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Die Kunst der Transition

Bringt der demokratische Übergang echten Wandel für Myanmar?

Nach Jahrzehnten diktatorisch erzwungener Selbstisolation begann das frühere Burma 2010 einen Öffnungsprozess, der im November 2015 mit den ersten demokratischen Wahlen seit 25 Jahren seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Die seitdem von der Nationalen Liga für Demokratie (NLD), der Partei von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, gestellte Regierung tut sich schwer, mit dem ungewohnten Regierungsgeschäft, den Erwartungen der Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit sowie den zahllosen Herausforderungen des von inneren Unruhen geprägten Vielvölkerstaates Myanmar umzugehen.

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Erste freie landesweite Wahlen seit einem Vierteljahrhundert: Unterstützer der Vorkämpferin für eine demokratische Entwicklung Myanmars, Aung San Suu Kyi, in Yangon 2015.

Der Hype ist vorbei. Nachdem Myanmar in der ersten Phase seines mutmaßlichen Übergangs zur Demokratie zwischen 2010 und 2015 regelmäßig in den Leitmedien der Weltpresse vertreten war, hat dieses Interesse spürbar nachgelassen. Besonders renommierten Propheten der Zeitläufte war das Land in der neuesten Ausgabe ihrer Vorhersage „The World in 2017“ nicht einmal mehr eine Erwähnung wert. Die internationale Öffentlichkeit scheint dem Irrtum anheimzufallen, dass ein politischer Wandel hin zur Demokratie nach dem erfolgreichen Abhalten allgemeiner Wahlen abgeschlossen sei. Im Fall Myanmars kommt offensichtlich erschwerend hinzu, dass die Leuchtgestalt des Übergangs, die Friedensnobelpreisträgerin und NLD-Vorsitzende Aung San Suu Kyi, lange Zeit – im Ausland fast noch mehr als in ihrer Heimat – über alle Kritik erhaben war. Zu sehr verband man mit ihrem öffentlichen Bild die Aura der durch jahrelangen Hausarrest geprägten Märtyrerin, ohne dass sie sich notwendigerweise selbst so sah. Daher setzt hinterfragender und informierter Diskurs, der die Lage des Landes in der neuen Zeit unter der Führung der NLD kritisch hätte beleuchten und auch der internationalen Öffentlichkeit verständlich erklären können, erst spät ein. Die keineswegs zu Optimismus Anlass gebende Lage Myanmars kommt aber nicht wirklich überraschend.

Die Wahlen von 2015: Schwieriger Beginn trotz überzeugenden Mandats

Als Zeitenwende der jüngeren Geschichte Myanmars dürfen die Wahlen vom 8. November 2015 gelten, die der NLD einen überwältigenden Wahlsieg auf allen Ebenen des politischen Systems und in fast allen Landesteilen einbrachten: Die Partei gewann insgesamt 79 Prozent der über Wahlkreise erreichbaren Mandate in beiden Häusern des Unionsparlaments. Diese NLD-Welle spülte auch in den Parlamenten der sieben Regionen Ayeyarwady, Bago, Magway, Mandalay, Sagaing, Tanintharyi und Yangon, wo die Partei parlamentarische Mehrheiten zwischen 63 und 75 Prozent erreichte, die politische Konkurrenz hinweg. Ein wenig moderater fielen die Wahlerfolge in den ethnischen Staaten aus: Im Chin-, Kayah-, Kayin- und Mon-Staat gewann die NLD Mehrheiten mit Werten von 50 bis 61 Prozent. Lediglich im Kachin-, Rakhaing- und Shan-Staat konnte die Partei trotz sehr guter Ergebnisse keine absoluten Mehrheiten erzielen.

