Ausgabe: Sonderausgabe 2021/2021
Im vergangenen Jahr haben sich viele der altbekannten strukturellen Konflikte in Lateinamerika im Kontext der Coronapandemie verstärkt. Als globaler Hotspot der Pandemie läuft der Kontinent Gefahr, um viele Jahre in seiner Entwicklung zurückgeworfen zu werden. Gründe hierfür sind die durch die Pandemie verschärften wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, beispielsweise extreme Wirtschaftseinbrüche, Staatsverschuldung, gestiegene Armutsraten und eine verheerende Bildungskrise. Ohnehin schwache demokratische Institutionen haben weiteren Schaden erlitten, das Misstrauen in die Institutionen ist durch ein fast generell zu beobachtendes Missmanagement der Gesundheitskrise gestiegen und der politische und gesellschaftliche Konsens erodiert.
In vielen Ländern Lateinamerikas macht sich der Frust der Bevölkerung über die aktuelle Notlage bemerkbar. Die Tatsache, dass man wie keine andere Weltregion derart dramatische Infektionsraten vorzuweisen und tödliche Verläufe der COVID-19-Pandemie zu beklagen hat, genau wie die nun noch stärker wahrgenommene allgemein fehlende sozioökonomische Teilhabe haben das Frustpotenzial erheblich erhöht. Die Verzweiflung breiter Teile der Bevölkerung, die von der Hand in den Mund leben, führte zu Massenprotesten, zu Forderungen nach einer neuen Verfassung wie in Chile oder einem radikalen Wahlausgang wie in Peru, denen oft populistische Heilsversprechen zugrunde liegen. Hierbei schwingt immer wieder die Utopie mit, dass man grundlegende strukturelle Defizite durch wohlklingende Verfassungsartikel oder gar die Ausarbeitung einer neuen Verfassung beseitigen könne. Außerdem existiert mitunter die trügerische Hoffnung, dass über den im letzten Jahrzehnt gewonnenen digitalen Zugang zum „globalen Dorf“ positive rechtsstaatliche, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse aus anderen Regionen der Welt einfach auf Lateinamerika übertragen werden könnten. Dies aber wird der Komplexität des Kontinents mit seiner offenkundig fehlenden regionalen Integration und den von Korruption und Gewalt geprägten Gesellschaften nicht gerecht.
Die sichtbare Abwesenheit Europas
In dieser Gemengelage wirkt die Frage nach der Wahrnehmung Europas und der Europäischen Union fast ein wenig fehl am Platz, da bis heute für viele Menschen die Frage des Überlebens eng mit der Beschaffung und Sicherstellung von Impfstoffen zusammenhängt. Und hier muss man ganz klar sagen, dass sich vor allem China und Russland als Helfer in der Not präsentieren konnten. Noch bevor die am stärksten betroffenen Länder der Region ab März 2021 vergünstigte Vakzine über den globalen Verteilungsmechanismus COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) erhielten, wurden den Corona-geplagten Regierungen der Region in großem Umfang chinesische und russische Impfstoffe angeboten. Nicht verwunderlich ist es daher, dass viele Länder in Lateinamerika ihre Beziehungen zu China während der Pandemie ausgebaut haben. Der ecuadorianische Staatspräsident Guillermo Lasso beispielsweise hob bei seiner Rede anlässlich der ersten 100 Tage seiner Regierung hervor, dass er eines seiner Wahlversprechen – die Impfung von rund der Hälfte der Bevölkerung, etwa neun Millionen Menschen – nur dank der chinesischen Impfstoffe einhalten konnte. Sich „eine Entwicklung Lateinamerikas ohne China vorzustellen, ist undenkbar“, so der Präsident. Die Präsenz und Unterstützung Europas und der USA beim Kampf gegen die Pandemie lief aus Sicht der Region in dieser Hinsicht gegen Null.
Was an diesem Beispiel deutlich wird, lässt sich momentan durchaus auf das Gesamtbild der Wahrnehmung Europas in Lateinamerika übertragen. Wenn es darauf ankommt, bleibt die Europäische Union als Staatengemeinschaft oft ein auf sich und Europa beschränktes Idealbild. Europa mag in den Köpfen vieler Lateinamerikaner eine kulturelle Relevanz als Tourismus- oder Auswanderungsregion besitzen, vielleicht auch noch als Gemeinschafts- und Friedensprojekt bestaunt werden. Politisch und im Alltagsgeschehen bleibt es aber weit davon entfernt, Einfluss auf die tatsächlichen Probleme der Bevölkerung zu haben.
Europa erscheint in den Augen vieler Menschen – die Wahrnehmung hängt dabei sicherlich von der sozioökonomischen und kulturellen Verortung des Befragten ab – nicht so relevant wie China und die USA. Und dies trotz enger wirtschaftlicher Verflechtungen und der Tatsache, dass die EU zweitgrößter Handelspartner der Region ist. Für die Eliten der MERCOSUR-Mitgliedstaaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay hängt dies sicherlich auch mit einer tief sitzenden Enttäuschung zusammen. Über 20 Jahre hinweg verhandelte man mit der EU über ein Handelsabkommen, das die beiden Regionen zur größten Freihandelszone der Welt machen würde. Trotz grundsätzlicher Einigung wird es aber aufgrund innereuropäischer Ränkespiele und wahlstrategischer Überlegungen auf nationaler Ebene bisher nicht ratifiziert.
