Ausgabe: 1/2022
Zehn Jahre nach Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings befindet sich Libyen zwar noch immer im Umbruch, doch lassen jüngste Entwicklungen vorsichtig auf eine Stabilisierung der Lage hoffen. Wie viele andere Länder der Region wurde auch Libyen 2011 von der Protestkraft seiner Bürger überrascht und das Regime von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi gestürzt. In den folgenden Jahren kam das Land nicht zur Ruhe und wurde zum Ort eines geopolitischen Stellvertreterkonflikts internationaler Akteure. Durch den von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Kooperation mit den Vereinten Nationen (UN) einberufenen Berliner Libyen-Prozess im Januar 2020 stabilisiert sich die Situation in dem nordafrikanischen Land jedoch kontinuierlich. Seit dem 23. Oktober 2020 hält außerdem der Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Konfliktparteien, obschon nach UN-Schätzungen nach wie vor bis zu 20.000 ausländische Söldner in Libyen stationiert sein sollen. Der angestrebte Abzug aller ausländischen Söldner und Truppen, vor allem aus Sudan, Tschad, der Türkei und Russland, wurde zuletzt im Rahmen der Zweiten Berliner Libyen-Konferenz im Sommer 2021 untermauert, soll nun aber nicht vor 2023 erfolgen.
Der seit November 2020 durch die UN-Unterstützungsmission für Libyen (UNSMIL) eingeleitete politische Dialogprozess ermöglichte auch aufgrund des persönlichen Engagements der bis Februar 2021 tätigen UN-Sonderbeauftragten für Libyen, der ehemaligen US-Diplomatin Stephanie Williams, und ihres Vorgängers Ghassan Salamé die Ankündigung von nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für den 24. Dezember 2021, Libyens 70. Unabhängigkeitstag. Auch wenn die Wahlen aufgrund einer fehlenden Verfassungsgrundlage auf voraussichtlich Juni 2022 verschoben wurden, hält der Frieden weiterhin. Seit Dezember 2021 ist Williams erneut mit dem Libyen-Dossier betraut, nunmehr als Sonderberaterin des UN-Generalsekretärs für dieses Land. Ferner wurde im März 2021 im Rahmen des Libyan Political Dialogue Forum (LPDF) eine Einheitsübergangsregierung (Government of National Unity, GNU) gewählt, die die institutionelle Einheit des Landes wiederherstellen soll. Obwohl sich der ölreiche Mittelmeeranrainerstaat nach wie vor in einer politisch fragilen Lage befindet und jederzeit erneut gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Ethnien, Milizen oder Stammesgruppen aufflammen könnten, befindet sich Libyen doch auf einem Konsolidierungspfad, der ohne die starke internationale Bereitschaft zur Unterstützung eines politischen Lösungsansatzes seit 2020 vermutlich so nicht erreichbar gewesen wäre. Ein Rückblick auf die letzten elf Jahre des Konflikts in Libyen lohnt sich, um zu verstehen, weshalb der Berliner Prozess nötig war, um festgefahrene Positionen im Friedensprozess zu lösen. Darüber hinaus gilt es zu verstehen, welche Rolle in der Gewalteskalation der letzten Jahre die internationale Koalition unter NATO-Führung gespielt hat, die Gaddafi stürzte, aber nicht über eine Langzeitstrategie für das Land verfügte.
Ausgelöst durch die unvorhergesehenen Protestbewegungen in Tunesien seit Dezember 2010 und in Ägypten, Jemen und Syrien seit Januar 2011, die den Sturz der Langzeitherrscher Zine al-Abidine Ben Ali und Husni Mubarak zur Folge hatten, formierten sich seit dem 15. Februar 2011 – vier Tage nach dem Sturz Mubaraks im benachbarten Ägypten – auch in der ostlibyschen Stadt Bengasi erste Protestbewegungen gegen das Unterdrückerregime des exzentrischen Despoten Muammar al-Gaddafi. Wie in den Nachbarländern Tunesien und Ägypten führten die Proteste auch in Libyen zu einer raschen Kettenreaktion und veranlassten tausende Bürger in Bengasi, Bayda, Derna und Zitan, auf die Straßen zu gehen. Die Bevölkerung verlieh ihrem Unmut und ihrer Verzweiflung über die jahrzehntelangen Demütigungen Ausdruck und stellte sich offensiv gegen das Regime Gaddafis.