Das Resultat des mit Spannung erwarteten Urnengangs wurde nicht nur in Myanmar, sondern vor allem auch international euphorisch aufgenommen: Die Schlagzeilen sprachen von einem Erdrutsch, der als „Triumph der Hoffnung“ gefeiert wurde. Allerdings wiesen schon damals zahlreiche Kommentatoren auch auf die Vielzahl der vor der neuen Regierung liegenden Herausforderungen hin und prognostizierten ihr schwierige Zeiten. Damit gemeint war, das aus dem Wahlsieg gewonnene, übergroße Mandat der Bevölkerung in erfolgreiche Politik umzusetzen und gleichzeitig einen Modus vivendi im Umgang mit den auch künftig politischen Einfluss ausübenden Militärs (Tatmadaw) zu finden. Diese ließen auch im Moment des größten Jubels der NLD und ihrer Vorsitzenden keinen Zweifel daran, auf wen der eingeleitete Wandel letztendlich zurückzuführen war: „Das Wahlergebnis ist das Resultat unseres Reformprozesses“, machte der damalige Präsident Thein Sein bereits kurz nach der Wahl vor Journalisten deutlich. Diese Selbstvergewisserung des vormaligen Juntagenerals nach innen und außen erscheint rückblickend erforderlich, um die Rolle der Streitkräfte im Kontext der schon vor 2010 in ihren Grundzügen sich zaghaft andeutenden Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen aus Militärsicht in angemessener Weise in der Geschichtsschreibung zu verankern. Über die Beweggründe für den Sinneswandel an der Spitze der Streitkräfte wurde national und international viel diskutiert. Stimmen aus der ASEAN-Region sahen die Ursachen nicht als hoffnungslosen Akt der Selbsterhaltung eines autoritären Regimes, sondern mehr prosaisch: „Die Generäle konnten sehen, dass das Land in einer Sackgasse war. Es gab keine anderen Optionen mehr.“ Auch der Zyklon „Nargis“, der Myanmar 2008 verwüstete, mehr als 100.000 Opfer forderte und das weltweit gerügte, unprofessionelle Krisenmanagement der Regierung in Naypyitaw gelten als möglicher Grund, in anderem Umfang auch die von Mönchen geführte, sogenannte Safran-Revolution vom Herbst 2007.

Welche Beweggründe schließlich den Ausschlag für eine kontrollierte Öffnung des Landes gaben, sei dahingestellt. Mit ihrem Vorgehen entsprachen die Generäle jedenfalls dem Trend der öffentlichen Meinung im Jahre 2010 und danach. In verschiedenen Umfragen, die noch vor der Wahl 2015 veröffentlicht wurden, sprach sich eine Mehrheit der Bevölkerung Myanmars für ein anderes politisches System aus, und das Gros der Befragten befürwortete die Demokratie. Dies ist erstaunlich, weil in den gleichen Umfragen klar zum Ausdruck kommt, dass Myanmar die traditionellste und konservativste politische Kultur Südostasiens hat, wo ausgeprägtes Hierarchiedenken und Respekt vor Autoritäten verankert sind. Dessen ungeachtet waren schon 2013 – also inmitten der Öffnungspolitik – 88 Prozent der Menschen der Ansicht, dass die Entwicklung des Landes in die richtige Richtung gehe.

Myanmar hat die konservativste politische Kultur Südostasiens. Dennoch sprach sich 2015 eine Mehrheit für einen politischen Systemwechsel aus.

Nach dem Wahlsieg der NLD begann eine vergleichsweise lange Phase der Übergabe der Regierungsverantwortung durch die Vorgängeradministration. Diese fünfeinhalb Monate waren gekennzeichnet durch Gerangel zwischen beiden Seiten, die sich lange nicht einmal über das protokollarische Prozedere der Machtübergabe zu einigen vermochten. Der Streit zog sich nach Medienberichten einige Wochen hin, weshalb Aung San Suu Kyi mit den Worten zitiert wurde, Myanmar sei weltweit führend bei der Länge der Transitionen. Politisch bedeutsamer war die von der NLD noch nach dem Wahlsieg gehegte Hoffnung, das überwältigende Mandat der Bevölkerung bei den Wahlen werde die Militärs, entgegen deren ursprünglicher und kontinuierlich vertretener Haltung, doch noch zur Einsicht bewegen, sich der Wahl Aung San Suu Kyis zur Präsidentin nicht mehr entgegenzustellen. Immerhin konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Aung San Suu Kyi als Staatsoberhaupt wollte: Nur so und nicht anders ist die hohe Zustimmung zur NLD bei den Parlamentswahlen zu erklären. Diese Vorstellung wurde auch von im westlichen Ausland lebenden NLD-Anhängern offensiv vertreten, obwohl ein monatelang zuvor breit geführter Diskurs um den umstrittenen Artikel 59 (f) der myanmarischen Verfassung stattgefunden hatte. Danach bestand weitgehender Konsens, dass verfassungsrechtlich der Friedensnobelpreisträgerin aufgrund der ausländischen Staatsbürgerschaft ihrer beiden Söhne der Zugang zum höchsten Staatsamt verwehrt bleiben würde, obwohl die geltende Verfassung von 2008 nicht demokratisch legitimiert ist und ebenso sicher davon ausgegangen werden konnte, dass die Frage der Staatsangehörigkeit der Söhne der „Lady“ für die Bevölkerung von zweitrangiger Bedeutung war und ist. Gleichwohl bildete die Charta die Grundlage für den von der militärgestützen Vorgängerregierung konzipierten und umgesetzten Transitionsplan. Die Orientierung aller Beteiligten daran war Voraussetzung dafür, dass die Streitkräfte den Prozess bis dahin mittragen würden. Demnach blieb Aung San Suu Kyi nur das durch ihre Stellung als NLD-Vorsitzende und ihr persönliches Charisma begründete Vorrecht der Auswahl des Kandidaten für das Amt des Staatschefs. Sie hatte angekündigt, dass, sofern sie selbst nicht zum Zuge komme, sie durch eine von ihr zu benennende Person ihres Vertrauens im Präsidentenamt regieren werde. Dabei behalte sie sich in allen zentralen Fragen eine informelle, letztinstanzliche Entscheidungsbefugnis vor. Dieses politische Outsourcing der Präsidentschaft sowie die Aussicht eines extrakonstitutionellen Quasi-Verfassungsorgans in Gestalt Aung San Suu Kyis führten zu einer breiten Debatte in den Medien. Zu unvorstellbar, zu impraktikabel und zu unrechtmäßig erschien vielen diese Option. Mit der Nominierung und anschließenden Wahl ihres langjährigen Vertrauten Htin Kyaw in das Amt des Staatsoberhaupts im März 2016 wurde jedoch genau diese Ankündigung in die Tat umgesetzt. Diese Entscheidung war ein erster Indikator für das unbedingte Festhalten an strategischen Zielen der neuen politischen Leitfigur in Myanmar.

Durch ein Schlupfloch zur Macht: Der Weg zur „Staatsberaterin“

Darüber hinaus schien Aung San Suu Kyi, die zunächst die nach westlichem Verständnis unglaubliche Zahl von vier anspruchsvollen Ressorts in der neuen Regierung übernehmen sollte, nicht gewillt, die Richtlinien der Politik nur inoffiziell, ohne formelle Ausstattung mit Kompetenzen, Verantwortlichkeiten und Budgets, bestimmen zu wollen. Die Position der Außenministerin allein hätte zwar ihren Neigungen und auch dem entsprochen, was sie als Persönlichkeit in dieses Amt einzubringen hatte. Auch konnte man annehmen, dass die Militärs sie in diesem Amt sehen wollten, um als Gesicht eines neuen, demokratischeren Myanmars einen wichtigen Beitrag zur Aufhebung der gegen das Land bestehenden Sanktionen und damit auch zum wirtschaftlichen Aufschwung zu leisten. Aber Aung San Suu Kyi und ihre Partei wollten offensichtlich mehr, wenn eine Verfassungsreform schon außerhalb ihrer Möglichkeiten lag. Nach der inoffiziellen, gescheiterten Präsidentschaftsinitiative entwickelte die NLD-Führung ersatzweise eine neue Strategie durch den Entwurf eines „Staatsberatergesetzes“, das der Parteivorsitzenden ermöglichte, genau diese beratende Funktion für die Regierung wahrzunehmen und sie damit zu einer De-facto-Regierungschefin machte – eine Position, die in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Entsprechend erzürnt reagierte die überraschte Militärfraktion im Parlament, deren verfassungsrechtlich verankerte Sperrminorität von 25 Prozent der Sitze zwar bei der Verhinderung von Verfassungsänderungen hilfreich ist, aber bei der Verabschiedung eines einfachen Gesetzes per parlamentarischem Mehrheitsbeschluss in beiden, von der NLD dominierten Kammern des Unionsparlaments wirkungslos blieb. Damit hatten die „Lady“ und ihre Partei politische Fakten geschaffen und exemplarisch demonstriert, wie weit sie zur Durchsetzung ihrer Agenda zu gehen bereit waren. Der mutmaßliche Kopf hinter dieser politiktaktischen Volte, der NLD-Topjurist und muslimische Menschenrechtsaktivist U Ko Ni, wurde am 29. Januar 2017 in aller Öffentlichkeit am Flughafen Rangun erschossen. Er galt als Kritiker der Verfassung von 2008 sowie der darin festgeschriebenen Machtstellung des Militärs. Gerade weil sich, wie die polizeilichen Ermittlungen ergaben, ein Netzwerk, überwiegend bestehend aus Ex-Militär, hinter dem Mord verbarg, sahen sich die Streitkräfte veranlasst, eine Beteiligung an der Tat offiziell zu dementieren.

Noch nicht auf Augenhöhe: Parlament in engen Grenzen

Im Rahmen der Übernahme der Regierungsverantwortung der NLD erhielt eine Vielzahl neuer Parlamentarier erstmals Abgeordnetenaufgaben in beiden Kammern des Unionsparlaments. Damit stellte sich die Frage, ob diese unerfahrene Legislative jemals auf Augenhöhe mit der Exekutive würde arbeiten können, die in der zentralstaatlichen Struktur des Landes seit jeher durchregieren konnte. Die akzentlos wirkende Amtsführung des neuen Präsidenten Htin Kyaw ließ zudem keinen Zweifel daran, dass die Machtstrukturen genau so eingerichtet worden waren, wie Aung San Suu Kyi es vorgegeben hatte. Ein Nachrichtenmagazin berichtete von dieser Machtkonzentration in der Person der Staatsberaterin: „Sie sprach zu den Abgeordneten ihrer Partei am Nachmittag vor der Präsidentenwahl im März, ihnen dozierend, was sie zu tun hatten und sie an deren Verantwortung erinnernd, die jene hatten, um ihren (Aung San Suu Kyis) Willen auszuführen.“ Parallel dazu erließ die Parteiführung strenge Vorschriften bezüglich des Comment der NLD-Parlamentarier: keine Gespräche mit Medienvertretern und keine Teilnahme an Veranstaltungen der Zivilgesellschaft ohne Erlaubnis, ebenso keine nicht vorgeprüften Fragen im Parlament – Verfahren, die die Medien als beunruhigend empfanden. Diese Einschränkungen der gewählten Volksvertreter werden durch Kenntnislücken z.B. in Kernbereichen politischer Kommunikation (Media Relations und Public Relations) sowie der öffentlichkeitswirksamen Selbstvermarktung im politischen Wettbewerb (Personal Branding) verschärft. Derzeit wird in Kauf genommen, dass die Parlamentarier ihre Funktion nicht im erforderlichen Umfang erfüllen können, weil ihre Arbeitsbedingungen unzureichend sind. Insbesondere die finanzielle und die personelle Ausstattung sowie die technischen Arbeitsmöglichkeiten bedürfen objektiv der Verbesserung. Erschwerend kommen prozedurale Probleme der Geschäftsordnung z.B. des Repräsentantenhauses (Pyithu Hluttaw) hinzu. Von Abgeordneten kritisiert wird unter anderem, dass das derzeitige Verfahren zur Vorlage von Beschlussanträgen die Vertreter von Minderheitenparteien benachteilige. Unzureichend ist ebenso, dass bei ordnungsgemäß eingereichten Fragen in den Fragenstunden nur eine Zusatzfrage gestellt werden kann. Andere Abgeordnete können auf die Frage eines Parlamentariers keine eigenen Zusatzfragen stellen. Antwortenden Regierungsmitgliedern ist nur die Verlesung vorbereiteter Antworten gestattet, frei formulierte Ergänzungen sind nicht möglich. Ausschüsse können Anhörungen zurzeit nur mit Genehmigung des Parlamentssprechers durchführen. Dies alles raubt dem Parlamentsbetrieb die ihm eigene Dynamik zwischen Legislative und Exekutive und den Parlamentariern wichtige Informations- und Kontrollinstrumente.

Ohne eine dauerhafte, verbindliche Friedensvereinbarung sei ein gesicherter Entwicklungsfortschritt Myanmars nicht möglich, so Aung San Suu Kyi.

Politische Prioritäten und Probleme: Friedensprozess und Rakhaing-Unruhen

Trotz der kurzen Regierungszeit der NLD seit April 2016 haben die Partei und ihre Vorsitzende vor allem in der Innenpolitik einige klare politische Prioritäten definiert. Die wichtigste darunter ist die Wiederaufnahme bzw. Fortsetzung des innermyanmarischen Friedensprozesses mit den ethnischen bewaffneten Organisationen (EAOs). Aung San Suu Kyi ging es dabei um die Vollendung eines historischen Prozesses, den ihr Vater Aung San 1947 mit der nach dem Ort im Shan-Staat benannten Panglong-Konferenz begonnen hatte. Im Zusammenwirken mit Vertretern der Chin-, Kachin- und Shan-Minderheiten wollte er „einige sehr allgemeine Rahmenbedingungen für das Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Gruppen nach der Unabhängigkeit“ festlegen. Gemäß diesem noch vor der Unabhängigkeit 1948 getroffenen Abkommen sollten den Teilstaaten fundamentale R echte und Privilegien zuteil und die bestehende Autonomie bewahrt werden. Föderale Ansätze fanden dabei keine Erwähnung und waren allenfalls implizit Gegenstand der Vereinbarung. Die Minderheiten der Karen, Karenni, Mon und Rakhaing waren nicht beteiligt. Die Verfassung von 1947 verankerte zwar noch die theoretische Sezession von Teilstaaten, nach der Ermordung Aung Sans aber haben die späteren Militärregierungen stets einen zentralisierten Staat angestrebt. Die Tochter, stets fixiert auf die Bewahrung des Erbes ihres Vaters und die Erhaltung seines öffentlichen Bildes als Nationalheld, machte in öffentlichen Äußerungen schon vor dem Regierungseintritt deutlich, dass nach ihrer Auffassung ein gesicherter Entwicklungsfortschritt des Landes ohne eine dauerhafte und verbindliche Friedensvereinbarung praktisch nicht möglich sei. Nach dem Wahlsieg der NLD erklärte Aung San Suu Kyi konsequent, dass der Friedensprozess die höchste Priorität der neuen Regierung sei. Nach nahezu 60 Jahren Bürgerkrieg unter Ethnien, die sich in 21 EAOs organisiert hatten, kam es zwischen 2011 und 2014 zu 14 bilateralen Waffenstillstandsvereinbarungen einzelner Gruppen mit der Regierung. Die Administration von Präsident Thein Sein hatte von 2013 bis 2015 kollektive Verhandlungen geführt, die schließlich zum Nationwide Ceasefire Agreement (NCA) vom 15. Oktober 2015 führten. Dieses allerdings wurde zunächst nur von acht der insgesamt 16 mit der Regierung verhandelnden EAOs unterzeichnet und verhinderte auch nicht, dass es zwischen 2011 und 2016 immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen im Kachin-Staat sowie im nördlichen Shan-Staat kam. Aung San Suu Kyi muss dies als Gefahr für ihre eigene Agenda bewertet haben, denn noch 2015 riet sie den Beteiligten der NCA-Verhandlungen, keine übereilten Vereinbarungen mit der damaligen Regierung zu treffen. Dies sollte einem Prozess unter ihrer Leitung vorbehalten bleiben, der am 31. August 2016 mit der 21ˢᵗ-Century Panglong Conference in der Hauptstadt Naypyitaw eingeleitet wurde – dem ersten maßgeblichen Versuch der Staatsberaterin, den Friedensprozess zu lenken. Sie brachte bei einer Gesamtteilnehmerzahl von schätzungsweise 1.500 Personen mehr als ein Dutzend EAOs sowie Regierungs- und Militärvertreter zusammen. Es fiel auf, dass die Regierung schon vorher bemüht war, allzu große Erwartungen auf einen entscheidenden Durchbruch zu dämpfen. Im Endeffekt handelte es sich um eine Abfolge von Verlesungen vorbereiteter Statements bzw. von Positionspapieren verschiedener Beteiligter, ohne dass wichtige Themen verhandelt wurden. Allerdings wird dieses Beziehen von Positionen vereinzelt auch als Voraussetzung für den Beginn weiterer Debatten und Verhandlungen interpretiert. Positiv bewertet wurde die Teilnahme des seinerzeitigen VN-Generalsekretärs Ban Ki Moon und der Umstand, dass es den Organisatoren gelungen war, eine Vielzahl Prozessbeteiligter zur Teilnahme zu bewegen, auch wenn drei EAOs aufgrund von Differenzen mit Regierung und Militär über ihre Teilnahmebedingungen nicht dabei waren. Alle Unterzeichner, aber auch die Nichtunterzeichner des NCA, waren auf der Konferenz vertreten, was diese von der Union Peace Conference der Vorgängerregierung im Januar des Jahres abhob, welche auf NCA-Unterzeichner beschränkt war. Ein protokollarischer Lapsus bewirkte die vorzeitige Abreise der Delegation der größten EAO des Landes, der United Wa State Army (UWSA), nach nur einem Tag. Im Frühjahr 2017 befürchtete die Presse Myanmars einen Stillstand und eine Gefährdung der Eigendynamik des Friedensprozesses, da die 2016 vorgesehene halbjährliche Konferenzabfolge schon bei der ersten fälligen Folgekonferenz zunächst nicht einhaltbar erschien. Konzediert wird allerdings, dass der Friedensprozess für die NLD-Regierung eine anspruchsvollere Herausforderung ist als für die Vorgängeradministration: Das Zusammenführen der Agenden verschiedener Prozessbeteiligter wird als ebenso verantwortlich dafür angesehen wie die noch ausstehende Definition akzeptabler Verhandlungsergebnisse durch die EAOs. Solch abwartenden Bewertungen stehen die nuancenlos negativen Einschätzungen langjähriger Myanmar-Beobachter entgegen. Aufgrund der andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen sehen diese den Gesamtvorgang nicht als Friedens-, sondern als Konfliktprozess und halten zahlreiche Formen ausländischen Engagements im Friedenprozess für nicht zielführend, um nicht zu sagen nutzlos. Diese Perspektive enthält auch Kritik an der Dauerforderung des Militärs, nur Unterzeichner des NCA als Verhandlungspartner zu akzeptieren, und relativiert das bisher Erreichte, vor allem das NCA. Derweil halten die bewaffneten Kämpfe an und forderten im Frühjahr 2017 wieder zahlreiche Todesopfer.

Die innen- wie außenpolitisch schwerwiegendste Belastung des ersten NLD-Regierungsjahres ergab sich ab Oktober 2016 im Rakhaing-Staat, wo es zu Überfällen auf Grenzpolizeiposten und Militäreinheiten kam, die nach offizieller Lesart von muslimischen Aufständischen mit ausländischer Unterstützung verübt wurden und mehrere Todesopfer zur Folge hatten. Die anschließenden Gegenaktionen des Militärs führten zu einer Fluchtbewegung muslimischer Bevölkerungsgruppen, die in einer Größenordnung von 120.000 Personen in Lagern, unter anderem nahe der Regionalhauptstadt Sittwe, Zuflucht suchen mussten, während nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bis Anfang Dezember 2016 rund 21.000 Flüchtlinge die Grenze nach Bangladesch überschritten hatten. Diese klagten das myanmarische Militär zahlreicher, z.T. schwerster Verbrechen gegen die muslimischen Bevölkerungsminderheiten während seiner Operationen im nördlichen Rakhaing-Staat an – Vorwürfe, die vom Präsidentensprecher bestritten wurden. Internationaler Druck auf Naypyitaw führte schließlich zur Einsetzung einer Ermittlungskommission unter Vorsitz des Ersten Vizepräsidenten und früheren Militärgeheimdienstchefs U Myint Swe. Diese Maßnahmen der Regierung ließen internationale Gremien jedoch weitgehend unbeeindruckt. Am 24. März 2017 verlängerte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen nicht nur das Mandat für die Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in Myanmar um ein weiteres Jahr, sondern beschloss auch die dringliche Entsendung einer unabhängigen, internationalen fact-finding mission zur Untersuchung vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen durch Militär und Sicherheitskräfte im Rakhaing-Staat. Dies musste aus Sicht der Regierung Myanmars als internationales Misstrauensvotum gegenüber der Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Untersuchung gewertet werden, so dass sie sich umgehend von der Resolution distanzierte. Darüber hinaus war unter Aung San Suu Kyi bereits im August 2016 die Advisory Commission on Rakhine State unter Vorsitz des ehemaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kofi Annan eingerichtet worden. Ihre Aufgabe bestand in der Erarbeitung allgemeiner Empfehlungen zur Verbesserung der Lebenssituation im Rakhaing-Staat. Die Vorlage vorläufiger Ergebnisse der Kommissionstätigkeit erfolgte am 16. März 2017 in Rangun, wobei deren 30 Empfehlungen sich auf humanitäre Sofortmaßnahmen, Medienzugang, Schließung der Flüchtlingslager, Klärung offener Fragen des myanmarischen Staatsangehörigkeitsrechts, v.a. aber auch der Verfolgung von Straftaten im Menschenrechtsbereich fokussierten.

Die ungelöste Frage: Wandel – ob, wie und wann?

Die kritische Lage Myanmars ein Jahr nach der Regierungsübernahme der NLD ist weitgehend hausgemacht. Die Partei muss sich ankreiden lassen, dass sie Slogans an die Stelle von Programmen gesetzt und 2015 ihre hohe Zustimmung nur wegen der Person Aung San Suu Kyis bekommen hat. Parallel unterließ sie vor der Wahl eine angemessene sachpolitische Vorbereitung vieler ihrer zukünftigen Amts- und Mandatsträger, die nun, im Angesicht der Erwartung der Bevölkerung auf sichtbare Entwicklungsfortschritte, die Schwere der Aufgabe erkennen und sich ihrer eigenen Defizite bewusst werden. Diese werden auf Dauer auch der Bevölkerung nicht verborgen bleiben. Die Regierungspartei bevorzugt stattdessen unter anderem die Rolle der Moralwächterin ihrer Abgeordneten, während sie und ihre Vorsitzende bei Weitem nicht genug tun, um politische Institutionen zu stärken – eine Grundvoraussetzung für das Gelingen eines demokratischen Übergangs. Neben den beschriebenen Schwächen des Parlaments spielt auch die Judikative bis jetzt keinerlei signifikante Rolle. Insbesondere das Constitutional Tribunal besteht zwar, wird aber nicht hinreichend in den Rechtsstaatsaufbau mit einbezogen. Hingegen kann die Exekutive in dem zentralstaatlich organisierten Myanmar weiterhin unabhängig von den anderen Gewalten durchregieren – mit drei Militärs in Schlüsselressorts am Kabinettstisch (Inneres, Verteidigung, Grenzsicherung). Die Minderheiten, die im Vertrauen auf eine über den Ethnien agierende Führerin ihr Vertrauen in Aung San Suu Kyi gesetzt hatten, beginnen nun, diese deutlich kritischer zu bewerten, da die Staatsberaterin in vielen Fragen wie eine Bamar – die Angehörige der Mehrheitsethnie, die sie selbst ist – agiert. Die zunehmenden Proteste in den Regionen und Staaten der Minderheiten gegen die Benennung öffentlicher Bauwerke und Denkmäler nach dem Staatsgründer Aung San sind ein äußeres Zeichen für diese Kritik. Ihre innenpolitische Prioritätensetzung mit dem Friedensprozess an der Spitze der Agenda bedeutet auch, dass eine wie auch immer zu gestaltende Verfassungsreform und damit wirklicher demokratischer Wandel erst nach einem solchen Friedensabkommen möglich sein können. Selbst wenn der Frieden mit Zustimmung aller Beteiligten in absehbarer Zeit gelänge (was derzeit illusorisch erscheint), ermöglichen die gegenwärtigen Unruhen den Streitkräften, sich dauerhaft und vornehmlich gegenüber der Mehrheitsethnie der Bamar als Garant von Sicherheit und Ordnung zu projizieren, v.a. auch als Bewahrer der staatlichen Einheit des Vielvölkerstaates. Dieser Punkt sollte in seiner Bedeutung für die Bamar nicht unterschätzt werden. Viele von ihnen sehen es mit Unbehagen, dass die Regionen der ethnischen Minderheiten sich auf der Landkarte wie ein Hufeisen um die von den Bamar bewohnten Gebiete gruppieren und bewerten die Rolle der Tatmadaw durchaus nicht durchgängig negativ. Anzunehmen, wie es in einzelnen westlichen Darstellungen zum Ausdruck kommt, dass das Militär seit 2015 eine andere, weniger einflussreiche Stellung einnimmt oder die Regierungsgewalt gar nicht mehr übernehmen kann, wäre daher total verfehlt. Im Gegenteil: Unbekannt bleibt, ob und, wenn ja, welche Konzessionen Aung San Suu Kyi den Streitkräften gegenüber gemacht hat bzw. machen musste, um politisch agieren zu können wie derzeit. Dass dies einschließen könnte, sich unter anderem innenpolitisch nicht zugunsten von besonders umstrittenen Minderheiten wie der Rohingya einzusetzen, liegt auf der Hand. Das weitergehende strategische Ziel der Staatsberaterin und ihrer Partei – die Erhaltung der gerade erst geschaffenen politischen Machtbasis – steht dem bis auf Weiteres entgegen. Regierungsverantwortung in Myanmar bedeutet v.a., Teil des Systems zu sein, das gilt auch für die NLD. Dies alles wird mittlerweile vereinzelt auch im Westen erkannt, wo ebenso akzeptiert werden sollte, dass es zwangsläufig Unterschiede im öffentlichen Auftreten zwischen Friedensnobelpreisträgern, die Aktivisten geblieben sind, und solchen, die pragmatisch politische Verantwortung übernehmen, geben muss. Beobachter verwundert, dass die Staatsberaterin sich nicht aktiver um Verbündete außerhalb von Partei und Parlament für ihren Kurs bemüht. Kritisiert wird in diesem Kontext ihr mehr als distanziertes Verhältnis zur Zivilgesellschaft. Zudem ist in Gestalt des militanten Buddhismus ein Störfaktor für den gesamtgesellschaftlichen Frieden erwachsen, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Und selbst die treuesten NLD-Vertreter mahnen inzwischen eine weit deutlichere Prioritätensetzung der Regierung zugunsten der Belebung der lahmenden Wirtschaft an: Ohne ökonomischen Erfolg wird auch der Rest der anspruchsvollen Agenda Aung San Suu Kyis kaum umsetzbar und die Regierungsbilanz mager sein. Schließlich entdeckt auch Myanmar den politischen Wettbewerb, und die Gründung einer dritten politischen Kraft (neben der NLD und der militärgestützten Union Solidarity and Development Party, USDP) aus Aktivisten der Protestbewegung von 1988 ist nicht mehr auszuschließen. Was also wird mit der Hoffnung auf echten demokratischen Wandel in Myanmar? Im Vergleich mit den anderen Mitgliedstaaten des Verbandes südostasiatischer Nationen (ASEAN) steht das Land unter demokratiepolitischen Aspekten momentan noch akzeptabel dar. Myanmars Erfolg sei der Erfolg der ASEAN, sagte der frühere Generalsekretär des Verbandes und ehemalige thailändische Außenminister Surin Pitsuwan noch vor Kurzem prognostizierend in Rangun. Aber die Aussichten von Erfolg und Misserfolg der Transition liegen 2017 noch sehr nah beieinander.

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Dr. Norbert Eschborn ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Myanmar.

Der Autor dankt Julian Rothkopf MPP, LL.M., Nicolò Ciattoni und Alexis Freytag von Loringhoven für wichtige Recherchen zu diesem Beitrag.

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