Ausgabe: 1/2023
Ein sensibles Ökosystem gerät ins Wanken
Die Arktis ist besonders schwer vom globalen Klimawandel betroffen. Spätestens seit 2007, als die Sommereisdecke im Nordpolarmeer auf ihre bis dahin niedrigste Ausdehnung fiel, haben die gravierenden Veränderungen in der physischen Beschaffenheit der Arktis die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen. Aber während Klimaforscher, Naturschützer und Einwohner vor einem unwiderruflichen „Kipppunkt“ und einer sich anbahnenden Katastrophe warnen, wittern andere in der Schrumpfung des Meereises neue wirtschaftliche Möglichkeiten durch einen leichteren Zugang zu natürlichen Ressourcen und womöglich eisfreie Schifffahrtswege zwischen Asien und Europa, so etwa die Nordostpassage im russischen Teil der Arktis.
Die Erwärmung der Region bringt gravierende Folgen für die Umwelt mit sich. Das wohl bekannteste Beispiel sind die Eisbären auf Grönland und im norwegischen Spitzbergen, deren Jagd- und Sozialverhalten von weitflächigen Revieren auf dem Treibeis abhängig ist. Die großen Raubtiere der Arktis aber sind nur eine Facette des Problems. Selbst ein einzelner eisfreier Sommer würde dem bereits belasteten Ökosystem empfindlich schaden und nicht nur das Überleben der Eisbären, Ringelrobben und Walrosse bedrohen, sondern auch etliche Arten von Mikroben auslöschen. Tatsächlich werden die Meeresböden und Küsten des Polarmeeres von einer erstaunlichen Vielfalt an Mikroorganismen bewohnt. Diverse Arten von Algen, Bakterien, zellulären und mikroskopisch kleinen Lebewesen gehören zu der komplexen Mechanik, die das Leben auf und unter dem Eis ermöglicht. Das unwiderrufliche Verschwinden dieser kleinsten Bestandteile der Nahrungsketten zerstört nicht nur das empfindliche Gleichgewicht der Arktis, sondern stellt auch einen einschlägigen Verlust für die Wissenschaft dar.
Aber die Probleme, welche die Erwärmung mit sich bringt, gelten nicht nur für die Artenvielfalt der Arktis. Das kalte Wasser, das die schmelzende Eisdecke freigibt und das einen relativ geringen Salzgehalt hat, hat einen starken Einfluss auf Wasser- und Luftströme, welche die Wettermuster weiter im Süden bestimmen. Vor allem im Nordatlantik, vor der Westküste Grönlands, wo Meeresströmungen die globale Wärmeverteilung maßgeblich gestalten, macht sich die Klimaveränderung bemerkbar. Da das weltweite Klima durch das Energieungleichgewicht zwischen dem Äquator und den Polen bestimmt wird, können selbst kleine Änderungen im Polarmeer zu einer Rückkopplungsschleife führen, die unvorhersehbare und potenziell verheerende Auswirkungen in anderen Gebieten haben kann.
Das jährlich schmelzende und wieder festfrierende Meereseis bestimmt zwar den Puls des Lebens und die geophysische Beschaffenheit der Arktis, beeinflusst jedoch nicht den Meeresspiegel, da das verdrängte Volumen gleichbleibt. Das Verschwinden des Sommereises hat dennoch schwerwiegende Folgen. Je mehr Meereis in der Arktis verschwindet, desto größer wird die Fläche des darunterliegenden Ozeans, der wiederum mehr Sonnenenergie in Form von Wärme aufnimmt.
Während sich das Verschwinden des Meereises nicht direkt auf den Meeresspiegel auswirkt, führt das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes dazu, dass der Wasserstand der Weltmeere weiter ansteigt. Die helle Oberfläche des Meereises (und des widerstandsfähigeren Festlandeises auf Grönland) stößt mehr Sonnenenergie ab als der dunkle Ozean und trägt so zum Erhalt der Eiskappen bei. Auch jenseits des Eises verwandelt die Erwärmung die physische Gestalt der Arktis. Gerade im russischen Teil hat das Tauen des Permafrostbodens katastrophale Folgen für die Infrastruktur, die im Boden versinkt und nach Leckagen enorme Umweltschäden hinterlässt.
Auch aufgrund dieses sensiblen Ökosystems und der fortschreitenden Erwärmung in der Arktis steht der Kampf gegen den Klimawandel ganz oben auf der Prioritätenliste der Regierungen der Nordischen Länder und wird von der jeweiligen Bevölkerung mehrheitlich mitgetragen. Dänemark (mit Grönland und den Färöer-Inseln), Island, Finnland, Schweden und Norwegen haben sich zum Ziel gesetzt, spätestens bis 2050 (Schweden bis 2045 und Finnland bereits bis 2035) klimaneutral und bis 2030 die nachhaltigste Region der Welt zu werden.