Die zuerst dezentral und lokal auftretenden Demonstrationen erhielten, auch durch die Mobilisierungskraft sozialer Medien, zunehmend Zulauf und erreichten binnen weniger Tage auch die Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes. Die heftige Reaktion der Sicherheitsapparate in dem autoritär geführten Staat führte zu umso entschiedeneren Gegenreaktionen der aufgepeitschten Protestgruppen. Die Reaktionen durch Gaddafis Truppen führten nicht selten zu Todesopfern, fachten aber das Feuer der Rebellion nur noch weiter an. Innerhalb weniger Wochen hatten sich vorerst friedliche Proteste in einen blutigen Bürgerkrieg verwandelt, in dem Gaddafis Truppen die Gegenseite von der See und mithilfe von Söldnertruppen aus den südlichen Nachbarstaaten vom Boden und aus der Luft angriffen. Auch die einstimmig beschlossene Resolution des UN-Sicherheitsrats, die unter anderem Reiseverbote für Gaddafi und seine engsten Angehörigen beinhaltete und deren Vermögen einfror, ließ ihn (scheinbar) unbeeindruckt. So verwunderten die immer härtere Vorgehensweise der libyschen Streitkräfte und die martialische Rhetorik Gaddafis zuerst kaum. Die Bürger Bengasis sprach er noch im März mit folgenden Worten an: „Sie (Gaddafis Gegner) sind erledigt, sie sind beseitigt. Ab morgen gibt es nur noch uns in Bengasi und wir werden diese Stadt säubern. (…) Wir werden sie aufspüren, von Haus zu Haus, Straße zu Straße.“ Dass dies keine reine Rhetorik sein sollte, spürte die Stadt, als Gaddafis Truppen nur einen Tag nach der Verabschiedung der Resolution 1973 im UN-Sicherheitsrat, die unter anderem die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen vorsah, mit Panzern und Bodentruppen aufmarschierten. Keine 24 Stunden später war es die französische Luftwaffe, die das Feuer auf die libyschen Truppen eröffnete, kurz darauf gefolgt von der US-amerikanischen Marine. Komplettiert wurde die internationale Eingreiftruppe von mehreren NATO-Mitgliedern und den beiden Golfstaaten Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die in späteren Konflikten in Libyen weiterhin eine tragende Rolle spielen sollten.
Frankreich unter Staatspräsident Nicolas Sarkozy nahm eine Schlüsselrolle bei der Initiierung von UN-Resolution 1973 ein. Laut einem 2016 angefertigten auswertenden Bericht des Auswärtigen Ausschusses des Britischen Parlaments zum Libyen-Einsatz verfolgte Sarkozy mit der Libyen-Intervention folgende Ziele: Der Einfluss Frankreichs in Nordafrika sollte gestärkt werden, die französische Armee ihre globale Stellung ausbauen und Frankreich sich einen bedeutenderen Zugriff auf den libyschen Ölreichtum sichern. Zudem werden innenpolitische Beweggründe Sarkozys angeführt, da sich im April 2011 mehr als 60 Prozent der Franzosen in Umfragen für eine militärische Intervention in Libyen aussprachen. Außerdem konnte sich Sarkozy somit im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 als starker Mann porträtieren, der entschlossen für Stabilität in Europas südlicher Nachbarschaft sorgen wollte.
Der britische Parlamentsbericht von 2016 fällt ein hartes Urteil über die Entscheidung der Regierung David Camerons, sich dem französischen Narrativ zur Intervention in Libyen ohne eine ausgiebige Befassung mit der tatsächlichen Lage im Land anzuschließen. Aus der anfänglichen Erzählung einer dringenden Schutzverantwortung sei schließlich rasch eine „opportunistische Politik zum regime change“ ohne eine konsistente Strategie für eine Post-Gaddafi-Zeit geworden, so der Bericht. Cameron selbst bezog sich im März 2011 vor dem Parlament auf die Notwendigkeit einer militärischen Intervention gegen Gaddafi, da dieser vorherige UN-Resolutionen ignoriert und die libysche Bevölkerung nach einer internationalen Reaktion gerufen habe. Daher sei die Zeit von „roten Linien, Drohungen und letzten Chancen vorüber“ und ein entschlossenes Vorgehen gefragt gewesen.
Auch die Rolle der Türkei verdient Aufmerksamkeit, insbesondere da sich der damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan seiner guten Kontakte zu Gaddafi rühmte und das Land als NATO-Mitglied in eine besonders delikate Lage in dem Konflikt manövriert wurde. Erdoğan, der im Sommer 2011 eine erneute Mehrheit für seine islamisch-konservative AKP bei den Parlamentswahlen erlangen wollte, sah sich innenpolitisch einer kritischen Stimmung gegenüber einer französisch geführten Intervention in Libyen ausgesetzt. Frankreichs Ansehen in der Türkei war zu jener Zeit ohnehin gering, vor allem da sich Präsident Sarkozy wiederholt gegen einen türkischen EU-Beitritt ausgesprochen hatte. Erdoğan und sein damaliger Außenminister Davutoğlu kritisierten folglich die Libyen-Intervention anfangs scharf. Neben innenpolitischen Gründen dürften auch die mindestens 30.000 türkischen Arbeiter in Libyen und die traditionell engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Libyen zu dieser Haltung beigetragen haben. Nachdem das Einsatzkommando jedoch auf die NATO übertragen wurde, zeigte sich die Türkei als deren Mitglied zur aktiven Mitwirkung an der Mission bereit. Anschließend stellte das türkische Militär nach Parlamentsbeschluss im März 2011 fünf Fregatten und ein U-Boot zur Überwachung des UN-Waffenembargos gegen Libyen zur Verfügung. Rückblickend entbehrt dieser Beitrag nicht einer gewissen Ironie, da die Türkei seit 2019 wiederholt selbst bezichtigt wurde, das UN-Embargo gebrochen und die international anerkannte Übergangsregierung (GNA) mit Waffen versorgt zu haben.
