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J. Scott Applewhite, AP, picture alliance.

Auslandsinformationen

Der nordamerikanische Blick auf die Arktis

Wie Kanada und die USA auf Veränderungen im hohen Norden reagieren

Als der legendäre US-amerikanische Marinestratege Alfred Thayer Mahan Ende des 19. Jahrhunderts die doktrinären Grundlagen der US-Marine mit ihrem zentralen Prinzip der maritimen Dominanz definierte, kam die Arktis darin noch nicht vor. Durch den Wiederaufbau russischer maritimer Kapazitäten nach dem Kalten Krieg und die parallel forcierten chinesischen Ambitionen, die US-amerikanische Hegemonial­macht überall herauszufordern, ändert sich jedoch die Bedeutung der Arktis sowohl für die ­USA als auch für Kanada signifikant. Das stellt beide Arktisanrainer­staaten in ihrer Sicherheitspolitik vor große Herausforderungen.

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Die Verteidigung des Nordatlantiks beginne in der Arktis, unterstrich der Kommandeur der Zweiten US-Flotte, Vizeadmiral Daniel Dwyer, in einem Podcast eines kanadischen Thinktanks im Sommer 2022. Historisch umfasste das Einsatzgebiet der in Norfolk/Virginia beheimateten Zweiten Flotte immer auch den Nordpol und Teile der Arktis. Die Reaktivierung der Flotte im Jahr 2018 (nach ihrer Deaktivierung 2011) spiegelt wie kaum eine andere Maßnahme die finale Erkenntnis einer neuen geopolitischen Realität beziehungsweise eine veränderte Bedrohungsperzeption in den USA wie auch in Kanada wider.

 

Die „arktische Nation“ Kanada

Aus kanadischer Sicht ist die Arktis seit dem Beginn des Kalten Krieges eine der kritischsten und wichtigsten strategischen Zonen. Das Ende jenes Konflikts trug zunächst zu dem Eindruck bei, dass einige der geopolitischen Faktoren, die die Arktis zu einer so gefährlichen Zone gemacht hatten, verschwunden seien – und für kurze Zeit war dies wohl auch der Fall. Aber mit der Machtübernahme Wladimir Putins und der darauf folgenden Entscheidung, die Arktis zu militarisieren, hat sie ihre zentrale Bedeutung im internationalen System als Zone der strategischen Interaktion wiedererlangt. Russlands aggressiveres militärisches Auftreten seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und noch mehr der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 haben diese kanadische Bewertung verstärkt.

Kanada ist flächenmäßig das zweitgrößte Land der Welt nach Russland und hat sechs Zeitzonen. Von Toronto aus fliegt man weiter zum Nordpol als zum Äquator. Dennoch sehen sich die Kanadier selbst als arktische Nation. Diese Eigenwahrnehmung findet sich bereits in der Nationalhymne, und nicht selten stellen Repräsentanten des Staates in ihren Verlautbarungen heraus, man sei ein nördliches Volk. Zumindest rhetorisch scheint Kanada daher eine starke Bindung an die Arktis zu haben. Die überwiegende Mehrheit, etwa 95 Prozent der Bevölkerung, lebt indes innerhalb einer 400 Kilometer breiten Zone entlang der Grenze zu den USA, 72 Prozent sogar in einer sehr kleinen Zone südlich des 49. Breitengrads, der zum Teil die US-kanadische Grenze markiert – mithin also weit entfernt von arktischen Gefilden.

 

Abb. 1: Geografische Verteilung der Bevölkerung Kanadas

Geografische Verteilung der Bevölkerung Kanadas

 

Quelle: eigene Darstellung nach Allison, Robert 2021: Where do Canadians live?, Graphically Speaking Blog, SAS Institute, 11.11.2021, in: https://bit.ly/3Wucu3T [06.03.2023]. Karte: Natural Earth.