Wirtschaftszentren in der europäischen Arktis
Wir stellen uns die Arktis häufig als eine Landschaft aus Schnee und Eis, bevölkert von Eisbären, vor. Das ist nur in Teilen korrekt. Die Arktis ist eine Schlüsselregion für wichtige Handels-, Transport- und Kommunikationswege. Am Polarkreis befinden sich große Städte wie Luleå und Kiruna in Schweden, Tromsø und Bodø in Norwegen sowie Hammerfest mit einem bedeutenden LNG-Terminal in der norwegischen Finnmark. Die Städte sind wirtschaftlich starke und innovative Zentren, in denen die Bevölkerung auch aufgrund attraktiver Rahmenbedingungen wächst. Luleå steht für die Produktion von fossilfreiem Stahl durch grünen Wasserstoff und für seine renommierte Technische Universität; in Kiruna und anderen Gemeinden Nordschwedens gehört der Bergbau wie der Abbau von Eisenerz und Kupfer seit Langem zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen. Die weltweite Nachfrage nach Eisen und Stahl hat zu weiteren Investitionen in der schwedischen Arktis geführt.
Abb. 1: Veränderungen der polaren Eiskappe in der Arktis
Meereisvolumen der arktischen Polkappe in Tsd. km3
Monatliche Durchschnittswerte von Januar 1979 bis Januar 2023. Monate: ▄ 01 ▄ 02 ▄ 03 ▄ 04 ▄ 05 ▄ 06 • 07 ▄ 08 ▄ 09 ▄ 10 ▄ 11 ▄ 12
Meereiskonzentration bis 2010 und 2022
▄ Durchschnittliche Ausdehnung des Meereises 1981–2010 ▄ Ausdehnung 2022 (jeweils im September nach Messungen des National Snow and Ice Data Centers)
Quellen: eigene Darstellung nach Lee Robinson, Andy / Horton, Ben 2023: What’s The Arctic Death Spiral?, in: https://arcticdeathspiral.org [3 Feb 2023]; Paul, Michael 2020: Arktische Seewege. Zwiespältige Aussichten im Nordpolarmeer, SWP-Studie 2020/S 14, German Institute for International and Security Affairs, 23 Jul 2020, in: https://bit.ly/3EHN8sF [27 Feb 2023]. Map: © Peter Hermes Furian, AdobeStock.
Anfang 2023 wurden in Kiruna zudem die bislang größten europäischen Vorkommen an hochkonzentrierten Seltenen Erden festgestellt. Angesichts der voraussichtlich steigenden Nachfrage nach Elektrofahrzeugen und Windturbinen werden die neu entdeckten Bestände als unentbehrlich für den grünen Wandel angesehen. Bislang werden noch 98 Prozent der in der EU verwendeten Seltenen Erden aus China importiert.
Stockholms Arktisstrategie setzt darauf, dass schwedische Expertise im kälteresistenten Bauingenieurs- und Transportwesen zu einer nachhaltigen Entwicklung der arktischen Infrastruktur beitragen kann. Die 2021 erschienene Arktisstrategie Finnlands betont ebenfalls die besonderen Arktiskompetenzen der finnischen Industrie und Wissenschaft. Helsinki setzt auf die Diversifizierung der Wirtschaft im Norden des Landes, vor allem mit Blick auf nachhaltige Entwicklung.
Von besonderer Bedeutung für die Wirtschaft der Arktis sind Eisbrecher, die den Zugang zu vielen Küstengebieten und die logistische Integration der Region überhaupt erst ermöglichen. Die Industrie der Nordischen Länder und hier insbesondere Finnlands ist schon seit den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf kommerzielle Eisbrecher ausgerichtet. Seit 2005 ist der finnische Ingenieurdienstleister Aker Arctic einer der weltweit wichtigsten Hersteller dieser Schiffe. Als die Firma 2013 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, erwarb die staatliche Holding-Gesellschaft Finnish Industry eine Mehrheit ihrer Aktien, um den Erwerb von strategisch wichtiger Expertise und Technik durch ausländische Interessen zu verhindern.
Indigene Einwohner der Arktis
Mit dem Ausbau der Wirtschaftszentren nehmen auch die Herausforderungen für die in der Arktis lebenden Menschen, die Tierwelt und Umwelt zu. Nachhaltige Strategien sind somit in allen Bereichen gefragt. Diese schließen auch den Erhalt und den Schutz des kulturellen Erbes und Lebensraums der indigenen Samen ein. Deren traditionelles Siedlungsgebiet Sápmi erstreckt sich von der mittelschwedischen Provinz Dalarna bis an die Küste der Barentssee und der Halbinsel Kola in Russland. Ihr besonders geschützter Status als Rentierherdenhalter gerät immer wieder in Konflikt mit den Interessen der Bergbauindustrie, wenn letztgenannte mit ihren wirtschaftlichen Aktivitäten in Gebiete expandieren will, die traditionelles Weideland der Rentierherden sind.
In Schweden, wo schätzungsweise mehr als 20.000 Samen leben, wurde 2011 die Verfassung geändert, um die Samen als Volk anzuerkennen. Es wird allerdings kritisiert, dass man keine Gesetze zu Fragen der Land- und Ressourcenrechte der Samen erlassen habe und ihr Recht auf freie und vorherige Zustimmung bei Bergbau- und Infrastrukturprojekten vom Staat nicht anerkannt werde. In Finnland und Schweden orientiert sich die gesellschaftspolitische Debatte um die Rechte der indigenen Bevölkerung vor allem an der Ratifizierung der Indigenous and Tribal Peoples Convention, eines 1989 verabschiedeten internationalen Übereinkommens, welches indigenen Gruppen mehr Entscheidungsbefugnisse in ihren traditionellen Gebieten verspricht. Norwegen und Dänemark gehören zu den ersten Staaten, die es ratifiziert haben, was für arktische Gebiete wie Grönland von großer Bedeutung ist.
Grönland: Zwischen Rohstoffeinnahmen und Umweltschutz
Grönland ist ein Beispiel dafür, wie das in den Nordischen Staaten sehr präsente Bestreben, sich dem Klimawandel entgegenzustellen, in ein politisches Spannungsverhältnis zur Nutzung vorhandener Ressourcen treten kann. Einerseits verfolgt die grönländische Regierung grundsätzlich eine umweltbewusste Politik. Andererseits erhofft sie sich durch den Abbau gewinnbringender Rohstoffe Vorschub für ihr Streben nach finanzieller Unabhängigkeit von Dänemark. Grönland war bis 1953 dänische Kolonie, hat heute etwa 56.000 Einwohner und ist mit Ausnahme der Außen- und Sicherheitspolitik faktisch autonom, insbesondere bei Entscheidungen über den Abbau von Ressourcen, auch wenn es weiterhin Teil des dänischen Königreichs ist und eine hohe jährliche Subvention von Kopenhagen erhält. Zusätzlich zu seiner eigenen lokalen Regierung hat Grönland zwei Vertreter im dänischen Parlament, dem Folketing.
Aufgrund des arktischen Klimas leben die Menschen in Grönland hauptsächlich in Siedlungen und Städten an der Küste. Historisch gesehen waren Fischerei und Jagd wegen der kurzen Sommer der Schlüssel zum Überleben. Das grönländische Klima und die geografischen Gegebenheiten machen Land- und Viehwirtschaft fast unmöglich, mit Ausnahme des äußersten Südens des Landes, wo Schafzucht betrieben wird. Der Fischfang ist nach wie vor die Stütze der grönländischen Wirtschaft, gleichwohl aber nicht mehr in der Lage, so viele Arbeitsplätze bereitzustellen wie früher. Die grönländische Regierung sucht nach Möglichkeiten, von den Bodenschätzen der Insel zu profitieren, zu denen Gold, Öl, Erdgas und Seltene Erden gehören, wobei die klimapolitischen Ziele diesen Prozess erschweren. Ministerpräsident Múte Bourup Egede verfolgt seit seinem Regierungsantritt im April 2021 mit einem Moratorium für neue Öl- und Gasbohrlizenzen sein Wahlversprechen einer umwelt- und klimafreundlichen Politik. Ein Bergbauvorhaben zum Abbau Seltener Erden im Süden der Insel wurde nach Protesten der Einwohner gestoppt, da die Grube Uran als Nebenprodukt freigelegt hätte. Chinesische Investoren haben sich aus Grönland zurückgezogen. Dennoch ziehen Grönlands reiche Bodenschätze nach wie vor die Aufmerksamkeit von Ländern und Unternehmen auf sich, die auf der Suche sind nach alternativen Quellen für Rohstoffe, deren Versorgungsketten derzeit von China dominiert werden.