Deutschland entschied sich für eine Enthaltung im UN-Sicherheitsrat und damit erstmals für eine Positionierung, die von der anderer NATO- und EU-Staaten abwich. Dennoch kann rückblickend konstatiert werden, dass sich die deutsche Haltung als richtig erwies. Zwar war dem Kanzleramt von Beginn an wichtig, dass die Resolution nicht an einer deutschen Enthaltung scheitern würde, doch wurden erhebliche Bedenken im Hinblick auf die praktischen Konsequenzen eines Einsatzes geäußert. Die deutsche öffentliche Meinung war mehrheitlich gegen eine Teilnahme an einer Militärintervention in Libyen. Ein entscheidendes Argument der Bundesregierung war jedoch, dass sich ein großes EU-Land wie Deutschland im Falle einer Zustimmung auch hätte militärisch aktiv beteiligen müssen. Dies wurde jedoch aufgrund der undurchsichtigen Lage in Libyen und der unkalkulierbaren Folgen kritisch bewertet. Die politischen Ziele der UN-Resolution wurden jedoch mitgetragen und die Bündnistreue Deutschlands innerhalb der NATO zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt.
Im Herbst 2011, nach knapp 10.000 Luftschlägen, war Gaddafi Geschichte – nach einem Luftangriff auf seinen Konvoi nahe seiner Heimatstadt Sirte von Rebellen gelyncht und in der Wüste (eines selbsterklärten Königs Afrikas unwürdig) begraben. Mit dem Sturz Gaddafis endete am 31. Oktober 2011 die NATO-Mission Unified Protector. Nur einen Tag später trat NATO-Generalsekretär Rasmussen in Libyen vor die Kameras und beglückwünschte die Libyer dazu, „ein neues Kapitel in der Geschichte Libyens“ zu schreiben, das auf „Freiheit, Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Versöhnung“ basiere. Gleichzeitig bekräftigte er, dass mit der Intervention ein „erfolgreiches Kapitel in der Geschichte der NATO abgeschlossen“ sei. Doch die rosige Zukunft, die er in seinen Reden vor Libyern in Tripolis, Bengasi oder Sirte zeichnete, stellte sich in den Folgejahren nicht ein. Der im Juli 2011 aus der in London begründeten Libya Contact Group hervorgegangene Nationale Übergangsrat (National Transitional Council, NTC) bereitete zwar erste freie Wahlen für 2012 vor, die auch abgehalten wurden, doch vermochten diese ersten demokratischen Gehversuche nach mehr als vier Jahrzehnten autoritärer Herrschaft das Land nicht vor gewaltsamen Auseinandersetzungen und Spaltungen zu bewahren. Welche Lehren können also aus der Militärintervention 2011 gezogen werden?
NATO-Erfolg oder internationales Scheitern?
Relativ schnell stufte die NATO die Intervention in Libyen als Erfolg ein und es sah zu Beginn danach aus, als wäre die Operation Unified Protector ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche Responsibility to Protect (R2P)-Mission. Die drei wesentlichen R2P-Säulen umfassen die Verantwortung von Staaten, ihre Bevölkerungen vor Kriegsverbrechen zu schützen, und unterstreichen die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, ihren Mitgliedern bei diesem Schutz beizustehen und im Einzelfall rechtzeitig zu intervenieren. So wurden etwa im libyschen Beispiel die eingerichtete Flugverbotszone eingehalten, Sanktionen schnell umgesetzt und das Gaddafi-Regime gestürzt. Ferner konnte mit dem Nationalen Übergangsrat eine Regierung installiert werden, die bis zur Abhaltung freier Wahlen die Amtsgeschäfte führen würde, um eine Transformation zu gewährleisten. Auch wenn im September 2011 mit der UN-Mission UNSMIL eine Monitoring- und Assistenzeinheit geschaffen wurde, so war das klare Ziel eine Transition, welche die Libyer hauptsächlich selbst erreichen sollten. Auf dem Papier klang die Idee eines demokratischen Übergangs in der Hand der Libyer – vor allem nach der desaströsen US-Intervention im Irak von 2003 – nach einer erfolgversprechenden Strategie. Doch welche Mängel veranlassten dann den scheidenden US-Präsidenten Barack Obama 2016 dazu, die Beteiligung der USA an der Libyen-Intervention in einem Interview als den „größten Fehler der Präsidentschaft“ zu bezeichnen und sogar zuzugeben, dass das Land nach der Intervention in einen chaotischen und so nicht angestrebten Zustand gelangt sei?
Der Duft der Revolution vs. ursprünglicher Auftrag
Bei dem Versuch einer Antwort auf diese Frage ist zu beachten, dass Libyens gesellschaftliche und geografische Verfasstheit komplex ist. Das Land wird von drei einflussreichen Regionen geprägt, die alle eine wichtige Rolle in den sozialen und militärischen Konflikten der jüngeren Vergangenheit spiel(t)en. Während der libysche Westen, Tripolitanien, traditionell enge wirtschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn nördlich des Mittelmeeres suchte, herrschen seit jeher enge Verbindungen der Stämme und Familien des libyschen Ostens, der Cyrenaika, nach Ägypten. Die Wüstengebiete im südlichen Fezzan mit porösen Grenzen zu den Nachbarstaaten Algerien, Tschad und Niger waren schon vor den Bürgerkriegen Rückzugsorte nichtarabischer Stämme, die seminomadisch leben und unter Gaddafis Herrschaft schonungslos verfolgt wurden.
Die territoriale und gesellschaftliche Komplexität Libyens spielen eine nicht unerhebliche Rolle für die nationale Identität des Landes. Ein klarer Gesellschaftsvertrag wurde nie ausgehandelt, sondern allenfalls von Gaddafi in seiner Jamahiriya (Herrschaft der Massen) bestimmt, in seinem Grünen Buch festgeschrieben sowie als libysche Gesellschafts- und Staatsdoktrin porträtiert. Schon vor der Unabhängigkeit standen sich das westliche Tripolitanien, mit dem Ideal einer Republik, und die östliche Cyrenaika, geprägt durch die Senussi-Dynastie und König Idris, gegenüber. Seit dem Putsch Gaddafis 1969 und der Schaffung seiner Jamahiriya konzentrierte sich die (internationale) Öffentlichkeit auf Gaddafi und seine Vertrauten, welche sich aus benachteiligten Familien aus den ländlichen Regionen zusammensetzten. Tatsächlich war die öffentlich proklamierte Basisdemokratie vielmehr ein Vehikel, um Loyalitäten zu schaffen und die totale Kontrolle über ein nahezu unkontrollierbares Land zu erlangen – ein trügerischer Frieden für lange Zeit. Auch wenn das Grüne Buch den offiziellen Gesellschaftsvertrag darstellte, so konnte auch diese Schriftsammlung die jahrhundertelang gewachsenen Stammesstrukturen, die von nun an keine aktive politische Rolle mehr spielten, nicht ersetzen. Die Jamahiriya war die Grundlage für das von Gaddafi selbst konzipierte Staatssystem, eine gemeinsame Identität versprach sie hingegen nicht. Bis heute halten die identitätspolitischen Debatten darüber, ob das Land nun als muslimisch oder arabisch definiert werden könne, an.
Diese komplexe und vielschichtige Gesellschaftsstruktur Libyens wurde bei der NATO-Intervention 2011 nur unzureichend berücksichtigt. In allen offiziellen Dokumenten wurde die gesellschaftliche Fragmentierung des Landes missachtet und Libyen als eine funktionale Entität angesehen. Von daher überrascht auch nicht, dass sich einige Akteure der Allianz nicht mehr nur mit dem ursprünglichen Ziel der Mission Unified Protector, nämlich der Prävention von Massakern an der libyschen Bevölkerung durch Gaddafis Truppen, befassten, sondern im Momentum des „Arabischen Frühlings“ auch hofften, mit militärischen Mitteln einen Regimewechsel zu beschleunigen. Verkannt wurde jedoch, dass die Gegner Gaddafis – abgesehen von dem Ziel, den Diktator zu stürzen – kaum gemeinsame Visionen für die Zukunft Libyens hatten oder in einen Dialog traten. Im Gegensatz zu den meisten Revolutionen gab es keine charismatische Führungspersönlichkeit, keine gewachsenen Oppositionsstrukturen oder anderen Institutionen wie eine funktionale Verwaltung, die ein umfassendes Vakuum nach einem Sturz hätten ausfüllen können. Dem übergeordneten Ziel der Kernallianz der NATO-geführten Intervention, einen Regimewechsel in Libyen militärisch herbeizuführen, wurde eine ausreichende Befassung mit den politischen Langzeitfolgen für das Land untergeordnet.