 

 

Auch deshalb sind die drei nördlichen Provinzen und Territorien Kanadas (Nunavut, die Northwest Territories und Yukon) für die kanadische Politik oft nicht wirklich attraktiv. Sie erregen gelegentlich politische Aufmerksamkeit, provozieren aber kaum einmal politisches Handeln. Das gilt auch hinsichtlich sicherheitspolitischer Aspekte – trotz der strategischen Bedeutung der Region: Obwohl eine Regierung nach der anderen Lippenbekenntnisse zur Entwicklung des Nordens abgegeben hat, ist in der Realität häufig nicht viel davon zu sehen. Die USA erinnern Kanada regelmäßig daran, dass es seine Souveränität in der Arktis auch ausüben sollte, wenn es sie beansprucht. Der frühere, von 2006 bis 2015 amtierende, konservative Premierminister Stephen Harper fuhr zumindest jeden Sommer in den Norden, um an der jährlichen Militärübung „Operation Nanook“ teilzunehmen. Sein Nachfolger, Premierminister Justin Trudeau von den Liberalen, ist diesem Beispiel bisher nicht gefolgt.

 

Die Arktisstrategie Kanadas

Kanada verfügt gleichwohl seit Jahrzehnten über eine formalisierte Arktisstrategie. Das Hauptziel der kanadischen Strategie ist die Bekräftigung der Souveränität durch internationale Anerkennung der Präsenz und der Positionen Kanadas in der Arktis. Das geht zurück auf die Zeit der Regierung des konservativen Premierministers Brian Mulroney zwischen 1984 und 1993, als in der Arktis eine strittige Souveränitätsfrage mit den USA ausgetragen werden musste, die als „Polar-Sea-Kontroverse“ von 1985 in die Geschichte eingegangen ist. Der US-amerikanische Eisbrecher USCGC Polar Sea befuhr seinerzeit ohne offizielle Genehmigung der kanadischen Regierung die Nordwestpassage der Arktis von Grönland nach Alaska, da die USA damals wie heute die Nordwestpassage als internationale Meerenge ansehen, die der Schifffahrt offensteht. Die kanadische Regierung hingegen vertrat und vertritt die Auffassung, dass die Passage innerhalb der kanadischen Grenze liegt. Dennoch wurde Kanada über die bevorstehende Fahrt informiert und beschloss, mit den US-Amerikanern zusammenzuarbeiten. Die Regierung Kanadas stellte Beobachter zur Verfügung, die während der gesamten Versorgungsfahrt an Bord des US-Schiffes bleiben sollten. Als die Pläne für die Fahrt des Eisbrechers bekannt wurden, kam es im kanadischen Parlament jedoch zu einer Auseinandersetzung, bei der die Kritiker behaupteten, die Fahrt des Eisbrechers verletze die Souveränität des Landes, während die andere Seite dies verneinte und das Argument als „absichtlich antiamerikanisch“ bezeichnete.

Im September 2019 startete der kanadische „Rahmen für die Arktis und den Norden“.

Bei den Bemühungen der seit 2015 regierenden kanadischen Liberalen, eine eigene Arktispolitik zu entwickeln, liegt der Schwerpunkt auf innenpolitischen Fragen. Im Dezember 2016 verpflichtete sich Premierminister Trudeau, gemeinsam mit Bewohnern des Nordens und indigenen Partnern ein neues Rahmenwerk für die Arktispolitik zu entwickeln. Das Jahr 2017 war von Rundtischgesprächen mit Bewohnern der Arktis und des Nordens, Jugendlichen sowie wichtigen Experten und Interessenvertretern einschließlich der Industrie, Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen geprägt, bevor im November 2017 die Veröffentlichung eines Diskussionsleitfadens erfolgte. Dieser Leitfaden verfolgte das politische Ziel, von den Bewohnern der kanadischen Arktis und von allen Kanadiern zu erfahren, was sie sich für die Arktis wünschten. Er fokussierte sich auf die Frage, was getan werden könne, um eine starke, wohlhabende und nachhaltige kanadische Arktis zu unterstützen. 2018 und 2019 wurden der Ausarbeitung und Validierung des Rahmenwerks mit den Partnern gewidmet, bevor im Bundeshaushalt 2019 neue und zweckgebundene Mittel in Höhe von mehr als 700 Millionen kanadischen Dollar (knapp 500 Millionen Euro) zur Unterstützung des Projekts bereitgestellt wurden und im September 2019 der Start des kanadischen „Rahmens für die Arktis und den Norden“ erfolgte.