Sonderfall Spitzbergen
Eine besondere Rolle in der Arktis kommt der zu Norwegen gehörenden Inselgruppe Spitzbergen zu. Es ist der nördlichste bewohnte Ort der Welt mit einer Bevölkerung von 2.640 Einwohnern und einer der größten Forschungsstützpunkte der Arktis.
Seit dem Spitzbergenvertrag von 1920 mit mittlerweile 46 Unterzeichnerstaaten hat Norwegen die Souveränität über diesen arktischen Archipel. Allerdings haben alle Bürger der Unterzeichnerstaaten das Recht auf Arbeit, wirtschaftliche Aktivitäten, Handel und Schifffahrt auf Spitzbergen. Das Gebiet innerhalb von 200 Meilen um die Inselgruppe beansprucht Norwegen als seine Ausschließliche Wirtschaftszone, auch mit Blick auf den Fischfang. Dem widerspricht vor allem Russland, aber auch die Europäische Union und Island sind der Ansicht, dass der Spitzbergenvertrag auch außerhalb der Hoheitsgewässer und auf dem Festlandsockel gilt. Norwegen behält sich zudem das Recht auf regelmäßige Küstenpatrouillen auf Spitzbergen vor, um die norwegische Souveränität zu unterstreichen. Die Küstenwache ist ein Teil der norwegischen Seestreitkräfte. Russland kritisiert die norwegische Position mit Verweis auf Artikel 9 des Spitzbergenvertrags, der „kriegerische Zwecke“ auf dem entmilitarisierten Gebiet untersagt. Auf der anderen Seite nimmt die Häufigkeit militärischer Übungen Russlands vor der norwegischen Küste zu. Noch im Juli 2022 kündigte Präsident Wladimir Putin an, die arktischen Gewässer „mit allen Mitteln“ verteidigen zu wollen. Anfang 2022 wurde ein Unterwasser-Glasfaserkabel, das eine Satellitenbodenstation auf Spitzbergen mit dem norwegischen Festland verbindet, durchtrennt. Dieser Vorfall folgte einem ähnlichen im April 2021. In beiden Fällen erklärten Behörden, dass die Unterbrechungen wahrscheinlich durch menschliche Aktivitäten und nicht durch natürliche Phänomene verursacht worden seien.
Russland betreibt auf Spitzbergen in der Bergarbeitersiedlung Barentsburg mit ihren knapp 500 Einwohnern neben einem russischen Generalkonsulat und einer Forschungsstation noch eine Kohlemine, die allerdings kaum nennenswert produziert und eher ein symbolischer Nachweis wirtschaftlicher Aktivität ist. Nach der russischen Invasion in der Ukraine fiel zudem auf, dass die Bergarbeiter im Wesentlichen Ukrainer aus dem Donbass sind, was zu Spannungen zwischen Arbeitern und den russischen Betreibern führte.
Arktischer Rat und regionale Sicherheitsfragen
Die Arktis wurde über die vergangenen Jahrzehnte als Ausnahmeregion beschrieben: als eine Region, in der friedliche und wirtschaftlich nachhaltige Kooperation das Zusammenleben der Nationen mit den Indigenen regelte. Dies galt auch noch, als in den vergangenen Jahren geopolitische Spannungen zunahmen, etwa durch die imperialen Ansprüche Russlands sowie den Konflikt zwischen den USA und China.
Alle fünf Nordischen Länder sind als Arktisanrainer neben Kanada, den USA und Russland Mitglieder des Arktischen Rates, der 1996 nach dem Ende des Kalten Krieges gegründet wurde, als die militärische Bedeutung der Arktis abnahm. Sicherheitsthemen waren bislang ausgeklammert. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat jedoch die Haltung der sieben westlichen Länder im Arktischen Rat gegenüber Russland dramatisch verändert und sicherheitspolitische Aspekte in den Vordergrund gerückt. Die Arbeit des Rates, in dem Russland noch bis Mai 2023 den Vorsitz hat, wurde Anfang März 2022 durch sieben der acht Mitglieder ausgesetzt. Andere Kooperationsgremien folgten wenige Tage später, darunter der Euro-Arktische Barents-Rat, dem die Nordischen Länder, die EU sowie ebenfalls Russland angehören. Die regionale Zusammenarbeit in der Arktis wurde somit auf Eis gelegt, was nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf Forschung, Umweltschutz und den länderübergreifenden Austausch für die Indigenen hat, vor allem für die Samen, deren traditionelles Siedlungsgebiet sich über die strategisch wichtige Kola-Halbinsel Russlands erstreckt und deren Rentierherden seit Jahrhunderten die russischen Grenzen mit Norwegen und Finnland passieren.
Es ging den fünf Nordischen Ländern in der Vergangenheit bei regionalen und europäischen Sicherheitsfragen nie nur um militärische Sicherheit. Der Klimawandel und eine nachhaltige Entwicklung wurden als die größte Herausforderung gesehen. Drei der Länder sind auch Mitglieder der Europäischen Union. Damit stellte sich spätestens seit 2014 auch die Frage: Welche Rolle kann die EU als supranationale Union für Entwicklung und Sicherheit in der Arktis spielen und welchen Einfluss hat sie als geopolitischer Akteur? Im Oktober 2021 hat die EU eine neue Arktisstrategie aufgelegt und die Geopolitik nunmehr an den Beginn der strategischen Überlegungen gestellt. Unter den Nordischen Ländern gibt es zur Rolle der EU durchaus unterschiedliche Interpretationen, eine gemeinsame „nordische Sicht“ ist nicht leicht zu identifizieren.
Neues Sicherheitsumfeld nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine
Anstelle von fünf NATO-Mitgliedern im Arktischen Rat – wie vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 – könnten es bald sieben sein, da Finnland und Schweden nach Jahrzehnten der Bündnisfreiheit (im Falle Schwedens über 200 Jahre) bereits im Mai 2022 ihre Anträge auf NATO-Mitgliedschaft gestellt haben. Finnlands Beitritt wurde im April 2023 bereits vollzogen. Beide Länder grenzen zwar nicht an den Arktischen Ozean, ihre Sicherheitsinteressen liegen daher im Unterschied zu Norwegen stärker in den nördlichen Landesteilen sowie im Ostseeraum. Dieser aber wird zusammen mit der Arktis und dem Nordatlantik als ein verbundener Sicherheitsraum gesehen. Die bestehende Grenze zwischen Finnland und Russland verdoppelt zudem die Länge der Landgrenze zwischen der NATO und Russland. Es ist zu hoffen, dass insbesondere die Türkei nun ihren Widerstand gegen den Beitritt Schwedens aufgeben wird. Somit würden dann alle fünf Nordischen Länder dem Verteidigungsbündnis angehören.
Auch die Haltung von Dänemark und Norwegen hat sich mit dem Aufheben des dänischen Vorbehalts gegenüber der Verteidigungskooperation innerhalb der EU im Juni 2022 sowie einer neuen Bedrohungswahrnehmung im arktischen Raum verändert. Der Vorbehalt im Verteidigungsbereich hatte bedeutet, dass Dänemark nicht an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder an militärischen Operationen der EU teilnehmen konnte beziehungsweise musste.
In den vergleichsweise friedlichen Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg hatten sich die Streitkräfte und militärischen Planer der Nordischen Länder eher auf Auslandseinsätze und weniger auf die territoriale und maritime Verteidigung im hohen Norden konzentriert. Die nationalen Verteidigungsstrategien blieben relativ unverändert und wirkten dadurch zunehmend veraltet. Erst in den 2010er-Jahren wurde die Notwendigkeit einer neuen militärischen Planung näher am eigenen Land in den Vordergrund gerückt, vor allem nach der russischen Annexion der Krim 2014. Nach 2014 verschärfte sich Moskaus Rhetorik in Bezug auf die Arktis deutlich. Dies spiegelt sich auch in russischen Sicherheitsdokumenten wider, insbesondere in der Militärdoktrin von 2014 und der Marinedoktrin von 2015.
Die finnischen und schwedischen Verteidigungsminister reagierten im März 2015 mit einem neuen Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit, das im Falle eines Angriffs einen gemeinsamen Kriegseinsatz der beiden Länder ermöglicht hätte. Das 2009 gegründete Verteidigungsbündnis NORDEFCO der Nordischen Länder wurde 2015 mit einem weiteren Abkommen zur Ausweitung militärischer Übungen und dem Austausch von Informationen gestärkt. Aufgrund ihrer Nähe zur militärisch hochgerüsteten russischen Kola-Halbinsel mit dem Sitz der Nordflotte bei Murmansk spielen die Nordischen Länder für die kollektive Sicherheit Nordeuropas ohne Zweifel eine ungemein wichtige Rolle. Die neuen NATO-Mitglieder Finnland und Schweden werden beziehungsweise würden die Allianz mit ihren militärischen Fähigkeiten bereichern und Nordeuropa von der Ostsee über den Nordatlantik bis zur Arktis in einen kompakten Raum der NATO verwandeln.
Gabriele Baumann ist Leiterin des Regionalprogramms Nordische Länder der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Stockholm.
Julian Tucker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Regionalprogramms Nordische Länder der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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