diesem Nord-Süd- und weniger in einem religiös motivierten Konflikt gesehen. Religiöse Elemente kamen erst ins Spiel, als sich die Tuareg mit dschihadistischen Elementen verbündeten, die dann alsbald dominierend wurden.
Ohnehin verstehen es die Dschihadisten zunehmend, bestehende ethnische Konflikte für sich zu nutzen, so z.B. die Landnutzungskonflikte zwischen Fulani-Hirten und Dogon-Ackerbauern. Mit Blick auf das oben bereits erwähnte dynamische Bevölkerungswachstum ist auch ein Konflikt zwischen der jungen Generation und den alten Eliten in den verschiedenen Ländern zu konstatieren. Auch soziale Konflikte – zwischen Stadt und Land, zwischen Moderne und Tradition und natürlich auch zwischen Arm und Reich – sind festzustellen. Alle diese Konflikte überlagern einander und machen es ungeheuer schwierig, dagegen anzugehen. Die prekäre Arbeitsmarktsituation wurde bereits angesprochen. Hinzu kommen aber noch Herausforderungen, die durch den fortschreitenden Klimawandel in die Gesellschaften hineingetragen werden. Denn es ist bereits jetzt festzustellen, dass eine fortschreitende Desertifikation, also die zunehmende Versteppung vieler Gebiete in der Sahelregion, auch zu geringeren landwirtschaftlichen Erträgen führt. Das bedeutet, dass der wichtigste Wirtschaftszweig, die Landwirtschaft, ebenfalls unter enormen Druck gerät – und dies bei gleichzeitig anhaltendem Bevölkerungswachstum.
Herausforderungen aufgrund des internationalen Engagements
Es gehört zu den Widersprüchen aller internationalen Interventionen, dass sich diese selbst zu Hindernissen bei der Überwindung der Konflikte entwickeln können. So wird von einigen Beobachtern darauf hingewiesen, dass der im Zuge des Friedensabkommens von Algier (2015) in Gang gesetzte DDR-Prozess (Disarmament, Demobilisation and Reintegration) für lokale Akteure in der Region vor allem ein Geschäftsmodell darstellt. Mancher Beobachter geht sogar so weit zu sagen, dass nicht wenige Akteure in Mali keinerlei Interesse daran haben, den DDR-Prozess tatsächlich zu einem Ende zu führen, da damit auch Einkommensquellen versiegen würden.
Und solange internationale Partner quasi kostenlos Aufgaben wahrnehmen, die eigentlich der Staat leisten müsste, haben lokale Partner kaum ein Interesse, hier Verantwortung zu übernehmen. Ein anderes zu beobachtendes Problem besteht insbesondere in Mali darin, dass sich dort mittlerweile eine unüberschaubare Vielzahl an Hilfsorganisationen und internationalen Gebern tummelt – mit dem Effekt, dass die Unterstützung wenig oder gar nicht koordiniert ist und man sich mit Blick auf den zum Teil vorhandenen Mittelabflussdruck dieser Organisationen gegenseitig auf den Füßen steht. Darüber hinaus liefert man sich noch einen Kampf um die besten lokalen Mitarbeiter, was letztlich auch dazu beiträgt, dass der Aufbau lokaler Strukturen behindert wird (siehe unten).
Handlungsempfehlungen – Es wird schon viel getan, aber: Tun wir genug und tun wir das Richtige?
Es gibt definitiv keine einfachen Lösungen für den Sahel. Allerdings ist auch festzuhalten, dass gerade für Europa nicht die Alternative besteht, sich einfach komplett aus der Region zurückzuziehen und diese sich selbst zu überlassen. Würden wir das tun, dann würden die dortigen Probleme eher früher als später unweigerlich bei uns anlanden – sei es über die Destabilisierung der Staaten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Nordafrika, die Destabilisierung der Stabilitätsanker an der Süd- und Westflanke der Sahara (Senegal, Côte d’Ivoire, Ghana etc.), über zunehmenden Migrationsdruck in Richtung Europa und vieles mehr. Nicht-Handeln ist keine Option für uns, dafür liegen die Fakten zu deutlich auf dem Tisch. Aber was ist zu tun? Und was ist überhaupt möglich?