Das erste und wichtigste Thema für die Regierung ist die Frage der Versöhnung mit den indigenen Völkern des Nordens. Kanada wird normalerweise als junges Land mit einer relativ jungen Geschichte und nationalen Erzählung betrachtet, aber die Geschichte der indigenen Völker des Landes reicht Jahrtausende zurück. Seit der Konföderation im Jahr 1867, dem Beginn seiner kolonialen Selbstverwaltung, hat Kanada einen vielschichtigen und sukzessiven Prozess der Demokratisierung durchlaufen. Eingebettet in Kanadas politische Kultur und Wohlstand ist jedoch eine tiefe Geschichte von Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit. Land, das in Kanada als öffentlich gilt, wird immer noch als „Kronland“ bezeichnet, was ignoriert, dass dieses Land in vielen Fällen direkt den indigenen Völkern entzogen wurde und dass diese Völker sogar nach geltender kanadischer Gesetzgebung Ansprüche darauf haben (einschließlich der Beteiligung an den Erträgen der Ausbeutung natürlicher Ressourcen). Kanada steht insbesondere nach Auffassung der Regierung Justin Trudeaus erst am Anfang eines herausfordernden und schmerzhaften Prozesses der Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit.

Der zweite Aspekt, auf den sich die Politik konzentriert, ist die ökologische und wirtschaftliche Entwicklung, wobei die Umwelt im Vordergrund steht. Die internationale Komponente wird fast überhaupt nicht erwähnt. Zwar heißt es, Kanada wolle, wo immer möglich, ein normenbasiertes System der Zusammenarbeit in der Arktis. Es wird auch auf die Verteidigungspolitik verwiesen, genauere Ausführungen zu diesem Aspekt aber fehlen. Nicht zu Unrecht heben viele Kritiker hervor, dass es kaum Anhaltspunkte dafür gibt, was diese Politik im Hinblick auf die Positionierung Kanadas auf der internationalen Bühne zu bewirken versucht.

Die territoriale Integrität ist eine der emotionalsten Fragen in der kanadischen politischen Psyche.

Fakt ist, dass sich mit Kriegsbeginn in der Ukraine im Februar 2022 viele Hoffnungen der Kanadier auf das, was sie als arktischen Exzeptionalismus bezeichnen – nämlich die Idee, dass die Arktis ein einzigartiges Gebiet der Zusammenarbeit ist –, zerschlagen haben. Was in Kanada seit Februar 2022 oft auch als „Wiederaufnahme“ des russischen Krieges mit der Ukraine nach 2014 bezeichnet wird, hat die Tatsache offenbart, dass es unmöglich ist, mit einer Nation zusammenzuarbeiten, die bereit ist, militärische Gewalt so anzuwenden, wie es seit Jahresbeginn 2022 durch Russland in der Ukraine geschieht. Daher lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass alle Initiativen Kanadas zur Verbesserung des regelbasierten Systems in der arktischen Region derzeit wenig Aussicht auf Erfolg haben werden.

 

Die Frage der Verteidigung der Souveränität in der Arktis

Kanada (circa 40 Prozent) und Russland (circa 50 Prozent) halten die mit Abstand größten Anteile der arktischen Landmasse, wobei Kanadas Bevölkerung in seinen dortigen drei Nordprovinzen und -territorien mit rund 130.000 Menschen vergleichsweise gering ist. Die territoriale Integrität ist eine der emotionalsten Fragen in der kanadischen politischen Psyche. Dies lässt sich jenseits des bereits geschilderten Konflikts aus den 1980er-Jahren bis zu einer Krise zurückverfolgen, die 1903 als Grenzkonflikt um Alaska zwischen Kanada und den USA bekannt wurde. Die (frühere) Kolonialmacht beider Konfliktparteien, Großbritannien, fungierte als Vermittler, entschied den Konflikt schließlich aber zugunsten der USA. Die Niederlage Kanadas in dieser Auseinandersetzung wirkte sich auf ebenjene politische Psyche aus, was sich dann im Zweiten Weltkrieg noch verstärkte, als Kanada beim Schutz seiner nördlichsten Grenze gegen Japan und Deutschland und später im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion auf die USA angewiesen war.

Ein Relikt aus diesen Zeiten ist die Weigerung Washingtons, die kanadischen Ansprüche auf Souveränität über die Nordwestpassage zu akzeptieren. Während Kanada stets darauf bestanden hat, dass es sich um Binnengewässer handele, was Ottawa das Recht gebe, einseitig zu bestimmen, wer einfahren dürfe und unter welchen Bedingungen, vertritt Washington ebenso konsequent seine Position, es handele sich um eine internationale Meerenge. Dies würde bedeuten, dass Schiffe, solange sie sich an die internationalen Regeln halten, Kanada nicht um Erlaubnis zur Durchfahrt bitten müssen.

Aus kanadischer Sicht ist der Besitzanspruch über die Nordwestpassage nicht verhandelbar und gibt der kanadischen Regierung somit die volle Kontrolle über die Gesetze und das Geschehen in diesem Gebiet. Kanada hat sich jedoch eingestehen müssen, nicht wirklich viel unternommen zu haben, um die Fähigkeiten aufzubauen, die beispielsweise Russland nutzt, um seine Souveränität über die Nördliche Seeroute entlang seines Territoriums zu behaupten: Es fehlt an geeigneten Überwachungsmöglichkeiten, vor allem an entsprechender Infrastruktur wie Häfen und Militärbasen sowie einer ausreichenden Anzahl von Eisbrechern für Kontrollfahrten. Daher sind die kanadischen Anstrengungen, die Nordwestpassage zu kontrollieren, verglichen mit den russischen Maßnahmen wesentlich ineffektiver. Die Europäische Union unterstützt weiterhin die Auffassung der USA, und es häufen sich die Anzeichen, dass einige asiatische Länder diese Haltung ebenfalls einnehmen könnten. So hat Südkorea in bestimmten Gremien wie der International Maritime Organization (IMO) die kanadischen Kontrollmöglichkeiten infrage gestellt. Das Gleiche gilt für Singapur.

Die Arktis stand lange nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der US-Politik.

Es ist naheliegend, dass mit dem Abschmelzen des Eises und einer möglicherweise zunehmenden Schifffahrt die Frage der Kontrolle der Nordwestpassage wieder auf die politische Agenda zurückkehren wird. Und es wird interessant sein zu sehen, ob die Regierung Justin Trudeaus in der Lage sein wird, angemessen auf solche Herausforderungen zu reagieren. Bisher ist eine Regelung mit Blick auf die Passage nur im Verhältnis zu den USA versucht worden – mit gemischten Ergebnissen. Als Folge der „Polar-Sea-Kontroverse“ von 1985 kam es drei Jahre später zum Abschluss einer Vereinbarung der Regierungen Kanadas und der USA über arktische Zusammenarbeit. Beide Seiten stimmten darin überein, es sei „wünschenswert, dass sie zusammenarbeiten, um ihre gemeinsamen Interessen an der Entwicklung und Sicherheit der Arktis zu fördern“. Entscheidender war aber ein Passus unter Punkt 3 des Vertrags. Dort heißt es, die Regierung der Vereinigten Staaten sage zu, dass alle Fahrten von US-Eisbrechern in von Kanada als Binnengewässer beanspruchten Gebieten mit der Zustimmung („Consent“) der kanadischen Regierung erfolgen würden. Allerdings gibt es aus völkerrechtlicher Sicht einen Unterschied zwischen Erlaubnis und Zustimmung. Diese Wortwahl in einem internationalen Vertragswerk wird bis heute von Wissenschaftlern als eine Art Feigenblatt angesehen, um die kanadischen Empfindlichkeiten bezüglich der territorialen Integrität zu schützen, aber auch, um die USA dazu zu bewegen, mehr sicherheitspolitische Dienstleistungen durch Präsenz in der Nordwestpassage zu erbringen. In diese Richtung deutet auch die bereits seit 1958 bestehende Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich in Gestalt des Nordamerikanischen Luftverteidigungskommandos NORAD (North American Aerospace Defense Command). Diese gemeinsame Einrichtung der Vereinigten Staaten und Kanadas, die den Weltraum überwachen und vor Angriffen mit Interkontinentalraketen warnen soll, beinhaltet die stillschweigende kanadische Unterstützung für in seinen Gewässern operierende US-Boote, die auch durch die Nordwestpassage fahren. Bis zur im Juni 2022 durch die kanadische Verteidigungsministerin Anita Anand angekündigten Bereitstellung von mehr als 40 Milliarden kanadischen Dollar für die Modernisierung der NORAD-Kapazitäten über 20 Jahre hinweg bestand unter kanadischen Sicherheitsexperten lange die Befürchtung, ohne eine langfristige Verpflichtung Kanadas könnten die USA zukünftig nicht mehr bereit sein, ihren Anteil an der gemeinsamen Verteidigung im selben Umfang wie bisher fortzuführen.

 

Der „widerwillige“ arktische Staat USA

Zu den auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen kanadischer und US-amerikanischer Politik gehört, dass die jeweiligen arktischen Landesteile kaum jemals im Zentrum der Aufmerksamkeit der jeweiligen politischen Führung standen. Das galt insbesondere auch für Alaska nördlich des Polarkreises und die umgebenden Gewässer, die sich heute im Fokus der US-amerikanischen Arktispolitik befinden. Nicht nur demografisch sah man das Gebiet mit weit weniger als einer Million Einwohnern lange als relativ bedeutungslos an. Einige Wissenschaftler gehen sogar so weit zu sagen, dass erst die Nominierung von Sarah Palin, der ehemaligen Gouverneurin des Bundesstaates, als republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin im Jahr 2008 Alaska wieder oder gar erstmals in das Bewusstsein größerer Bevölkerungsgruppen in den USA gerückt hat. Unter anderem deswegen kommt es in der Literatur immer wieder zur Charakterisierung der Vereinigten Staaten als „widerwillige“ arktische Macht.

Barack Obama war der erste US-Präsident, der die Arktis während seiner Amtszeit besuchte.

Ungeachtet dessen findet sich nach Ende des Kalten Krieges eine Abfolge offizieller Regierungsdokumente der USA mit Ausführungen zur Arktisstrategie des Landes unter verschiedenen Regierungen. Darin spiegelt sich auch wider, wie sich der US-amerikanische Blick auf die Arktis im Laufe der Jahre gewandelt hat:

  • Die Presidential Decision Directive/NSC-26 vom 9. Juni 1994 enthielt Aussagen sowohl zur Arktis als auch zur Antarktis, fand aber keine Verbreitung und gilt deshalb als weitgehend bedeutungslos.
  • Deutlich effektiver war die National Security Presidential Directive NSPD-66 vom 9. Januar 2009, veröffentlicht in den letzten Tagen der Administration von George W. Bush. Die Vereinigten Staaten erklären sich darin zur arktischen Nation. Entstanden unter dem Einfluss der Terrorangriffe des 11. September 2001 lässt das Dokument zum einen ein breiteres Verständnis von nationaler Sicherheit erkennen, das die Sicherheitsinteressen der USA in der Arktis anerkennt. Zum anderen spricht es neue Aspekte wie die Arbeit des Arktischen Rates, das Ressourcenpotenzial der Region und den Klimawandel an. Das Papier gilt als erste umfassende Neubewertung der US-amerikanischen Arktispolitik seit langer Zeit und als Ausgangsbasis für weitere Initiativen der Obama-Administration. Ein solcher Schritt war nötig geworden, weil mittlerweile andere Staaten ihre Arktisaktivitäten ausgeweitet hatten und sich in den USA der Eindruck durchzusetzen begann, dass unter anderem die Ressourcenrivalität die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung in der Region erhöhen könnte. Diese Sorge kam damals auch in den öffentlichen Äußerungen alaskischer Politiker zum Ausdruck, die auf Gefahren für die Ölproduktion in dem Bundesstaat hinwiesen. Dies war auch die Zeit, als der Gedanke des Schutzes dieser Schlüsselressource in den strategischen Diskurs der USA zur Arktis Eingang fand.
  • Barack Obama war der erste US-Präsident, der die Arktis während seiner Amtszeit besuchte. Bereits zweieinhalb Jahre zuvor, am 10. Mai 2013, war die National Strategy for the Arctic Region seiner Administration erschienen. Sie wurde von Experten kritisch aufgenommen und bewertet, da sie ihnen zufolge zu unspezifisch war und beispielweise keine Pläne für den Ersatz der veralteten US-Eisbrecher-Flotte und für den Ausbau von Tiefwasserhäfen enthielt.
  • Im Dezember 2017 wurde Donald Trump zum ersten US-Präsidenten, der schon im ersten Amtsjahr eine Nationale Sicherheitsstrategie herausbrachte – erst das zweite Werk seiner Art, in dem die Arktis erwähnt wurde. Seine Administration sah den Schutz der für die US-amerikanische Energiedominanz wichtigsten Ressourcen als zentral an. Das Ressourcenpotenzial der etwa eine Million Quadratmeilen umfassenden US-amerikanischen Arktis samt entsprechender Ausschließlicher Wirtschaftszone bezifferte die US-Küstenwache wie folgt: drei Milliarden US-Dollar an wirtschaftlichem Volumen der Fisch- und Meeresfrüchte-Industrie im arktischen Alaska, 90 Milliarden Barrel unentdeckte Ölreserven in der Arktis und geschätzte 30 Prozent des unentdeckten Erdgases der Welt sowie eine Trillion Dollar Wert der Seltenen Erden in der Arktis. Überdies rückten mit Russlands wachsender Militärpräsenz und Chinas sichtbar zunehmenden arktischen Interessen konkrete sicherheitspolitische Aspekte in den Vordergrund. Am Rande des Ministertreffens des Arktischen Rates 2019 in Finnland hielt der damalige US-Außenminister Mike Pompeo eine Rede, in der er die Sicherheitsinteressen der USA in der Arktis unterstrich und den Einfluss Chinas und Russlands in der Region unerwartet scharf kritisierte. Damit gelangte die Arktis endgültig auf die Agenda der Großmächte.
  • Die jüngste US-amerikanische Arktisstrategie stammt von der Biden-Administration und wurde am 7. Oktober 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die USA bekennen sich darin erneut dazu, eine arktische Nation zu sein und bewerten den Klimawandel als wichtigen Faktor für die Weiterentwicklung der Arktis. Washington will die Interessen der USA in der Arktis über vier sich gegenseitig verstärkende Säulen vorantreiben, die sowohl innenpolitische als auch internationale Themen umfassen: Sicherheit, Klimawandel und Umweltschutz, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sowie internationale Zusammenarbeit und Governance.
Bei einem Kanadabesuch wies NATO-Generalsekretär Stoltenberg auf dringenden Handlungsbedarf im hohen Norden hin.

 

USA und Kanada: Arktisstrategien im Vergleich

Die Achillesferse jeglicher maritimen Aktivität in der nordamerikanischen Arktis ist und bleibt die (Un-)Fähigkeit, bestehende Strategien auch umzusetzen. Der Wert einer Strategie bemisst sich dabei unter anderem an einem überzeugenden politischen Umsetzungswillen und einer angemessenen Finanzmittelausstattung.

Ein Vergleich der Strategien der Vereinigten Staaten und Kanadas in der Arktis zeigt, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt, obwohl die US-Rhetorik in den vergangenen vier bis fünf Jahren in auffälligem Gegensatz zur Zurückhaltung der Trudeau-Regierung stand und zunächst vermuten ließ, dass die beiden Staaten eine sehr unterschiedliche Politik verfolgen würden. Beispiele für Gemeinsamkeiten sind:

  • Die entsprechenden Regierungsdokumente beider Länder nennen die „Stärkung der regelbasierten Ordnung“ in der Region als eine der obersten Prioritäten. Dazu gehört nicht nur, dass die nationale Souveränität geschützt wird, sondern auch, dass die Verwirklichung der Arktis als „gemeinsame Region“ davon abhängt, dass sich die arktischen Nationen konstruktiv mit den gemeinsamen Herausforderungen auseinandersetzen. Regionale Zusammenarbeit – auf der Grundlage international anerkannter Prinzipien wie der nationalen Souveränität – liegt im Interesse der USA und Kanadas und trägt zu einer sicheren und stabilen Arktis bei.
  • Regionale Zusammenarbeit wird auch in einem Zusammenhang als wichtig betrachtet, der alle arktischen Nationen betrifft: Während Kanada ausdrücklich auf den Klimawandel verweist, bevorzugten die Vereinigten Staaten zunächst andere Begriffe und wurden erst in ihren jüngsten Strategietexten ebenso deutlich. Heute werden auch in US-Dokumenten die Realitäten anerkannt, wenn beispielsweise die dortige Küstenwache in ihren Strategiedokumenten auf dünneres und besonders in Küstennähe der Arktis reduziertes Eis hinweist.
  • Darüber hinaus erkennen sowohl Kanada als auch die USA an, dass arktische Gemeinden, einschließlich der Ureinwohner Alaskas und der indigenen Bevölkerung, an vorderster Front stehen werden, wenn es darum geht, sich an die Veränderungen in der Arktis anzupassen. Es scheint, dass die Vereinigten Staaten, die (ebenso wie Kanada) ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihren indigenen Völkern haben, beginnen zu erkennen, dass es sinnvoll ist, lokale Gruppen zu konsultieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten, wenn es darum geht, die Aktivitäten in der Arktis auszuweiten. Bemerkenswert ist schließlich auch, dass für keine der Strategien angemessene Mittel zur Umsetzung verfügbar zu sein scheinen, um die in den Strategien festgelegten Ziele zu erreichen. Die US-Arktisstrategie indiziert, dass Kosten ein Thema sein werden, wenn sie erklärt, dass ihre Fähigkeiten, Haltung, Operationen und Aktivitäten, die für die Abschreckung in der Arktis notwendig sind, „in einer strategiegesteuerten und ressourceninformierten Weise“ betrachtet werden.

 

Die nordamerikanische Arktis und die Rückkehr der Großmachtpolitik

Als NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im August 2022 Kanada besuchte, wies er öffentlich darauf hin, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine die Rahmenbedingungen für die weltweite Sicherheit grundlegend verändert habe. Indem er diplomatisch die langjährige kanadische Formel „hoher Norden – geringe Spannungen“ aufnahm, legitimierte er zwar die idealisierende Vorstellung der Gastgeber von der Arktis, konfrontierte sie aber gleichzeitig mit der Vielzahl militärischer Aufrüstungsmaßnahmen Russlands in den vergangenen Jahren und ließ keinen Zweifel am dringenden Handlungsbedarf der nordatlantischen Allianz, dieser nicht mehr ganz neuen Bedrohung im Rahmen des Bündnisses umfassend und entschlossen entgegenzutreten. Neu war diese Botschaft für die Gastgeber nicht: Hochoffizielle eigene, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Erkenntnisse liegen vor – „Kanadas Arktis ist verwundbar. Verteidigungsinfrastruktur ist veraltet oder nichtexistent“. Auch an aktueller Forschung zum Thema mangelt es nicht. Diese wird jedoch, zumal bei ausländischer Provenienz, wenn überhaupt nur mit großer Zurückhaltung zur Kenntnis genommen. Tatsache ist: Die Arktis bleibt das Aufmarschgebiet für alle Akteure, die die Sicherheit Nordamerikas gefährden könnten, und es ist Kanadas Herausforderung, potenzielle militärische Gegner nicht glauben zu machen, dass ein Angriff auf die USA über die kanadische Arktis Erfolg versprechend sein kann. Dass dies im Ernstfall sichergestellt werden könnte, ist zweifelhaft.