Die Debatte darüber, ob die NATO-Intervention als explizites Ziel einen Regimewechsel gehabt habe, wird seit Beginn der Mission kontrovers geführt. Interessanterweise betonte bereits in der Sitzung des UN-Sicherheitsrats vom 17. März 2011 der britische Vertreter Sir Mark Lyall Grant, dass das Gaddafi-Regime all seine Legitimation verloren habe, und auch der deutsche UN-Botschafter Peter Wittig machte klar, dass es darum gehe, das unmissverständliche Zeichen zu setzen, dass Gaddafis Zeit vorbei sei. Solche Aussagen nähr(t)en Spekulationen darüber, ob der Regimewechsel nicht doch bereits seit Beginn ein proaktives Ziel der Allianz gewesen sein könnte. Dabei sollte jedoch nicht in Vergessenheit geraten, dass die Proteste gegen das autoritäre Gaddafi-Regime im Zuge der Umbrüche des „Arabischen Frühlings“ seit dem Sturz Ben Alis in Tunesien die gesamte Region erfassten und vor allem von den Bevölkerungen vor Ort selbst initiiert wurden. Es stand auch für große Teile der libyschen Bevölkerung selbst außer Frage, dass die Zukunft des Landes nur ohne Gaddafi gestaltet werden könne. Folgerichtig waren sie selbst es, die den Diktator später töteten.
Hätten sich Akteure wie Frankreich auf das ursprüngliche Mandat, nämlich den militärischen Schutz der Zivilbevölkerung vor Gaddafis Truppen aus der Luft, beschränkt, so hätte dieses nicht so zielstrebig und zügig beendet werden können. Ohne die direkte und indirekte Unterstützung durch Aufklärung, die Bombardierung von gegnerischen Stellen oder Waffenlieferungen hätten die Aufständischen kaum so schnell Gaddafis Truppen zurückdrängen können. Dem gegenüber stand die Hoffnung, dass sich durch einen längeren Kampf eventuell eine Führungsgruppe oder -persönlichkeit hätte herauskristallisieren können, welche symbolisch für einen nationalen Aufbruch hätte stehen können.
Gelegenheit macht Diebe – oder führt zu Krieg
Bei allen Unklarheiten in der Umsetzung der Resolution 1973 und den übergeordneten Zielen einer militärischen Intervention blieb eine Option von Beginn an ausgeschlossen: Ein Einsatz mit Bodentruppen sollte nicht stattfinden. Gleichzeitig war auch klar, dass allein die Flugverbotszone, das Austrocknen der Finanzströme Gaddafis und seiner engsten Vertrauten sowie die Luftstöße der Koalition den Diktator nicht zu Fall bringen würden. Von daher entschieden einzelne Koalitionsakteure, die Rebellen durch Luftbrücken mit Munition und Waffen zu versorgen, um das militärische Ungleichgewicht auszugleichen. Trotz völkerrechtlich schwieriger Konstellation herrschte eine grundsätzliche Einigkeit in der Koalition, dass leichte Waffen sowie Panzerabwehrraketen an verschiedene Rebelleneinheiten im ganzen Land per Luftbrücken verteilt werden sollten. Gepaart mit den Vorräten an Waffen und Munition, gelagert von Gaddafis Truppen in Depots im ganzen Land, machte dies Libyen vor allem nach dem Sturz des Machthabers zu einem Umschlagplatz für Waffen sämtlicher Art. Laut Schätzungen des UN-Büros für Drogen und Kriminalität (UNODC) kamen bis zu 700.000 Waffen aus den Depots der früheren libyschen Armee nach 2011 in den Umlauf und auf den freien Markt.
Als Hauptverantwortliche für das Eldorado des freien Waffenhandels auf libyschem Boden sind die internationale Gemeinschaft und vor allem die NATO nicht auszumachen, da das Arsenal der libyschen Streitkräfte unter Gaddafi bereits als eines der größten auf dem afrikanischen Kontinent galt. Die militärische Mobilisierung aller Rebellengruppierungen unabhängig von ihrer ideologischen Verortung und potenzieller Feindseligkeit internationalen Akteuren gegenüber hat jedoch auch dazu beigetragen, dass sich aus einer geeinten Front gegen Gaddafi ein anarchischer Bürgerkrieg entwickelte, der das Land in eine weitere Chaosspirale zog. So ist es bei aller Tragik auch bezeichnend, dass beim Terrorangriff der dschihadistischen Ansar al-Sharia auf den US-amerikanischen Botschaftskomplex in Bengasi am 11. September 2012, bei dem auch der damalige US-Botschafter Christopher Stevens sein Leben verlor, unter anderem US-amerikanische Waffen zum Einsatz kamen, die 2011 von Katar mit Kenntnis Washingtons verkauft worden waren.
Durch die wenig strategische Bewaffnung von Anti-Gaddafi-Einheiten konterkarierten die in der Intervention involvierten Staaten das grundsätzliche Waffenembargo, welches in der Resolution 1970 im März 2011 einstimmig verabschiedet, wenige Monate später allerdings aufgeweicht wurde. Eine abgestimmte und direkte materielle Unterstützung unter Einhaltung aller internationalen Vorgaben, wie etwa der Genehmigung von Lieferungen durch das UN-Sanktionskommittee, hätte den Kampf zwischen dem Regime und den Rebellen womöglich verlängert, Nebeneffekte, wie die unbeabsichtigte Bewaffnung von dschihadistischen Gruppierungen, hätten jedoch verhindert werden können.
Prioritäten in einem fragmentierten Land
Der Sturz eines Regimes, vor allem nach mehr als 40 Jahren Alleinherrschaft, gelingt selten reibungslos. Die Aufgaben, die eine Übergangsregierung erwarten, sind vielfältig und haben alle eine gewisse Priorität: Verwaltungsreformen, Verfassungsänderungen, Organisation von Wahlen und eine Reform des Sicherheitssektors inklusive der Frage, wie mit ehemaligen Akteuren aus dem Sicherheitsapparat der Vorgängerregierung und eventuell auch irregulären Truppen umgegangen werden muss. So war es auch in Libyen. Zwar war der Sturz Gaddafis nötig, um die Zivilbevölkerung zu schützen und ihr eine Zukunftsperspektive zu bieten, doch eine fragmentierte Opposition mit verschiedenen Ideen für die Zukunft Libyens und die zeitgleiche Dysfunktionalität des Staatsgerüsts trugen zur weiteren Destabilisierung des Landes bei.
Auch aufgrund der sozialen Fragmentierung war es rückblickend politisch naiv, davon auszugehen, dass eine schwache Übergangsregierung die Grundsteine für ein resilientes Libyen auf Basis demokratischer Werte legen könnte. Dass die UNSMIL-Mission die Flankierung des politischen Transformationsprozesses als prioritär bewertete, aber die Sicherheitslage aus den Händen gleiten ließ, hätte durch eine stärkere Fokussierung auf sicherheitspolitische Elemente vermieden werden können. Eine UN-Stabilisierungsmission, die die physische Sicherheit der libyschen Bevölkerung zu gewährleisten versucht hätte, wäre ein wichtiges Element gewesen, um die weitere Eskalation in dem nordafrikanischen Land zu vermeiden.
Freunde werden Gegner
Die ursprüngliche Intervention in Libyen wurde in den Anfängen als Erfolg multilateraler Zusammenarbeit im Krisenfall bewertet. Neben den NATO-Staaten Frankreich und Großbritannien, zu Beginn auch den USA, folgten zügig Nichtmitglieder wie Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die sich in den Dienst der Mission stellten.
Ferner gab es etliche Unterstützer, welche beispielsweise Überflugrechte für Kampfflugzeuge gewährten oder ihre Infrastruktur am Boden freigaben. So konnte auch Deutschland, das sich bei der Verabschiedung der Resolution 1973 im UN-Sicherheitsrat, wie auch China und Russland, enthalten hatte, zumindest das Gesicht wahren, nachdem es für seine passive Haltung international kritisiert worden war. Das Ziel der Mission, nämlich die Rebellen dabei zu unterstützen, Muammar al-Gaddafi zu stürzen, wurde erreicht, doch dies war auch der Anfang vom Ende der Koalition der Willigen.
Auf die zerbrochene Koalition folgten fast zehn Jahre blutiger Konflikte mit wechselnden Allianzen, konkurrierenden Machtzentren in Ost- und Westlibyen, legitimationslos agierenden Milizen und verschiedenen ausländischen Unterstützern. Neben dem Ringen um geostrategischen Einfluss der Türkei und Russlands – zweier Mächte mit regionalen Ambitionen, die ursprünglich eine Intervention kritisch gesehen hatten – spielte auch Frankreich mit der offenen Unterstützung General Haftars bis 2020 keine unbedeutende Rolle im Konflikt und beschwor sogar einen (weiteren) Konflikt innerhalb der NATO herauf. Während die GNA in Tripolis von den meisten Akteuren aus EU und NATO als Hauptansprechpartner identifiziert wurde, stellte sich Frankreich offen an die Seite von Haftar und seiner libyschen Nationalarmee (LNA). Damit fiel man nicht nur den eigenen Bündnispartnern in den Rücken, sondern schützte unabsichtlich auch russische Absichten in Libyen, die in der festen Installation der russischen Wagner-Söldner gipfelten. Das Narrativ, dass Haftar islamistischen Terror bekämpfe und insgesamt ein guter Partner für die internationale Gemeinschaft sei, wurde spätestens 2019 in seinen Grundfesten erschüttert, als vermehrt Berichte über Massaker der LNA bekannt wurden. Obgleich Paris – auch durch den Berliner Prozess – gesichtswahrend seine Position korrigieren konnte, wurde die Integrität der NATO durch Alleingänge Frankreichs in dem Konflikt erschüttert.
Ein ähnliches Urteil lässt sich auch über die aggressive türkische Protektionspolitik in Libyen fällen. Zwar muss festgestellt werden, dass eine politische Lösung wie der Berliner Prozess nur möglich geworden ist, weil die Türkei mit einer kosten- und personalintensiven Intervention auf Einladung und an der Seite der UN-anerkannten GNA-Regierung den Fall von Tripolis verhindert hat, jedoch bleibt die Rolle der Türkei im Libyen-Konflikt bis heute zweifelhaft. Das NATO-Mitglied weigerte sich in der Vergangenheit wiederholt, die EU-Mission IRINI zur Sicherung der Einhaltung des UN-Waffenembargos türkische Schiffe vor der libyschen Küste kontrollieren zu lassen. Außerdem versteht die Türkei ihre in Libyen stationierten Soldaten nicht als ausländische Kräfte, die zeitnah abziehen müssten. Dabei bezieht sich die Türkei auf ein Abkommen mit der GNA von 2019. Libyen ist nur eines von verschiedenen Beispielen einer erstarkten türkischen Rolle in der MENA-Region und deren Peripherie. Wie in anderen Ländern der Region auch versuchte die Türkei mit verschiedenen Mitteln, islamisch-konservative Kräfte in Libyen zu stärken. Das personell und finanziell intensive Engagement im Land wird seit jeher national wie international kritisch beobachtet. Bereits 2015 meldeten sich kritische Stimmen in der Türkei, welche der Regierung und Staatspräsident Erdoğan vorwarfen, islamistische Strömungen und Gruppierungen in Libyen zu unterstützen. Permanent an der Seite der Regierung in Tripolis schwang sich die Türkei über die Jahre als Gegenpol zu den Unterstützern Haftars auf.
Es ist zu konstatieren, dass jeder Gestaltungsakteur in Libyen eigene Intentionen im Konflikt hat. So stehen neben wirtschaftlichen Interessen, die vor allem mit Investitionen im Ölsektor zu tun haben, politische Einflussmöglichkeiten, aber auch strategische Positionierungen im Mittelmeerraum oder einfach nur eigene nationale Interessen der Befriedung von Grenzen mit allen Mitteln (Ägypten), welche, zuvor kaum moderiert, dazu geführt haben, dass jeder Akteur seinen persönlichen Favoriten mit Waffen, regulären und irregulären Truppen, Propaganda oder Netzwerken unterstützt.
Schlussfolgerungen
R2P ist wichtig – das Follow-up aber noch mehrDas Prinzip von R2P ist umstritten, aber wichtig. Massaker wie in Srebrenica oder Ruanda haben die internationale Gemeinschaft gelehrt, dass ein Abwarten zu einer Mitschuld führt, welche sich schwerlich rechtfertigen lässt. 2011 stand Muammar al-Gaddafi mit seinen Truppen vor Bengasi – mit klaren Aussagen, was mit den Aufständischen hätte geschehen können. Deshalb waren ein schnelles Eingreifen, eine schnelle Verabschiedung einer Resolution und der Vorstoß, ein koordiniertes Eingreifen unter der Führung der NATO durchzuführen, richtig. Auch die Kritik, dass sich einige der wichtigsten Nationen in diesem Einsatz früh über das ursprüngliche Mandat, nämlich den reinen Schutz der Zivilbevölkerung, hinweggesetzt und sich für eine Unterstützung zum Sturz Gaddafis entschieden haben, ist zwar nach wie vor eine Debatte unter Völkerrechtlern. Anders hätte die libysche Bevölkerung allerdings kaum vor Gaddafis Rache geschützt werden können. Es ist ausgeschlossen, dass ein reiner Schutz Bengasis und die Machtdemonstration der internationalen Gemeinschaft dazu geführt hätten, dass der Diktator keine Rache an den Aufständischen geübt hätte. Dass diese subtiler durch seinen Apparat an Geheimdiensten und ihm loyalen Gruppierungen in nahezu allen Regionen Libyens geschehen wäre, liegt auf der Hand. So war auch sein Sturz alternativlos. Dass die Gefangennahme durch libysche Rebellen geschah, steigerte auch die Legitimität der internationalen Truppen, die sich auf ihre Unterstützerrolle beschränkten. Deshalb hatte NATO-Generalsekretär Rasmussen bei seinem Besuch in Libyen nicht Unrecht mit seiner Bewertung, auch wenn die Ausweitung des Mandates völkerrechtlich zumindest eine Grauzone darstellt. Dem Erfolg der Mission Unified Protector steht eine fast beispiellose Niederlage gegenüber, die vor allem Europa zu verantworten hat. Auch wenn eine gewisse Müdigkeit durch die Einsätze in Afghanistan und dem Irak verständlich ist, so hätten Paris, Rom oder Berlin antizipieren müssen, dass sich ein nicht mehr existenter Staat in der direkten Nachbarschaft nicht von selbst wieder aufbauen wird. So überließ man das Land sich selbst bzw. einer sehr rudimentären UN-Mission, welche kaum ein Augenmerk auf die sicherheitspolitischen Dimensionen legte und in den Folgejahren weiter an Bedeutung verlor.
Erwähnung finden sollte auch der Versuch autoritärer Staaten, vor allem Russlands und Chinas, den R2P-Ansatz zu diskreditieren und ihn als westlichen Vorwand für langfristig destabilisierende Interventionen zu diffamieren. Russland nimmt in Libyen seit 2019 eine wichtige Rolle ein und unterstützte in der Vergangenheit insbesondere Feldmarschall Khalifa Haftar bei seinem Versuch, Westlibyen unter seine Kontrolle zu bringen. Dabei standen der privaten russischen Wagner-Söldnertruppe zwischenzeitlich auch türkische Kräfte direkt gegenüber. Russland zeigt sich prinzipiell reserviert und zögerlich gegenüber dem R2P-Ansatz und zieht inzwischen bewusst die Libyen-Intervention als Beleg für seine Bedenken heran. Die NATO-Intervention 2011 habe den weiteren chaotischen Verlauf und die Entstehung von Bürgerkriegen in dem nordafrikanischen Land erst verursacht, so die Auffassung Putins. Dieses Argument dürfte jedoch von der eigentlichen Furcht Russlands ablenken, dass externe Interventionen zur Vermeidung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstmals auch auf Regierungen Anwendung finden könnten, die völkerrechtswidrig territoriale Ansprüche gewaltsam umsetzen.
Die internationalisierten Konflikte der vergangenen zehn Jahre spiegeln eine Realität wider, welche sich bereits wirtschaftlich niedergeschlagen hat – die Zeit der „westlichen“ Dominanz ist vorbei und es schwingen sich vermehrt neue Gestaltungsakteure und Regionalhegemone auf, die ihren Einfluss in den einzelnen Regionen, teilweise um jeden Preis, erweitern wollen. Wenn es sich um die direkte Nachbarschaft Europas handelt, wie es im Konflikt in Libyen der Fall ist, dürfen weder EU noch NATO diesen Akteuren das Feld überlassen oder indirekt mit ihnen eine Außenpolitik betreiben, die sich gegen die eigenen Bündnispartner stellt. Von daher muss bereits zu Beginn eine gemeinsame Stoßrichtung vorgegeben werden, die Alleingänge nicht erlaubt. So ist es auch einfacher, Systemkonkurrenten wie Russland oder China, die als störende Elemente bereits in Konflikten agierten und auch zukünftig agieren werden, in Schach zu halten. Darüber hinaus werden folgende Fragestellungen in zukünftigen Konflikten weiterhin zentral bleiben:
Wie wird eine Balance zwischen werte- und interessengeleiteter Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen? Wo lohnt sich eine Intervention?
Militärische Interventionen sind gesellschaftlich wenig opportun in Europa und Deutschland. Dies ist vor allem dann zu beobachten, wenn es um Fragen des regime change in Autokratien geht, welche die eigene Bevölkerung bedrohen, kurzfristig jedoch keine Gefahr für Europa darstellen. Dass R2P grundsätzlich ein Konzept ist, welches den moralischen Kompass und die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft den Bevölkerungen in Konfliktregionen gegenüber beachtet, ist lobenswert. Worüber sich Entscheidungsträger jedoch klar sein sollten: Bei Aggressionen durch Regierungstruppen, die R2P hervorrufen, ist ein Fortbestehen der Regierung im Krisengebiet kaum zu gewährleisten und in den allermeisten Fällen auch nicht gewünscht. Von daher werden die light footprint-Einsätze eher die Ausnahme denn die Regel sein und einhergehen mit einem regime change sowie den damit verbundenen aufwendigen Maßnahmen des Wiederaufbaus eines Staates.
Inwiefern liefert eine Intervention Nährboden für neue Konflikte?
Konflikte lösen sich selten von allein, auch Interventionen sind mitunter keine Garantie dafür, dass ein nachhaltiger Frieden entsteht. Im Falle der Libyen-Intervention haben das Eingreifen zusammen mit dem relativ schnellen Abflauen des internationalen Interesses am Wiederaufbau des Staates dazu geführt, dass sich ein wichtiger Staat in Europas direkter Nachbarschaft hin zu einem Durchlauferhitzer für verschiedene Konflikte entwickelt hat, die in der Folge eskalierten. Anhänger des sogenannten Islamischen Staates, die in Libyen ausgebildet wurden und erste Kampferfahrung sammelten, reisten später nach Syrien und in den Irak weiter, Waffen und Söldner bewegten sich ohne größere Probleme von Libyen in den Sahel und zurück. Flüchtlinge (sowohl aus anderen Ländern als auch Binnenvertriebene) wurden zur Ware für Milizen und das organisierte Verbrechen. Mit einer umfassenderen Strategie zum Wiederaufbau nach dem Sturz Gaddafis hätte vor allem Europa dazu beitragen können, dass sich einige der oben genannten Begleiterscheinungen des libyschen Staatszerfalles nicht in dem Maße hätten entwickeln können. Bei zukünftigen Konflikten in der direkten Nachbarschaft Europas wäre es daher wünschenswert, wenn ein proaktives und vor allem abgestimmtes Vorgehen Europas die Risiken für ein solches Bedrohungsszenario minimieren könnte.
Lukas Kupfernagel ist Referent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Thomas Volk ist Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog im Südlichen Mittelmeerraum der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Tunis.
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