Ausgabe: 2/2017
Uruguay hört wieder auf einen Arzt, wie schon zwischen 2005 und 2010. Es ist sogar derselbe Arzt wie vor einer halben Dekade, der mittlerweile 77 Jahre alte Krebsspezialist Tabaré Vázquez. Als er am 1. März 2015 ins Präsidentenamt zurückkehrte, schien das bloß ein weiterer Triumph eines linken Politikers auf dem Kontinent zu sein, einer von so vielen seit der Jahrtausendwende. Der Sozialist Vázquez hatte José „Pepe“ Mujica beerbt, den der (eigenen, gut gepflegten) Legende zufolge „ärmsten Präsident“ weltweit. Mujica, ein Ex-Guerillero und Anführer der Volksbewegung Uruguays, war eine Lichtgestalt des linkspopulistischen Clubs lateinamerikanischer Staatsoberhäupter gewesen. Seine Amtskollegen hießen Cristina Kirchner (Argentinien), Rafael Correa (Ecuador), Hugo Chávez und Nicolás Maduro (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Ollanta Humala (Peru) sowie Luiz „Lula“ da Silva und Dilma Rousseff (Brasilien). Sie gewannen Wahlen und drehten dann Volk und Land politisch wie wirtschaftlich auf links; sie versprachen das Neue, legten Programme für Arme auf und hatten damit Erfolg – scheinbar, wie man heute weiß. Die Gipfel der regionalen Organisationen, ob Unasur oder Mercosur, gerieten zum großen sozialistisch-kommunistischen Klassentreffen. Manchmal schauten sogar der ewige Daniel Ortega aus Nicaragua und der kubanische Übervater der Bewegung, el Comandante Fidel Castro, vorbei.
Der Ende 2014 so wenig überraschende Wahlsieg Vázquez’ hat zweieinhalb Jahre später einen erheblichen Nachrichtenwert bekommen: Es war bis heute der letzte Erfolg eines Linken. Wobei der Mediziner immer schon einen eigenen Stil gepflegt hat: Er ist stets korrekt gekleidet und achtet auf Umgangsformen. Er hält weder stundenlange Volksreden noch denkt er im Feind-Freund-Schema. Und die Pressefreiheit tastet er auch nicht an, ja er wirbt im Ausland sogar mit der Rechtssicherheit in seiner Heimat. Man muss schon länger suchen, um einen populistischen Punkt zu finden. In seinen Wahlkampfspots immerhin hat er ordentlich gegen die alten Eliten Uruguays gepoltert, jene Familien mit Hausangestellten, viel Ackerland und Einkünften aus Geerbtem. Auch 18 Jahre nach dem Machtwechsel, dem historischen Sieg der linken Koalition Frente Amplio bei der Präsidentenwahl Ende 2004 über die ewig regierenden Konservativen, ist das Land eine der stabilsten Demokratien Lateinamerikas. Das Bündnis aus fast 40 Parteien, darunter trotzkistische, kommunistische und christdemokratische, findet zwar keine rechte Antwort auf die typisch-lateinamerikanischen Sorgen: Kriminalität und Korruption, Inflation und Wirtschaftsflaute. Aber es hält zumindest und könnte auch bei der nächsten Präsidentschaftswahl Ende 2019 die Macht verteidigen. Mittlerweile würde ein solcher Erfolg eine Schlagzeile machen, weil so eine Nachricht keineswegs gewöhnlich wäre.
Denn der linkspopulistische Stamm auf dem Kontinent schwächelt gewaltig. Zwei bedeutende Mitglieder, die Brasilianerin Rousseff und die Argentinierin Kirchner, haben die Macht schon abgeben müssen, genauso Humala in Peru. Ecuadors dreimaliger Präsident Correa macht demnächst Platz, er durfte bei den Wahlen nicht noch einmal kandidieren (und träumt wie andere seiner einstigen Kollegen von einer Rückkehr). Übrig geblieben sind vor allem die beiden Staatschefs in Venezuela und Bolivien. Aber besonders um Maduro macht man selbst als Linker inzwischen einen weiten Bogen. Auch Doktor Vázquez nimmt ihn nicht mehr mit aufs Foto.
Ein Kontinent, immer gut für Überraschungen
2016 war für Lateinamerika das 35. Jahr nach dem Beginn der sogenannten dritten Demokratisierungswelle. Nach dem Ende der Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre hielt die Demokratie zwar wieder Einzug, allerdings probierten sich die Regierenden dabei ordentlich aus: Der Rückzug des Staates während der Wirtschaftsreformen des Washington Consensus der 1980er Jahre ging so weit, dass die Politikwissenschaft schon von defekten Demokratien sprach. Die marea rosa (rosa Flut), die Ende der 1990er Jahre einsetzte, war eine abrupte Kehrtwende, die dafür sorgte, dass der Staat sich als allzuständig und, nun ja, allmächtig ansah. Mehr als ein Jahrzehnt lang wurden Dreiviertel der Lateinamerikaner von sogenannten linken Regierungen geführt, die sich – die einen mehr, die anderen weniger – dem in Caracas geborenen Sozialismus des 21. Jahrhunderts verschrieben hatten. Seit gut einem Jahr verebbt diese Flut; ihr Schlachtruf ¡Vamos por todo! (Gehen wir aufs Ganze!) verhallt – auch dies ist ein Novum auf dem stark polarisierten Kontinent – nahezu ohne Gewalt.
Dabei ist Lateinamerika seit jeher gut für Überraschungen. Politik und Gesellschaft sind gespalten, es scheint immer ums Ganze zu gehen. Mit Zwischentönen und Kompromissen tut man sich schwer, vielleicht auch, weil die Mittelschicht als ausgleichender Akteur zwischen den sehr vielen Armen und den sehr wenigen Reichen nach wie vor zu klein ist und sich vor allem um das eigene Überleben kümmert. Auch Regierungswechsel sind auf dem Kontinent in der Vergangenheit oft schwierige, nicht selten blutige Angelegenheiten gewesen, besonders dann, wenn nicht nur Personen, sondern zugleich Macht und Ideen ausgetauscht wurden. Doch Lateinamerika scheint auch in diesem Punkt gereift zu sein. Mancherorts wechselt die Macht mittlerweile beinahe geräuschlos. Der Ausgang der argentinischen Präsidentschaftswahl (2015) war zwar genauso eng wie der des Referendums über eine Verfassungsänderung zur vierten Wiederwahl des Staatsoberhaupts in Bolivien. Doch die Verlierer – hier Kirchneristen, dort Morales und seine Anhänger – nahmen das Ergebnis hin. Selbst in Brasilien, wo Rousseff in einem fragwürdigen Prozess vom Parlament abgesetzt wurde, gingen zwar Millionen auf die Straße. Aber der Protest blieb weitgehend friedlich. Allerdings: Zu Hymnen besteht auch kein Anlass. Noch immer versorgt der Kontinent den Rest der Welt mit schlechten Nachrichten. In Brasiliens Gefängnissen ist Anfang des Jahres die Gewalt explodiert, weil zwei Drogenclans Rechnungen begleichen wollen. Mehr als 120 Tote sollen es inzwischen sein, und die Politik und weite Teile der Gesellschaft schauen dem Schlachten zu oder begrüßen es sogar.
Auch anderswo muss man nach Problemen nicht lange suchen: die offene Gewalt auf Mexikos Straßen, der illegale Bergbau in Kolumbien, der Autoschmuggel im großen Stil an der peruanisch-bolivianischen Grenze, die weltweit größte Marihuanaproduktion in Paraguay, die hungernden Kinder und politischen Gefangenen in Venezuela, die Abschaffung der Pressefreiheit in Ecuador, dazu Korruptionsskandale gigantischen Ausmaßes und Naturkatastrophen, die weder Dürren und Überschwemmungen noch Brände, Erdbeben und Vulkanausbrüche auslassen. Aber: Das ist nur ein Teil der Wirklichkeit, die den Kontinent prägt. Denn eines erlebt Lateinamerika derzeit fast überall: Die Zivilgesellschaften erstarken, sie fordern gute Regierungsführung und Verlässlichkeit von der Politik. Zur Not lautstark, wie die unzähligen Massendemonstrationen der vergangenen Jahre zeigen. „Lateinamerika ist zurück auf dem richtigen Weg“, schrieb kürzlich der Economist, wenngleich er in Klammern noch ein skeptisches „meistens“ nachschob. Doch egal, ob der Venezolaner Maduro das Parlament ignoriert und die Opposition ihrer Rechte berauben will oder ob Evo Morales glaubt, alle Gerichte sollten eine Art verlängerter Arm seiner Regierung sein: Für die meisten Menschen in Lateinamerika ist Democracy the only game in town. Auch wenn einige Präsidenten das nicht wahrhaben wollen.
Politik als Elitenprojekt?
Der US-amerikanische Politikprofessor Kurt Weyland schrieb noch im Juli 2013 im Atlantic: „Zum ersten Mal seit Jahrzehnten steht die Region vor einer nachhaltigen, koordinierten autoritären Bedrohung.“ Nur wenige Monate zuvor war der venezolanische Präsident Chávez gestorben und nach dem letzten Atemzug sogleich wieder auferstanden – oder besser aufgebahrt worden: als kontinentaler Heilsbringer linker Populisten. Chávez hatte sich zu Lebzeiten vom bewunderten Volksversteher zum gefürchteten Autokraten radikalisiert, aber zugleich seinen Amtskollegen den Weg zum dauerhaften Machterhalt gezeigt: Man nehme Plebiszite, um die Amtszeitbegrenzung abzuschaffen, ein paar innere und äußere Feinde, die Dinge wie Meinungs- und Pressefreiheit verlangen und nicht wollen, dass Volkes vermeintlicher Wille geschehe; man schwäche alle anderen Staatsgewalten und werfe mit Sozialprogrammen um sich, so lange das Geld reicht. Fertig ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Seine Nachahmer von Buenos Aires bis Managua versuchten sich – wenngleich unterschiedlich intensiv und erfolgreich – an der Abwicklung der einheimischen Demokratie.
Lateinamerika hat seine Lektionen gelernt. Besserwissern, vermeintlichen Erneuerern und Alleskönnern, ja selbsternannten Erlösern ist man schließlich lange genug gefolgt. Aber den richtigen Weg hat der Kontinent dennoch nicht gefunden. Möglicherweise gibt es den ja auch gar nicht. Es war und ist und wird wohl immer kompliziert bleiben. Gewiss, die ungeheure Ungleichheit als ewige Konstante der Region lässt sich durch Sozialprogramme verringern, aber eben nur, wenn diese ehrlich sind und nicht allein denen helfen, deren Gunst und Wählerstimme sich der Verteiler erkaufen will. Natürlich kann ein Präsident sein Land von der Weltwirtschaft abkoppeln – oder sich auch am exakten Gegenteil versuchen: Aber mit keinem Extrem hat der Kontinent besonders gute Erfahrungen gemacht. Lateinamerika schätzt mittlerweile durchaus, was anderswo auf der Welt augenblicklich schwere Zeiten durchmacht: den Kompromiss, das Ausbalancieren gegensätzlicher Positionen, das zähe, nächtelange Ringen um eine Lösung, hinter der sich Kontrahenten versammeln können, ohne das Gesicht zu verlieren. Einen schweren Stand hat die Politik trotzdem nach wie vor. Zwar zeigen Messungen, dass regelmäßig mehr als die Hälfte der Latinos die Demokratie unterstützt und als beste Staatsform ansieht. Aber die große Mehrheit – im Durchschnitt 73 Prozent – glaubt, dass ihre politischen Eliten im eigenen Interesse handeln; das ist der höchste Wert seit zwölf Jahren. Und darin liegt auch ein gewisser Pessimismus begründet. Der Mix aus wirtschaftlicher Unsicherheit, Korruption und – besonders in Zentralamerika – Gewaltverbrechen besorgt die Bürger. Und dennoch: Sie wollen, dass sich ihre Länder wirtschaftlich öffnen und enger zusammenarbeiten. Integration, in Europa und den USA wahrlich gerade kein Gewinnerthema im Wahlkampf, verspricht Hoffnung, einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise, an der der Kontinent seit mindestens sechs Jahren und dem Ende des Rohstoffbooms leidet.
Politik war in Lateinamerika lange ein Elitenprojekt. Schon die Unabhängigkeitshelden entstammten weitgehend der Oberschicht, und das Volk folgte ihnen. Eine Bilderbuchrevolution war die Befreiung von den Kolonialherren also keineswegs. Das Herrschaftsprinzip des caudillismo, das ewige Vertrauen in die Schaffenskraft des Anführers, der sich wie ein Patron um die Familie kümmert, hat hier seine Wurzeln. Der Kontinent aber schickt sich an, sich ein zweites Mal zu befreien, nur diesmal von der Figur des caudillo, des Übervaters. Jetzt heißt es: einmischen, mitmachen, die Geschicke selbst in die Hand nehmen. So gesehen ist das allgegenwärtige Misstrauen in das politische Personal vielleicht sogar zeitgemäß, ja wichtig und mindestens verständlich. Mit der Lethargie und dem Pessimismus, die dazu geführt haben, schicksalsergeben die Zeitläufe zu akzeptieren, scheint es vorbei zu sein. Das Latinobarómetro zeigt, dass seit 2013 die Bereitschaft wächst, für Transparenz, bessere Gesundheitsversorgung, demokratische Rechte und gegen Machtmissbrauch und Misswirtschaft auf die Straße zu gehen und sich zu organisieren; mit einem Skalenwert von sechs bis sieben gilt diese Bereitschaft als „sehr hoch“. Auch die Anführer selbst lernen und üben sich im Machtverzicht. Zwar geht die Staatsgewalt noch immer oft überaus ruppig mit Demonstranten um. Aber die Blütezeit der Putsche liegt lange zurück. Das Militär als politischer Akteur ist schon lange auf dem Rückzug. Lateinamerikas Demokratie scheint endlich – Zeit wurde es ja auch! – aus der Pubertät zu sein. Und auf einmal interessiert ein Thema Politikwissenschaftler und Politiker gleichermaßen: Braucht die Demokratie Parteien? Denn sie sind es laut Lehrbuch ja, die die vielen Meinungen kanalisieren und Politik umwandeln sollen. In Europa und Nordamerika geht es (bislang) nicht ohne sie. Lateinamerika indes bedient auch in seiner jüngeren Geschichte die Klischees: Immer wieder stößt man auf starke Männer, die wie Sebastián Piñera in Chile Wahlen fast im Alleingang gewinnen, auf soziale Bewegungen, die sich ihren Leitwolf (Morales in Bolivien, Lula da Silva in Brasilien) suchen, und auf Leute wie Guatemalas Komiker Jimmy Morales, einen jener Emporkömmlinge mit mehr Strahlkraft als das politische Stammpersonal. Nur auf stabile Parteiensysteme und -strukturen stößt man kaum, nicht einmal weiter vorn im Geschichtsbuch.
Eine ganze Reihe jüngerer Politikwissenschaftler hat sich daher unlängst mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Bedingungen politische Parteien entstehen – und warum nur die allerwenigsten Bestand haben. Lateinamerika bot sich für Feldstudien geradezu an, denn trotz Demokratie ist die Zahl konsolidierter Parteien begrenzt. Traditionelle Kräfte mit langer Geschichte haben sich in vielen Ländern nahezu aufgelöst; von den 255 Parteien, die seit Beginn der Demokratisierung im Jahr 1978 bis 2005 entstanden, haben nur elf „Wurzeln geschlagen“, gerade einmal vier Prozent. Um den Aufbau verlässlicher, stabiler Parteistrukturen hat sich bisher kaum ein Regent gekümmert. Vor allem die Linkspopulisten glaubten (und tun es nach wie vor), dass ein Herrscher direkt mit dem Volk kommunizieren müsse, um wahrhaftig demokratisch wirken zu können. Die eigentlichen Aufgaben von Parteien in Demokratien, die die Wissenschaft mit den sperrigen Begriffen Politikformulierung, Politikimplementation, Politikkontrolle und Personalrekrutierung beschreibt, erledigt der traditionelle lateinamerikanische Anführer allein mit seinem Gefolge, und zwar ohne auch nur den Anschein von Transparenz zu erwecken. Eine innerparteiliche Willensbildung klassischer Prägung existiert nicht. Die Kandidaten für Parlamentswahlen etwa nominiert nicht ein Parteitag, sondern la mesa chic a, also der Chef höchst selbst, allein sich und einen kleinen Kreis von Vertrauten befragend. Argentiniens Zeitung Clarín beschrieb das unter der linksperonistischen Präsidentin Kirchner seinerzeit übliche Auswahlverfahren als Griff zu lapicera y guadaña, Kugelschreiber und Sense. Parteien sind so weitgehend Herrschaftsinstrumente. Belohnt werden Loyalität, ja Gehorsam. Debatten sind unerwünscht, Positionen wechseln und werden den Erfolgsaussichten angepasst.
Außenseitern, die eine Partei nur gründen, um bei der nächsten Wahl antreten zu können, kommt dabei zugute, dass sich die Zivilgesellschaften nicht mehr am Links-Rechts-Spektrum orientieren, auch Religion spielt als inhaltlicher Kitt kaum noch eine Rolle. Großen Einfluss haben indes die sozialen Netzwerke. Bei diesem Thema ist der Kontinent zweifellos Erste Welt. Acht von zehn Lateinamerikanern leben in Städten; nicht überall haben sie Zugang zu Trinkwasser, aber ein Leben ohne Smartphone ist kaum vorstellbar. 60 Prozent haben mittlerweile Zugang zum Internet. Zu den zehn Ländern, deren Bürger die meiste Zeit im Internet verbringen, gehören Argentinien, Mexiko und Brasilien, noch vor den USA oder irgendeinem europäischen Land. Mit 50 Prozent nutzen mehr Menschen die sozialen Netzwerke in Lateinamerika als in Europa. Mehr als die Hälfte der mehr als 600 Millionen Latinos nutzt aktiv Twitter, Facebook, Instagram, Snapchat& Co.; nur in Nordamerika und einigen Ländern Asiens liegt der Anteil höher. Allein Facebook hat in der Region 322 Millionen Nutzer.
Die digitale Revolution verändert die Politik und mit ihr die Parteien – wohlgemerkt: nicht nur die Art der Kommunikation mit dem Wähler oder Mitglied. Debatten und parteitagsähnliche Zusammenkünfte könnten im digitalen Raum stattfinden. Auf einem Kontinent, der von seiner Fläche mehr als doppelt so groß wie Europa und obendrein im wahrsten Sinne des Wortes schwerer zugänglich ist, muss das kein Nachteil sein. Im Gegenteil. Es liegt darin eine Chance, Hindernisse wie etwa die paternalistischen Organisationsstrukturen oder die mangelnde Mitsprache endlich zu überwinden.
Bei ihren Forschungen zu den Parteien Lateinamerikas haben die Politikwissenschaftler Steven Levitsky, James Loxton und Brandon Van Dyck definiert, wann solche Kräfte als stabil gelten. Aufgenommen in die Liste wurden hierbei nur Parteien, die bei landesweiten Wahlen mindestens ein Prozent der Stimmen erreicht haben. Als erfolgreich gilt eine Partei erst, wenn sie mindestens fünfmal hintereinander wenigstens zehn Prozent erhalten und auch den Rückzug ihrer Gründungsfigur überstanden hat.
Nun endet die Datenbasis lange vor Erscheinen der genannten Studie. Wie viele Parteien deshalb derzeit insgesamt in Lateinamerika existieren, lässt sich kaum sagen. Es fehlen verlässliche Zahlen. So werden Parteien noch als „inkomplett“ bewertet, obwohl sie mittlerweile seit mehr als zehn Jahren regieren. Dazu zählen etwa der Movimiento al Socialismo (MAS) des Bolivianers Morales oder die Partido Socialista Unido de Venezuela (PUSV), die Maduro vom Gründungspräsidenten und „ewigen Führer“ Chávez geerbt hat.
Vom Fußball lernen
Angesichts der großen Zahl von Parteien, die in den vergangenen Jahren gekommen und wieder gegangen sind, fragt man sich gleichwohl: Wie entstehen sie? Warum lösen sie sich oft sehr schnell wieder auf? Und was muss geschehen, damit sie überleben und letztlich die Demokratie und ihre Spielregeln stärken? Die Politikwissenschaftler um Harvard-Professor Levitsky stellen klar: Weder die Demokratie als Staatsform noch die Wahlgesetze und die Funktionsweise staatlicher Institutionen scheinen sich auf das Parteiensystem eines Landes auszuwirken. Und das ist keine Jubelbotschaft für all jene, deren Arbeit dort ansetzt. Den Zusammenhang beispielsweise zwischen Prozenthürden bei Wahlen und der Stärkung von Parteien nennen einige Autoren sogar „trivial“. Und auch die Annahme, dass parlamentarische Systeme Parteien stärkten, gilt demnach nicht für Lateinamerika. Und: Gerade die Wahlregeln ändern sich in Lateinamerika so oft, dass sie gar nicht als Konstante in die Betrachtung einfließen dürften.
Noch etwas macht Lateinamerika aus: Es ist nicht die stabile Demokratie, die zur Neugründung von Parteien animiert. Ebenso wie in Europa und den Vereinigten Staaten haben sich viele der historisch gewachsenen Parteien in Zeiten gewalttätiger Konflikte gebildet. Während der dritten Welle der Demokratisierung waren „Polarisierung und Gewalt die Hauptursache für Parteigründungen“. In den genannten Forschungen stehen hierfür MAS in Bolivien und der chavismo in Venezuela. Heute sind andere Parteien an deren Stelle getreten: die Demócratas im Andenstaat und Primero Justicia in der Karibikrepublik. Auch die aktuelle Präsidentenpartei PRO in Argentinien passt in diese Reihe, wiewohl sie in den Analysen von Levitsky und seinem Team noch als „inkomplett“ auftaucht. Allerdings wird gerade hier eines deutlich: Parteien, die sich in einem autokratischen Umfeld bewegen und damit nicht nur in ihrer politischen Bewegungsfreiheit, sondern auch beim Zugang zu Medien und Staatsapparat eingeschränkt sind, können nur überleben und wachsen, wenn sie sich organisieren.
Drei einfache Dinge, so sagen Levitsky und seine Kollegen, sollten von allen beherzigt werden, die mit Parteien erfolgreich sein wollen. Erstens sollten starke Identitäten gepflegt werden. Die Parteien müssen also für etwas stehen, ihre Anhänger und Mitglieder müssen sich über die Partei identifizieren. Ponerse la camiseta heißt das in Lateinamerika, sich das Trikot überziehen und zeigen, wo man hingehört. Denn: Nur jemand, der hinter einer Partei steht und zu ihr hält wie zu seinem Fußballverein, engagiert sich auch für sie und weiß, was sie von anderen politischen Organisationen unterscheidet. „Du kannst vielleicht die Frau wechseln, aber niemals die Farben deines Klubs“, sagt ein argentinisches Sprichwort. Der Fußballfan lebt den sogenannten Aguante, es ist das Durchhaltevermögen auch in schweren Stunden und nach heftigen Niederlagen. Viele Traditionsparteien – die Peronisten und die Radikalen in Argentinien, die Blancos in Uruguay, die Anhänger von Mexikos Partido Revolucionario Institucional – beziehen aus der Leidensfähigkeit und dem Stolz ihrer Parteigänger eine besondere Stärke.
Eine erfolgreiche Partei muss zweitens Präsenz zeigen, und zwar nicht nur in Form eines Präsidenten, sondern möglichst im ganzen Land. Will heißen: Es braucht eine verlässliche Struktur. Sei es nun in offizieller Form über Gremien und formelle Mitgliedschaften, über Graswurzelorganisationen und soziale Bewegungen, wie es sie in Lateinamerika häufig gibt, oder auch klientelistische informelle Strukturen oder Patronagesysteme. Die Gründe liegen auf der Hand: Wer nahe an den Leuten ist, dem fällt es leichter, sie am Wahltag an die Urne zu bringen. Außerdem hilft eine tragfähige Struktur, Krisen zu überstehen. Und: Wer die Probleme vor Ort kennt, kann sich in Städten und Regionen zur Wahl stellen und so seine Regierungsfähigkeit beweisen.
Die dritte Zutat für den Erfolg einer Partei ist laut demnach die Kohäsion. Gemeint ist schlichtweg eine stabile Bindung zwischen dem Spitzenpersonal und den Mitgliedern. Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, dass die Führungsriege zusammensteht, um Basis und Wähler nicht zu verunsichern.
Gewiss, der Generalsekretär einer gut organisierten westlichen Traditionspartei dürfte angesichts dieser Empfehlungen nur müde mit den Schultern zucken, denn in der Tat verbirgt sich hierhinter nichts anderes als die alltägliche Kärrnerarbeit politischer Parteien. Doch in Lateinamerika ist die Erkenntnis, wonach starke und gut organisierte Parteien dauerhaft erfolgreich sind und mithin Wahlen gewinnen können, eine noch junge. Maria Lagos, die Chefin des Latinobarómetro, sagte dem Economist, der Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte habe auch in Lateinamerika Erwartungen geweckt. Das Vertrauen der Bürger in die Institutionen sei jedoch weiter gering. Die Unzufriedenheit mit den aktuellen Führungsangeboten der Parteien müssten diese mit der Lösung der drängendsten Probleme wie Kriminalität, Ungleichheit und Korruption begegnen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, weniger demokratischen Alternativen Platz machen zu müssen. Und dafür braucht es Leute, die sich dieser Aufgabe verschreiben, andere mitreißen und sich gemeinsam aufmachen, ihrem Land zu dienen.
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Dr. Kristin Wesemann ist Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Uruguay und des Regionalprogramms „Parteienförderung und Demokratie in Lateinamerika“.
David Brählerist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Uruguay.
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