Nach Schätzungen verfügt Russland heute über 20- bis 25-mal mehr Eisbrecher als die USA.

Mit der Zunahme der Aktivitäten in der Arktis steigen auch die Anforderungen an die Sicherheit in Bezug auf Such- und Rettungsmaßnahmen sowie an die Fähigkeiten zur Aufdeckung, Abschreckung und Bekämpfung potenzieller Gegner. Dabei ist festzustellen, dass keine der Flotten (US- oder kanadische Marine oder US-Küstenwache) über die Fähigkeit oder Kapazität verfügt, eine dauerhafte maritime Oberflächenpräsenz in den hohen Breitengraden zu gewährleisten.

Entsprechend dem bis 2014 anhaltenden militärischen Desinteresse an der Arktis ging, nicht nur in Kanada, die Zahl der U-Boote zurück, das anerkanntermaßen wichtigste Instrument in den sicherheitspolitischen Langzeitkonzepten aller arktischen Seemächte. Heute umfasst beispielsweise Kanadas U-Boot-Flotte vier von Großbritannien 1998 gebraucht erworbene Boote der sogenannten Victoria-Klasse, die mehr als 40 Jahre alt sind, seither hauptsächlich durch ihre zahlreichen Mängel und ihre Seeuntüchtigkeit in den Schlagzeilen waren und von denen derzeit nur eines einsatzbereit ist – eine grotesk kleine Zahl angesichts der Tausenden Kilometer Küstenlänge des Landes. Auch die maritime Hardware der USA in relevanten Bereichen ist, gemessen an den Herausforderungen, mindestens quantitativ noch erheblich ausbaufähig. So wird geschätzt, dass Russland derzeit über 20- bis 25-mal mehr Eisbrecher verfügt als die US-Amerikaner. Dass die USA innerhalb ihres Außenministeriums das Amt eines Koordinators für die arktische Region haben und diese Position mit einem Diplomaten besetzen, der von kanadischen Experten wegen seiner Erfahrung mit „Großmachtpolitik“ bewundert wird, erscheint zwar nützlich, aber nicht als „großer Wurf“.

Seit seinem Amtsantritt hat der russische Präsident Wladimir Putin die russischen Atomwaffenarsenale und Trägersysteme modernisiert. Viele dieser Waffensysteme sind in der Arktis stationiert, was sie zu einem der wichtigsten und gefährlichsten strategischen Standorte der Welt macht. Die kanadische Führung denkt jedoch kaum in diesem Sinne über die Region nach. Nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 haben sich im Unterschied dazu die USA jedoch wieder auf dieses Thema konzentriert. Es liegt zwar eindeutig im Interesse Kanadas, dass weder Russland noch China zu dem Schluss kommen, dass Nordamerika durch neue Waffensysteme verwundbar ist. Ungeklärt bleibt aber, ob die Regierung es angesichts ihrer mit völlig anderen Prioritäten versehenen politischen Agenda aus Identitätspolitik und Expansion des Wohlfahrtsstaates ernst meint und auch bereit ist, gemäß ihren Versprechungen für mehr militärische Sicherheit zu zahlen.

 


 

Dr. Norbert Eschborn ist Leiter des Auslandsbüros Kanada der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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