Zunächst einmal darf durchaus positiv festgehalten werden, dass bereits enorm viel getan wird. Die internationale Gemeinschaft ist in der Region in vielfältiger Weise engagiert, sei es militärisch, wirtschaftlich, humanitär, politisch oder zivilgesellschaftlich. Viele Milliarden US-Dollar und Euro werden investiert, um die Lage vor Ort sicherer zu machen und die Entwicklung der Länder in der Region voranzubringen. Gerade mit Blick auf die oben genannten Stabilitätsanker ist Deutschland sehr aktiv, denn diese werden im Rahmen sogenannter Reformpartnerschaften gefördert.
Die vorangehende Darstellung hat aber gezeigt, dass sich die Sicherheitslage in der Region trotz des internationalen Engagements zunehmend verschlechtert, dass mittlerweile in drei der fünf Sahelstaaten Putschisten regieren und dass das wirtschaftliche Wachstum deutlich hinter dem demografischen zurückbleibt.
Im Folgenden sollen fünf Bereiche genannt werden, in denen die internationale Gemeinschaft ihre Ansätze und ihre Wirkung auf die Entwicklungen in der Region verbessern könnte.
1. Das militärische Engagement: weg von reiner Terrorismusbekämpfung, hin zur Sicherung der Lebensräume für immer größere Teile der Bevölkerung
Der Kampf gegen Terrorgruppen darf nicht das alleinige Ziel militärischer Intervention sein. Natürlich ist es positiv zu bewerten, wenn Terrorgruppen ausgeschaltet werden – und es mag Szenarien geben, in denen dies das Einzige ist, was externe Akteure erreichen können. Allerdings ist zu beobachten, dass gerade im Sahel Terrorgruppen kommen und gehen. Letztlich entscheidend wird hier sein, dass sichere Lebensräume für die Bevölkerung geschaffen werden. Dies kann klein anfangen und sollte sich im Idealfall schrittweise auf immer weitere Gebiete des Sahel ausdehnen. Das militärische Engagement muss sich positiv auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung auswirken.
Dabei spielt eine zentrale Rolle, dass es insbesondere die einheimischen Militärs sind, die diese positiven Effekte erzielen. Hier wird es unverzichtbar sein, dass die lokalen Armeen massiv in die Verantwortung genommen werden und diese Rolle ausfüllen. Die internationalen Truppen sollten vor allem in der Ausbildung und Beratung aktiv sein. Die entscheidende Sicherheitsarbeit muss von den einheimischen Militärs kommen, damit dieses Sicherheitsgefühl auch nachhaltig ist und vor allem nicht von der Präsenz der internationalen Truppen abhängt.
In diesem Kontext wird von vielen Beobachtern gefordert, dass die Beratung der lokalen Militärs von kleinen, flexibel einsetzbaren Teams durchgeführt wird. Auch wenn der „Tanker“ EUTM sicher gute Arbeit leistet, erscheint er für die Bedürfnisse vor Ort oft zu unflexibel und erfordert zur Eigensicherung eine viel zu große Truppenpräsenz, sodass Kosten und Nutzen in keinem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Zu überdenken wäre hier auch die personelle Ausgestaltung dieser Trainings. So wird von verschiedenen Beobachtern beklagt, dass die schnelle Rotation der Ausbilder (meist alle sechs Monate) und die häufig fehlende interkulturelle Expertise der Soldaten eher kontraproduktiv für den Aufbau tragfähiger Strukturen und eines Vertrauensverhältnisses zwischen Ausbildern und lokalen Kräften wirken. Außerdem ist es mit diesem „Tanker“ wenig glaubhaft, dass Fehlverhalten der politischen Führung der Partnerländer tatsächlich sanktioniert werden könnte. Dazu sind die mit dem Einsatz von EUTM verbundenen Strukturen innerhalb der EU und der Partnerländer zu kompliziert und zu langsam. Es kommt entscheidend auf den politischen Willen der beteiligten Partnerländer an. Die Tatsache, dass die Regierungen in Mali und möglicherweise auch in Burkina Faso die paramilitärische Wagner-Gruppe aus Russland als Sicherheitsdienstleister ins Land geholt haben oder dies planen, muss vielleicht auch als Zeichen der Unzufriedenheit mit der von der internationalen Gemeinschaft bereitgestellten Unterstützung angesehen werden.
Gleichzeitig kann militärische Präsenz alleine keine langfristigen Erfolge in der Stabilisierung erzielen, wenn sie nicht durch Maßnahmen flankiert wird, welche auf die Ursachen der zugrundeliegenden Herausforderungen abzielen.