Die EU tritt durchaus als wirtschaftlicher player und Verbündeter in Menschenrechtsfragen in der Region in Erscheinung. Dies ist dann der Fall, wenn einstimmige Resolutionen oder Sanktionen gegen Regierungen ausgesprochen werden, denen klare Menschenrechtsverletzungen wie im Falle Venezuelas vorgeworfen werden können oder undemokratisches Handeln wie im Falle Boliviens. Allerdings ist auch und gerade dieses Prinzip der Einstimmigkeit der EU in außenpolitischen Belangen ein enormer Hemmschuh. Die tatsächliche Wirkung europäischen Engagements und auch entwicklungspolitischen Handelns bleibt oft hinter den Erwartungen zurück und lässt das Bild eines zahnlosen Tigers aufkommen. Das Anprangern von Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Drogenkriminalität und Gewalt steht oft einer zu wenig realistischen, den regionalen Gegebenheiten nicht genügend angepassten Entwicklungs- und Handelspolitik gegenüber, die die Verhältnisse und das tägliche Leben vor Ort nicht wesentlich, konkret und sichtbar für den sogenannten kleinen Mann verbessern.
Der lachende Dritte in Lateinamerika ist China – und dies nicht zuletzt aufgrund einer systematischen Nutzung von Freiräumen im entwicklungspolitischen Bereich, die der Volksrepublik aufgrund eines oft signifikanten Desinteresses westlicher Akteure wie der USA und Europas eröffnet wurden. Beispielsweise hat der chinesische Staatspräsident Xi Jinping Lateinamerika häufiger besucht als die US-Präsidenten Obama und Trump zusammen. Direktinvestitionen und strategische Infrastrukturkäufe Chinas in Lateinamerika im Kontext der Seidenstraßeninitiative übersteigen in den letzten Jahren bei Weitem das europäische und amerikanische Engagement. Die Pandemiezeit nutzte das Reich der Mitte bisher durch eine erfolgreich praktizierte Impfdiplomatie und konnte so neben Russland sein Ansehen und seinen Einfluss in der Region stärken. Allerdings wird zuletzt auch immer deutlicher, dass Russland viele der versprochenen Impfstofflieferungen nicht im vereinbarten Zeitrahmen leisten kann und die Effektivität der chinesischen Impfstoffe im Vergleich zu den hochwertigen europäischen Produkten deutlich geringer ist.
Umdenken gefordert
Das hier gezeichnete Bild der Wahrnehmung Europas mag in seiner Dramatik überraschen, spiegelt jedoch die Lebenserfahrung vieler Menschen in ganz Lateinamerika wider, für die Europa ein wünschenswertes Ideal, aber eben auch ein im Lebensvollzug oft unbedeutender Partner bleibt.
Die in den vergangenen Jahren immer wieder postulierte Idee der natürlichen werte- und geschichtsbasierten Partnerschaft zwischen Europa und Lateinamerika sollte daher weiterentwickelt werden. Die unterschiedlichen lateinamerikanischen Länder sind aufgrund ihrer oft interessengeleiteten Politik und strukturellen Verfasstheit sowie spätestens mit dem verstärkten Auftreten und Selbstverständnis Chinas in der Region aber nicht mehr einfach nur ein Wertepartner unter vielen. Vielmehr muss Europa begreifen, dass es allerhöchste Zeit ist, Lateinamerika wirtschaftlich und kulturell praxisorientierte Alternativen anzubieten, um attraktiv und wirkungsvoll zu bleiben und damit chinesischen Modellen entwicklungspolitischer Einflussnahme entgegenzutreten.
Eine erweiterte transatlantische Partnerschaft im Zusammenspiel mit der neuen US-Regierung unter Präsident Joe Biden könnte dabei einen Anfang bilden. Im Wahlprogramm von CDU/CSU zur Bundestagswahl 2021 wurden Lateinamerika und die Karibik explizit in diesem Kontext der westlichen Wertepartner aufgeführt. Jedoch wird nur das konkrete „Zeugnis vor Ort“, also Maßnahmen, die eine positive Wirkung auf die Verhältnisse der Menschen in Lateinamerika haben, das lateinamerikanische Bild Europas verbessern.
Große Hoffnungen werden dabei auf gemeinsame Bemühungen für den Klimaschutz und die Entwicklung eines weltweiten nachhaltigen Wirtschaftsmodells in Kombination mit einer fortschreitenden Digitalisierung gesetzt. Letztere schließt die Einbindung größerer Bevölkerungsschichten in die demokratischen Prozesse, die Stärkung der politischen Institutionen und den ortsunabhängigen Ausbau von Bildung und Partizipation mit ein. Der European Green Deal stößt in Lateinamerika dabei auf große Resonanz, da er durch entsprechende strategische Investitionen und Fortbildungsangebote die Schaffung von rund drei Millionen neuen Arbeitsplätzen verspricht, die gerade dem regionalen und lokalen Bereich zugutekommen und somit auch die dringend notwendigen Dezentralisierungsbemühungen unterstützen würden.
Johannes Hügel ist Referent in der Abteilung Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dr. Jan Woischnik ist Leiter der Abteilung Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung.