Ausgabe: Sonderausgabe 2021/2021
Vor drei Jahren erzählte Mustapha Sallah der F.A.Z. von seiner Odyssee durch Afrika. Er wurde in Tripolis als Sklave verkauft, floh durch Libyen und wurde wieder festgenommen. Der damals 26 Jahre alte Gambier träumte von einem Leben in Deutschland, wohin er von Libyen aus über das Mittelmeer aufbrechen wollte. Sallah wollte Informatik studieren und seine Familie in Westafrika finanziell unterstützen. Erst in seiner zweiten Gefangenschaft verabschiedete er sich vom Mythos Europa und überlegte, wie er Gleichgesinnte im eigenen Land von der gefährlichen Flucht abhalten könnte. Nach seiner Rückkehr nach Gambia gründete er die Organisation „Youth Against Irregular Migration“. Seitdem tourt Sallah durch das Land und versucht jüngere Menschen davon abzuhalten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Zwischen 2014 und 2017 machten die Gambier eine der größten Einwanderergruppen über die Mittelmeerroute aus, die in der Heimat auch als „backway“ bezeichnet wird. Auch deswegen sind in dem Land Organisationen und Selbsthilfegruppen entstanden, die als Netzwerke für Rückkehrer dienen und gleichzeitig diejenigen warnen sollen, die gen Norden wollen. Rückkehrer hätten es schwer, sich wieder in die gambische Gesellschaft zu integrieren, sagt Sallah. Viele sähen in ihnen Verlierer, die es nicht geschafft hätten, mit dem gesammelten Geld nach Lampedusa zu kommen und ihre Familien aus der Ferne zu unterstützen.
Sallah sagt, dass er seit seiner Rückkehr viele getroffen habe, denen er den Wunsch von Europa ausreden konnte. Doch nicht alle lassen sich überzeugen – denn die Möglichkeiten in der Heimat sind begrenzt. „Viele junge Leute wollen ihr Business starten, aber ihnen wird der Zugang verwehrt“, sagt Sallah. Die Regierung, die von der EU Geld erhalten habe, stelle zu wenig Minikredite aus. „Das Geld für Projekte kommt bei den Falschen an.“ Sallah glaubt, dass in nächster Zeit wieder viele Richtung Europa aufbrechen könnten. Die Corona-Krise habe den für Gambia wichtigen Tourismussektor schachmatt gesetzt, die Strände und Küsten seien leer. „Durch die Medien erfahren wir die Todeszahlen in Europa. Einige junge Leute denken hier, dass in Europa viele gestorben sind und nun Arbeitsplätze frei werden“, sagt Sallah.
Die politischen Verhältnisse in Gambia haben sich in den vergangenen Jahren verändert. Der langjährige Diktator Yahya Jammeh war nach einer verlorenen Wahl 2017 ins Exil nach Äquatorialguinea gegangen. Der Demokrat Adama Barrow, einst selbst Migrant in Europa, wurde zum Präsidenten gewählt. Die Zahl der Migranten aus Gambia ist seitdem gesunken. Potentielle Ausreisende können nicht mehr behaupten, sie würden in ihrem Land von einem Diktator und dessen Schergen verfolgt.
Präsident Barrow hat freilich wenig Interesse daran, dass die vielen Gambier im Ausland nach Hause kommen. Knapp ein Viertel des Staatshaushaltes setzt sich aus den Rücküberweisungen zusammen. 2019 erklärte die gambische Regierung ein Moratorium für Abschiebungen aus der EU, das mehrere Monate später wieder aufgehoben wurde. Flugzeuge mit Rückkehrern kommen in der Hauptstadt Banjul aber trotzdem nicht an. Ähnlich ist die Situation im benachbarten Senegal, wo es seit 2018 keinen Abschiebeflug aus Europa gab.
Laut Ingo Badoreck, dem Leiter des Rechtsstaats-programms Westafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Dakar, ist Fluchtursachenbekämpfung in Westafrika kein populäres Thema. Vielmehr stehe es bei den Deutschen und Europäern auf der Agenda. Badoreck lobt das deutsche Engagement in der Region, betont aber auch, wie wenig Einfluss Berlin oder Brüssel auf die wirtschaftliche Situation in den Ländern hätten. Das Marktpotential sei nach wie vor gering, die deutsche Wirtschaft mache um den Kontinent (noch) einen großen Bogen. Etwa 1800 deutsche Firmen befänden sich in Afrika. Allein das Außenhandelsvolumen zwischen Deutschland und der Slowakei ist größer als mit Subsahara-Afrika insgesamt. Badoreck erzählt, dass in diesem Monat eine Gruppe deutscher Mittelständler nach Senegal reisen wolle. „Wenn es gut läuft, schaffen sie ein paar hundert Arbeitsplätze in den nächsten Jahren.“ Das deckt nicht einmal ansatzweise den Bedarf.
300 000 Senegalesen strömen auf den Arbeitsmarkt – jedes Jahr. Viele junge Leute finden nach dem Studium keinen Job. „Das Problem ist der Akademisierungswahn, die Ausbildung von Menschen an den Arbeitsplätzen vorbei“, sagt Badoreck. Nur etwa jeder Dritte fände eine Anstellung im formellen Sektor. Laut Badoreck müsste eine Lehre wie in Deutschland geschaffen werden, die formalisiert und anerkannt ist und an der nicht der Makel des Bildungsverlierers haftet. Wer in Senegal beispielsweise als Kfz-Mechaniker arbeitet, hat in der Regel keine Ausbildung genossen. Trotzdem mangelt es an technischen Arbeitskräften. In den Hochschulen werden solche Fähigkeiten nicht vermittelt.
Khadim Diop, Präsident des senegalesischen Nationalrats für Jugendliche, sieht das größte Problem in den fehlenden Berufsperspektiven. Die Regierung in Senegal versuche zwar, durch Projekte und Programme gegen Migration vorzugehen. Das Land brauche dafür aber auch die Hilfe der entwickelten Länder. Auch Diop will in Gambia junge Leute dazu motivieren, im Land zu bleiben, „um die wirtschaftlichen Möglichkeiten hier anzupacken“. Wegen der Folgen der Corona-Pandemie versuchten die Jungen nun aber verstärkt, irregulär nach Europa zu migrieren.
Laut Badoreck von der Konrad-Adenauer-Stiftung gehen vor allem diejenigen, die gebildet sind und ausreichend finanzielle Mittel haben. Menschen aus Senegal wählen die Passage über den Atlantik nach Teneriffa. Auch Gambier legen vornehmlich von Mauretanien ab, um die Kanaren zu erreichen, seitdem die Landroute nach Libyen über das Drehkreuz Agadez fast komplett geschlossen sein soll. Die Kanarischen Inseln sind inzwischen zum wichtigsten Tor nach Europa geworden. Nach Angaben des spanischen Innenministeriums landeten im ersten Quartal dieses Jahres 117 Prozent mehr Migranten auf den Kanaren als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Ministerpräsident Pedro Sánchez hat sich im April nach Senegal begeben, auch er will die Fluchtursachen bekämpfen.
Für den KAS-Büroleiter Badoreck ist bei der Fluchtursachenbekämpfung noch ein anderes Thema zentral, das von deutscher und europäischer Seite im Dialog mit Afrika umgangen werde: die Demographie. Afrika – wenngleich es einige Ausnahmen gibt – ist der Kontinent mit dem größten Bevölkerungswachstum. Derzeit beheimatet er mehr als 1,3 Milliarden Menschen. 2050 könnten es doppelt so viele sein, 2100 mehr als vier Milliarden. Vor allem Nigeria, Kongo, Äthiopien und Tansania werden dazu beitragen (zusammen mit Indien und Pakistan). Andere Länder wie Kenia, Ruanda, Ghana und die Elfenbeinküste haben heute schon mittlere Werte erreicht.
„Es kann nicht sein, dass dieses wichtige Thema vermieden wird“, sagt Badoreck. Zwar habe die Afrikanische Union 2017 ein Gipfeltreffen dazu abgehalten. Aber weder die Bundesregierung noch die Afrikaner selbst sprächen öffentlich darüber. Man müsste an den nationalen Programmen etwa im Familienministerium ansetzen, findet Badoreck. Programme zur Familienplanung könnten auch über die Entwicklungszusammenarbeit angeboten werden. Laut Demographen ist das Bevölkerungswachstum Afrikas ein heikles Thema. Sinkt die Fertilitätsrate und steigt gleichzeitig der Anteil der arbeitenden Bevölkerung, können Länder daraus einen wirtschaftlichen Nutzen ziehen. Die Zeit, um von der sogenannten demographischen Dividende zu profitieren und einen Wohlstand zu schaffen, bevor zu viele alte Menschen zu ernähren sind, wird jedoch knapp.
Badoreck sagt, dass Gelder aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit an konkretere Ziele in Westafrika geknüpft werden müssten. Der 2015 von der Europäischen Union in Valletta beschlossene Nothilfefonds für Afrika mit insgesamt 1,8 Milliarden Euro käme vielerorts an falscher Stelle an. 2015 sagte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die europäischen Länder müssten mit „unseren Partnerländern in Afrika zusammenarbeiten, um die Ursachen von irregulärer Migration anzugehen und wirtschaftliche Chancen, Gleichstellung, Sicherheit und Entwicklung zu fördern“.
Laut Badoreck seien aber gerade in Senegal viele Millionen Euro der europäischen und deutschen Hilfsgelder als Budgethilfe „unkonditioniert“ im Staatshaushalt gelandet und „zeigen nicht ihren direkten Mehrwert“. So wisse man nicht, ob Europa damit indirekt die Prestigeprojekte des Präsidenten Macky Sall finanziere. Sall, der in der eigenen Bevölkerung wegen hoher Arbeitslosigkeit unter Druck steht, lässt etwa gerade ein neues Stadion außerhalb der Hauptstadt bauen – für umgerechnet Hunderte Millionen Euro. Den Menschen vor Ort hilft das nicht.
Martin Franke ist Redakteur vom Dienst bei FAZ.NET.
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