2. Das Engagement beim Aufbau staatlicher Strukturen: Die Bürger müssen spüren, dass der Staat seine Aufgaben erfüllt
Die Probleme des Sahel lassen sich auf keinen Fall rein militärisch lösen. Letztlich entscheidend wird die Unterstützung bzw. der Aufbau der Staaten sein. Diese müssen von internationalen Gebern in allen Ländern des Sahel deutlich stärker unterstützt werden, damit der Staat – auch für die Bevölkerung sichtbar – seine Funktionalität unter Beweis stellen kann. Der schon erwähnte Michailof sieht darin auch einen der größten Fehler des Afghanistaneinsatzes: „Der kapitale Fehler war es, sich zu sehr auf die Kräfte der westlichen Armeen verlassen, nicht frühzeitig den Aufbau einer nationalen Armee und von Polizeikräften (…) vorangebracht und den Wiederaufbau funktionsfähiger Lokalregierungen vernachlässigt zu haben.“
Dabei ist es auch wichtig, dass es wirklich die lokalen Institutionen sind, die die Versorgung der Bevölkerung – Gesundheit, Sozialleistungen, Bildung etc. – sicherstellen. Aufgrund der Bedeutung, die dabei auch die lokalen Sicherheitsapparate spielen, sollten auch diese in die Aufbauarbeit der internationalen Geber integriert werden. Hier aber sind Letztere, sicherlich auch aufgrund negativer Vorerfahrungen in anderen Kontexten, häufig viel zu zögerlich und zurückhaltend. In diesem Zusammenhang ist es auch bedeutsam, das Problem der „Krisenökonomie“ proaktiv anzugehen. Es ist kein zielführender Ansatz, wenn internationale Akteure die besten Köpfe eines Landes für die Mitarbeit in ihren eigenen Projekten abwerben. Solange internationale Akteure ein Vielfaches dessen an Gehältern bezahlen, was eine lokale Verwaltung zu zahlen im Stande ist, wird es immer einen Trend geben, dass die nationalen Verwaltungen ausbluten. Letztendlich werden funktions- und leistungsfähige Verwaltungen aber nur aufgebaut werden können, wenn der Braindrain in die Strukturen der internationalen Organisationen beendet wird. Michailof spricht hier von Parallelverwaltungen, in denen zum Teil das bis zu Fünffache, manchmal sogar das bis zu 40-fache der Gehälter der normalen öffentlichen Verwaltungen gezahlt wird.
Hier bedarf es einer verbindlichen Absprache aller internationalen Organisationen – inklusive UN, EU und anderer –, dass über bestimmte Höchstsätze bei den Gehältern nicht hinausgegangen werden darf. Diese sollten sich am Gehaltsgefüge der lokalen Verwaltungen orientieren. Wird dies nicht beachtet, wird der Aufbau staatlicher Strukturen auf Dauer scheitern. Und neben dem Gehalt ist es natürlich von absoluter Dringlichkeit, dass die Besetzung der Stellen in der Verwaltung auf der Basis von Qualifikation und Verdiensten erfolgt.
3. Zusätzliche Investitionen in die Landwirtschaft
Im oberen Teil wurde bereits darauf hingewiesen, dass neben der Ausbeutung von bestimmten Bodenschätzen die Landwirtschaft das Rückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung der Sahelstaaten ausmacht. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Notwendigkeit, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu schaffen, sollte ein verstärktes Augenmerk auf die Förderung der Landwirtschaft gelegt werden. Eine herausragende Rolle sollte hierbei ein umfassendes, dezentrales Bewässerungsprogramm spielen, das von der internationalen Gemeinschaft massiv unterstützt und gefördert werden sollte. Auch hierfür ist ein sicheres Umfeld (siehe Punkt 1) von entscheidender Bedeutung.
Neben diesen Aktivitäten sollte auch das überregionale Großprojekt zum Aufbau einer Grünen Mauer in der Sahelregion massiv unterstützt werden. Hier ist beispielsweise Deutschland augenscheinlich im Gegensatz zur französischen Entwicklungshilfeorganisation AFD nur im Rahmen von EU-Förderungen beteiligt. Dabei ist die Trägerorganisation für dieses Projekt, die UN Convention to Combat Desertification, sogar am UN-Standort Bonn angesiedelt.
4. Stärkerer Fokus auf das Thema Demografie und größere Bescheidenheit in den zivilgesellschaftlichen Zielen
Mit Blick auf die extrem dynamische Bevölkerungsentwicklung ist es zwingend, dass sich die internationale Gemeinschaft auch dieser Herausforderung stärker annimmt – auch wenn die internationalen Geber sich damit schwer tun. Aber: Gerade für die Sahelstaaten gilt, dass sie durch das aktuelle Bevölkerungswachstum in der Armut gefangen gehalten werden und es für sie keine Alternative gibt, „wenn sie dem malthusischen Zusammenbruch entgehen wollen, der sie bedroht“. Das ungebremste Bevölkerungswachstum in der Region ist nicht nur für die betroffenen Länder selbst, sondern – wie oben bereits aufgezeigt – auch für benachbarte Länder eine Herausforderung für die Zukunft.
Nicht zuletzt muss auch die Frage erlaubt sein, ob die internationale Gemeinschaft angesichts der enormen Probleme, vor denen die Region steht, von Beginn an auf die Einhaltung sämtlicher wünschenswerter Prinzipien bestehen sollte. Vielleicht ist es auch nicht erstrebenswert, wenn zwar formal demokratische Strukturen errichtet sind, diese aber nicht wirklich gelebt werden. Zunächst sollten überhaupt Strukturen geschaffen werden, mit denen der Staat Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen kann. Zwischenlösungen sollten erlaubt sein. Das Ziel einer auch demokratischen Entwicklung wird damit nicht aufgegeben.
5. Erweiterung des Blickfeldes: Unterstützung des Kern-Sahel und der Stabilitätsanker um den Sahel herum
In der bundesdeutschen Diskussion wird der Einsatz in der Sahelregion häufig als „Mali-Einsatz“ betitelt. Derzeit ist zwar der größte Teil des deutschen Bundeswehr-Engagements auf Mali konzentriert, unser Fokus sollte sich aber nicht auf Mali verengen. Nicht nur die Karten des französischen Außenministeriums zur Sicherheitslage in Westafrika belegen eindrücklich, dass die Unsicherheit immer mehr Raum greift und mittlerweile sogar in Staatsgebiete hineinreicht, die bislang als Stabilitätsanker in der Region gelten. So beispielsweise von Burkina Faso nach Süden über die Grenzen von Côte d’Ivoire, Ghana, Togo und Benin.
Zum jetzigen Zeitpunkt böte sich vermutlich noch Gelegenheit, diese Staaten deutlich stärker als bisher wirtschaftlich, politisch und, wenn notwendig, auch militärisch zu unterstützen, damit dieser schleichende Prozess der zunehmenden Bedrohung der Sicherheit gebremst und vielleicht sogar zurückgedrängt werden kann.
Fazit
Kurz nach dem Fall von Kabul und dem Abzug der letzten NATO-Soldaten gab es Stimmen, die dem Westen vorwarfen, zu früh das Handtuch geworfen zu haben. Selbst der ehemalige Co-Vorsitzende der grünen Heinrich-Böll-Stiftung findet, dass es dem Westen häufig an strategischer Geduld fehle. Und: „Liberale Demokratien tun sich schwer damit, militärische Missionen über einen langen Zeitraum fortzusetzen und Rückschläge in Kauf zu nehmen.“
Mit Blick auf Afghanistan sind die Würfel gefallen, der Westen hat sich zurückgezogen. Im Sahel kommt es jetzt darauf an, sich nicht zurückzuziehen, sondern die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen, damit die Region genügend Kräfte entwickelt, um sich selbst auf die Beine stellen zu können. Noch scheint es hierfür nicht zu spät zu sein. Allerdings benötigen wir hierfür einen langen Atem, die richtige Strategie und natürlich auch die Unterstützung der Bevölkerung, hier wie dort. Einfach wird es nicht. Und es muss auch nicht nach René Billaz gehen, der es als „geopolitische Dringlichkeit“ bezeichnete, „aus dem Sahel ein Schlaraffenland zu machen“. Es wäre schon ausreichend, wenn die Länder der Region ihre Potenziale besser nutzen könnten – zum eigenen Vorteil, aber auch zur Entlastung der Nachbarn im Süden und im Norden.
Dr. Stefan Friedrich ist Leiter der Abteilung Subsahara-Afrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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