Ausgabe: 1/2019
Was wird in Zukunft aus der transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft?
Diese sowohl für Europa als auch Amerika bedeutsame Frage ist nicht leicht zu beantworten und kristallisiert sich in gewisser Hinsicht an und in der Welthandelsorganisation (WTO). Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind mit einer paradoxen Situation konfrontiert: Auf politischer Ebene hat die aggressive Handelspolitik der Trump-Administration einige Verwerfungen in der transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft ausgelöst. Insbesondere die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Auf wirtschaftlicher Ebene sind Europa und Amerika hingegen durch einen Anstieg wechselseitiger Investitions- und Handelsströme stärker zusammengewachsen als je zuvor. Europa und Amerika unterhalten nach wie vor die weltweit bedeutendsten Wirtschaftsbeziehungen. Grundsätzlich bilden beide Wirtschaftsräume damit das Fundament einer fortschreitenden Integration der gesamten Weltwirtschaft.
Es ist offen, welche Folgen die politischen Spannungen auf die bilateralen Beziehungen haben werden. Unterschiedliche Szenarien sind denkbar. Bestenfalls können bestehende Streitigkeiten gelöst werden. Beide Partner fänden dadurch wieder zu einer engen Wirtschaftsallianz, begleitet von einer koordinierten, transatlantischen Handelspolitik. Im schlimmsten Fall könnten die politischen Auseinandersetzungen bestehende wirtschaftliche Differenzen extrem verschärfen. Hier drohen dann Handelssanktionen sowie transatlantische Wirtschaftsboykotte. Die geostrategischen Differenzen und entsprechend unnachgiebig geführten wirtschaftlichen Auseinandersetzungen könnten zu einer Wagenburg-Mentalität führen – „Wirtschaftsmacht USA“ gegen „Wirtschaftsmacht Europa“.
Die WTO als Kristallisationspunkt transatlantischer Spannungen
Die andauernden Konflikte um die Welthandelsorganisation deuten an, dass sich die transatlantische Wirtschaftspartnerschaft derzeit in keinem guten Zustand befindet. Mehr noch: Die WTO ist zu einem Kristallisationspunkt der unterschiedlichen Auffassungen auf beiden Seiten des Atlantiks geworden und soll daher in diesem Beitrag im Mittelpunk stehen. Die Institution und das offene Handelssystem, das ihr zugrunde liegt, erleben eine Phase der Instabilität. Diese wurde jüngst durch aggressive, einseitige Maßnahmen der amtierenden US-Regierung noch verstärkt. Als Reaktion darauf traf sich im Oktober 2018 ein Bündnis aus industrialisierten OECD-Volkswirtschaften sowie Schwellen- und Entwicklungsländern in Ottawa, um eine Reform der WTO zu besprechen, eine gewisse Stabilität wiederherzustellen und gemeinsam eine Führungsrolle mit Blick auf die Handelspolitik zu übernehmen.
Im Gegensatz zu alarmistischen Behauptungen ist es unwahrscheinlich, dass die WTO „zerbricht“, aber wenn sie sich nicht an die Veränderungen in der Struktur des Welthandels und der Investitionsströme anpassen kann, wird sie eine weniger bedeutsame Rolle spielen als heute. Die Ursachen dafür, dass die WTO zunehmend ihre Plattformfunktion verliert, reichen tief und ergeben sich aus Fragen der politischen Koordination in der WTO sowie den politischen Herausforderungen, denen sich die Regierungen der WTO-Länder gegenübersehen. Das Koordinationsproblem besteht in der Frage, wie man mit der ökonomischen Kräfteverschiebung hin nach Asien und neuen Wirtschaftsmächten umgeht. Die implizite Führung des US-OECD-Clubs, der maßgeblich zur Etablierung der bestehenden Handelsordnung beigetragen hat, ist mit Blick auf die neuen Gewichte der Weltwirtschaft kaum noch zeitgemäß. Die Herausforderung für Staaten im Innenverhältnis besteht darin, das WTO-Regelwerk, welches den Rahmen für die Globalisierung von Produktion und Investitionen setzt, mit den Sorgen, die im jeweiligen Land wegen des Kontrollverlustes über den nationalen Politik- oder Regulierungsrahmen bestehen, in Einklang zu bringen.
Die Aufrechterhaltung eines offenen, regelbasierten Handelssystems liegt im vitalen Interesse aller Länder. Um dies zu erreichen, bedarf es einer kollektiven Führung durch ein Bündnis von Industrie- und Schwellenländern innerhalb der WTO. Die USA nehmen derzeit keine Führungsrolle wahr, und China wünscht bislang keine multilaterale Einbindung, die seine Industrie- und Technologiepolitik beschränkt. Europa kommt damit eine wichtige Mittlerrolle zu. Einerseits muss es auf die USA einwirken, um einen wichtigen Eckstein transatlantischer Handelspolitik funktionsfähig zu halten. Andererseits muss Europa auf China Einfluss nehmen, damit das Trittbrettfahren innerhalb des WTO-Regimes aufhört. Kurzfristig ist es zweifellos notwendig, den Bedrohungen des Systems durch einen Kompromiss zu begegnen. Eine dauerhafte Lösung aber bedarf eines echten Konsenses auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene.
Wie schlimm ist es wirklich?
Nach Jahren spöttischer Witze darüber, dass die WTO weder tot noch lebendig sei, bietet sich derzeit ein tristes Bild. Die unmittelbare Krise wurde durch die Androhung und Verhängung von Zöllen seitens der USA ausgelöst, um Zugeständnisse von anderen WTO-Ländern zu erzwingen. Dabei folgt die US-Regierung offenkundig einem Muster und hat gegenüber ihren Nachbarn Kanada und Mexiko beim North American Free Trade Agreement (NAFTA)-Folgeabkommen United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA) eine ähnliche Strategie verfolgt. Auch hier ging es um die Infragestellung von Handelsvereinbarungen und das Fordern neuer vertraglicher Grundlagen. Es drängt sich die Frage auf, ob die freihandelskritischen US-Positionen (mit Blick auf WTO und NAFTA) wirklich neu sind. Dies kann verneint werden. Zwar sind Stil und Rhetorik des amtierenden US-Präsidenten in ihrer Zuspitzung einmalig, aber die Kritik am globalen Handelsregime wird im demokratischen (eher freihandelskritischen) Lager, siehe Bernie Sanders oder Hillary Clinton, ebenso geteilt wie mittlerweile bei vielen Republikanern, die ursprünglich stark für eine Liberalisierung des Welthandels argumentierten. Faktoren für den Sinneswandel der republikanischen Partei im Hinblick auf den Freihandel sind sicherlich die massive Deindustrialisierung der USA in den vergangenen zwanzig Jahren, das Gefühl einer dysfunktionalen WTO anzugehören sowie das geschickte Agieren Chinas (als vermeintliches Entwicklungsland) innerhalb des WTO-Regimes.
Gerade das Beispiel China zeigt, dass die WTO mit den neuen realpolitischen Entwicklungen kaum Schritt halten konnte. Dies wird daran deutlich, dass die bestehenden Handelsbestimmungen weitgehend aus dem Jahr 1995 stammen, wenn nicht sogar noch aus der Zeit, als die Uruguay-Verhandlungsrunde abgeschlossen und die WTO eingerichtet wurde. Das war, bevor die Globalisierung Ängste auslöste, bevor das Internet das Management auch verstreuter Produktionsstätten ermöglichte, bevor globale Wertschöpfungsketten enorme Wettbewerbsvorteile boten und bevor China als wichtiger Fixpunkt eines multipolaren Welthandelssystems auftauchte. Freilich werden die Schwierigkeiten der WTO seit geraumer Zeit von Experten erkannt und benannt. Aber bisher hat noch kein großes WTO-Land den Fortbestand der Organisation in Frage gestellt, wie es die jetzige US-Regierung tut.
Was treibt die Vereinigten Staaten an?
Die derzeitige Krise wurde dadurch ausgelöst, dass die USA aus „Gründen der nationalen Sicherheit“ Zölle auf die Einfuhr von Stahl und Aluminium aus einer Reihe von Ländern erhoben haben und widerkehrend die Verhängung von Zöllen auf Automobilimporte androhen. Die US-Regierung führte außerdem in großem Stil Importzölle auf chinesische Produkte ein, da Peking – so der Vorwurf – etwa Eigentumsrechte nicht schütze oder durch eine Subventionierung von Staatsunternehmen unlauteren Wettbewerb betreibe. Der Verweis auf die „nationale Sicherheit“ bei der US-Zollpolitik kann als ein kalkulierter Affront gegen die WTO betrachtet werden. Artikel XXI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) sieht tatsächlich eine Ausnahme vor, wenn die nationale Sicherheit bedroht ist. Bisher jedoch haben es alle WTO-Mitglieder – mit Ausnahme der USA im Falle des Helms-Burton-Gesetzes von 1996 – vermieden, sie als Begründung für das Einführen von Schutzzöllen anzuführen. Würde sich die WTO gegen eine solche Maßnahme aussprechen, könnte das dahingehend ausgelegt werden, dass Handelsbestimmungen die nationale Sicherheit gefährden. Würde ein WTO-Ausschuss bei den Stahl- und Aluminiumzöllen gegen die USA entscheiden, würde dies die amerikanische Unterstützung für den Multilateralismus weiter schwächen. Sollte die WTO feststellen, dass diese Zölle mit Artikel XXI des GATT vereinbar sind, würde dies die Grundsätze und Maßregeln, auf denen das regelbasierte System der WTO beruht, auf fatale Weise untergraben.
Das zweite Element der amerikanischen Herausforderung betrifft den Kern des Streitbeilegungsmechanismus der WTO selbst. Die USA haben die Funktionsweise der Streitbeilegung in Frage gestellt und insbesondere die Ernennung von Mitgliedern des Berufungsgremiums (Appellate Body, AB) blockiert. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags verbleiben nur noch drei Mitglieder des AB, was dem Minimum entspricht, das erforderlich ist, um eine Beschwerde gegen eine Entscheidung des Ausschusses zur Streitbeilegung zu bearbeiten. Zwei von ihnen verlassen das Gremium im Dezember 2019, womit das AB und damit die Streitbeilegungsfunktion der WTO nicht mehr funktionsfähig wäre.
Es bleibt unklar, was die mittel- bis längerfristigen Ziele der US-Regierung sind. Sollte damit eine Krise ausgelöst werden, um die WTO-Mitglieder zu zwingen, Lösungen für einige seit Langem bestehende Probleme zu finden, könnte man die Destabilisierung als zweckdienlich ansehen. Danach sieht es derzeit nicht aus. Vielmehr ist festzustellen, dass die aktuelle US-Regierung einen schleichenden Trend weg vom Multilateralismus hin zu unilateraler Politik drastisch beschleunigt. Der stark auf den eigenen Vorteil bedachte Ansatz der Trump’schen Strategie hat unweigerlich zu Gegenmaßnahmen in den betroffenen Ländern geführt. Infolgedessen scheinen die Dinge Anfang 2019 eine gefährliche Eigendynamik zu entwickeln. Das hat bei einer Gruppe von WTO-Ländern zu Bemühungen geführt, eine neue Form kollektiver Führung zu schaffen und zu versuchen, der handelspolitischen Zusammenarbeit neues Leben einzuhauchen und dabei auf einige der gegen die WTO vorgebrachten Kritikpunkte zu reagieren.
Wirksamkeit und Legitimität
Grundsätzlich ruht die Arbeit der WTO auf drei Säulen:
erstens der Aushandlung neuer Bestimmungen,
- zweitens der Beilegung von Streitigkeiten und
- drittens der fortlaufenden Organisationsarbeit, die den praktischen Warenaustausch verbessern soll.
- Seit einigen Jahren funktioniert die erste Säule der Regelsetzung nur noch bedingt. Die Entwicklungsagenda von Doha (Doha Development Agenda, DDA), eine 2001 eingeleitete Verhandlungsrunde multilateraler Handelsvereinbarungen, war die erste dieser Gesprächsreihen, die seit der Gründung des GATT im Jahr 1948 scheiterte. Dieses Scheitern wird vor allem in den OECD-Ländern als einer der Hauptgründe dafür angesehen, dass die WTO mit der Globalisierung nicht Schritt halten konnte.
Die zweite Säule der Streitbeilegung wurde zum Zeitpunkt der Gründung der WTO gestärkt und hat sich bei der Durchsetzung bestehender Regeln weitgehend bewährt. Das System der Streitbeilegung besteht aus einem Schlichtungsverfahren, Gremien zur Bearbeitung von Beschwerden sowie einem Berufungsgremium, das sicherstellt, dass die Entscheidungen des Gremiums mit den Vereinbarungen im Einklang stehen. Nach der Finanzkrise 2008 waren die WTO-Bestimmungen und deren effektive Durchsetzung in Form des Streitbeilegungsverfahrens wichtig für die Eindämmung protektionistischer Tendenzen. Nach 24 Jahren bedürfen einige Aspekte dieses Verfahrens allerdings einer Überarbeitung, die schon während der Doha-Runde diskutiert, jedoch nicht umgesetzt wurde. Ein Grund für die Wirksamkeit des WTO-Verfahrens zur Streitbeilegung ist, dass es einem Mitgliedsland nicht erlaubt ist, Entscheidungen des Gremiums zu umgehen. Sie können zwar angefochten werden, doch wenn das Berufungsgremium entschieden hat, ist grundsätzlich Recht gesprochen.
Die laufende Arbeit der Organisation bildet die dritte Säule der WTO. Sie erfolgt, indem die Anwendung der verschiedenen Abkommen überwacht wird. Eine solche Überwachung hängt weitgehend vom Entgegenkommen der Staaten und von nationaler Transparenz ab. Umsetzung und Einhaltung vieler WTO-Abkommen erfordern ständige Anstrengungen. So werden beispielsweise bei Vereinbarungen über Regulierungsmaßnahmen, wie etwa zur Produkt-, Lebensmittel- oder Verbrauchersicherheit, permanent neue nationale Vorschriften eingeführt. In solchen Fällen regeln die Handelsbestimmungen das Verfahren, mit dem die WTO-Länder die wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen solcher neuen Vorschriften minimieren können. Es gibt Berichtspflichten für allgemeine handelspolitische Entwicklungen im Rahmen des Trade Policy Review Mechanism (TPRM) sowie für spezifische Vereinbarungen und Themen. Dazu gehören regionale oder präferenzielle Handelsabkommen sowie nationale Subventionen. Die Wirksamkeit dieser dritten Säule, besonders der des Ausschusses für regionale Handelsabkommen, wurde jedoch durch die Nachlässigkeit einiger WTO-Staaten bei der Berichterstattung beeinträchtigt. Die dritte Säule sieht auch einen ständigen Dialog und damit die Möglichkeit vor, handelspolitische Probleme effizient zu lösen. Ohne eine aktive Beteiligung der Streitparteien kann es jedoch keine Fortschritte bei grenzüberschreitenden Handelsstreitigkeiten geben. In der Folge wird ein wichtiges multilaterales Forum zersetzt und ein Vakuum entsteht. Während die WTO von vielen Experten als eine Organisation betrachtet wird, die hinter den Anforderungen einer globalisierten Weltwirtschaft zurückgeblieben ist, sehen andere sie als eine der Hauptquellen einer entfesselten Globalisierung und aller damit verbundenen Probleme. Letztgenannte Ansicht vertreten einige zivilgesellschaftliche, nicht-staatliche Organisationen (NGOs), die die Regelungsarbeit in der WTO als dem politischen oder regulatorischen Rahmen zuwiderlaufend betrachten. Jene zivilgesellschaftlichen NGOs stellen auch die Legitimität der WTO in Frage, da Prozesse der Entscheidungsfindung und Verhandlungen als nicht demokratisch legitimiert oder transparent angesehen werden. Oft sehen Entwicklungsländer in den Bemühungen um eine Ausweitung der WTO-Bestimmungen auch eine Bedrohung ihres politischen Spielraums und damit ihrer Fähigkeit, im Industrialisierungsprozess aufzuholen. Ganz abgesehen davon, dass Handelsbestimmungen als von den Industriestaaten vorgeprägt angesehen werden. Bislang war dies auch der Fall, wenngleich die WTO mit ihrem System des „ein Mitglied – eine Stimme“ demokratischer ist als andere internationale Wirtschaftsinstitutionen. Angesichts zivilgesellschaftlicher Widerstände in einzelnen Ländern scheuten die Regierungen gegenüber neuen Verpflichtungen also zurück. Hierdurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Wirksamkeit und Legitimität.
Was sollte die Zielsetzung der WTO sein?
Eine Ursache latenter Handelsspannungen war das Fehlen eines Konsenses über den Anwendungsbereich der WTO-Regeln. Auch dies ist keine neue Debatte. Schon während der Verhandlungen zur Uruguay-Runde argumentierten einige Handelsökonomen, dass es falsch sei, die WTO mit „neuen Themen“ wie Dienstleistungen und geistigen Eigentumsrechten zu überfrachten, ganz zu schweigen von Arbeits- und Umweltnormen. Andere sprachen sich dafür aus, dass die Handelsbestimmungen die Art des Handels widerspiegeln müssten und dies eine stärkere Abdeckung von „handelsbezogenen“ Themen erfordere. Heute stellt sich die Frage, ob die Handelsbestimmungen nicht nur für Dienstleistungen, sondern auch für den elektronischen Handel gelten sollten, und wenn ja, wie das Verhältnis zwischen der Regulierungskompetenz auf nationaler oder EU-Ebene und einer weiteren Liberalisierung aussehen sollte. Sollten WTO-Vorgaben heute beispielsweise die Rolle von Staatsunternehmen regulieren, oder sollten die Entwicklungsländer diese und andere Instrumente der Industriepolitik nutzen können, um zu anderen Staaten aufzuschließen? Zu bedenken ist, dass die meisten europäischen Volkswirtschaften in der Zeit nach 1945 über einen bedeutenden öffentlichen Sektor mit großen Staatsunternehmen verfügten, der langsam zurückgebaut wurde. Da staatliche und private Investitionen für das Gedeihen globaler Wertschöpfungsketten von zentraler Bedeutung sind – sollte es dann keinen multilateralen Investitionsrahmen geben und, wenn doch, wie sollte er den Investitionsschutz und das Recht auf Regulierung in Einklang bringen? In vielen Ländern wie auch in der Europäischen Union gibt es keinen breiten innenpolitischen Konsens über diese Fragen. Ohne eine Debatte über die Rolle der Handels- und Investitionspolitik eines Landes wird es schwierig bleiben, auf internationaler Ebene Fortschritte zu erzielen.
Warum hat die WTO nicht Schritt gehalten?
Abgesehen vom Fehlen eines inneren Konsenses über Ziele und Geltungsbereich multilateraler Handelsbestimmungen war das wohl größte Hindernis für den Fortschritt in der WTO die Schwierigkeit, die Mitgliedsländer nach ihren Entwicklungsständen zu unterscheiden. Worüber sich die USA derzeit unter anderem beschweren ist die Möglichkeit, sich in der WTO selbst den Status eines Entwicklungslandes zu verleihen. Dies erlaube es Ländern wie China und Indien sowie anderen Schwellenländern, Verpflichtungen zu umgehen. Offenkundig sind jene Länder nicht mehr bereit, Regeln zu akzeptieren, die von den OECD-Ländern geprägt wurden. Als Wendepunkt in dieser Hinsicht kann das WTO-Ministertreffen von Cancún im Jahr 2003 betrachtet werden, auf dem sich eine G20-Koalition von Entwicklungs- und Schwellenländern bildete, die der gemeinsamen Führung von USA und EU entgegentrat. Die OECD und vor allem die USA sind nicht mehr bereit, sogenanntes Trittbrettfahren zu tolerieren, insbesondere von systemrelevanten Akteuren wie China, woraus sich – neben fundamentalen Interessenunterschieden – der Stillstand in multilateralen Handelsrunden ergibt.
Ein zweites Hindernis war das grundsätzlich konsensorientierte System der Entscheidungsfindung in der WTO, das auf dem Prinzip „ein Mitglied – eine Stimme“ basiert. Dies führt zwar zu einer integrativen, demokratischen Entscheidungsfindung, aber auch zu vielen Vetomächten. Und es hat zusammen mit dem Konzept der „gemeinsamen Handlungseinheit“ die Dinge sehr schwierig gemacht. Das gemeinschaftliche Vorgehen ist die Norm, wonach Verhandlungen wie etwa die Doha-Runde von allen WTO-Ländern vereinbart werden müssen. Das Prinzip wurde von den entwickelten Volkswirtschaften in der Uruguay-Runde eingeführt, um sicherzustellen, dass weniger entwickelte WTO-Mitglieder Abkommen über geistiges Eigentum und Dienstleistungen sowie Abkommen, die Entwicklungsländer begünstigten, unterzeichneten. Heute bietet sie nun großen Entwicklungsländern oder Koalitionen die Möglichkeit, Verhandlungen zu blockieren.
Ein weiterer Grund für das Scheitern der Doha-Runde ist die Tatsache, dass Präferenzabkommen (PTAs) eine vielversprechende Alternative boten. Es besteht eindeutig ein Zusammenhang zwischen der wachsenden Zahl von PTAs und der Stagnation des Multilateralismus, aber eine Kausalität ist schwieriger nachzuweisen. Bis Ende der 1990er Jahre waren die PTAs so etwas wie „Bausteine“ für ein umfassenderes internationales Abkommen. Aber etwa nach dem Jahr 2000 verstärkte sich eine Tendenz hin zu Strategien einer „wettbewerbsfähigen Liberalisierung“, die PTAs als Alternative sahen. Die PTAs haben es ermöglicht, die Handelsbestimmungen auf neue Bereiche auszudehnen, für die die WTO nicht zuständig ist, und damit die Handels- und Investitionsbestimmungen zu aktualisieren. Sie spiegeln die Vertiefung globaler Wertschöpfungsketten wider, da die von den OECD-Ländern abgeschlossenen Verträge Bestimmungen zu Investitionen, E-Commerce, mehr Dienstleistungen sowie häufig eine Kumulierung von Ursprungsregeln umfassen. Das Gute an den in den 2000er Jahren und bis zu einem gewissen Grad auch heute vereinbarten PTAs ist, dass eine Tendenz besteht, schon existierende internationale Normen umzusetzen. Dabei handelt es sich um in der OECD, konkret in der Weltzollorganisation, der Internationalen Arbeitsorganisation oder in multilateralen Umweltabkommen entwickelte Standards, z. B. für das öffentliche Beschaffungswesen. Viele der Bestimmungen gehen in verfahrenstechnischer Hinsicht über WTO-Standards hinaus. Mit anderen Worten, sie übernehmen die bestehenden WTO-Bestimmungen und bieten Verfahren zu deren wirksamerer Umsetzung.
Auf dem Weg zu mehr Flexibilität
Der Abschluss der Doha-Runde kam der Umsetzung im Jahr 2008 wohl am nächsten. In der Folgezeit wurden Anstrengungen unternommen, um verschiedene Teilschritte zur Unterstützung der Entwicklungsländer umzusetzen, doch auch diese erwiesen sich als nicht gangbar. Die Diskussion drehte sich anschließend um die Einführung flexiblerer Ansätze. Der Abschluss des 2017 in Kraft getretenen Trade Facilitation Agreement (TFA) zeigt, dass gewisse Fortschritte möglich sind. Dieses multilaterale Abkommen ist insofern bemerkenswert, als es das Differenzierungsproblem angeht, indem es die Einhaltung vereinbarter multilateraler Bestimmungen davon abhängig macht, inwieweit die Länder in der Lage sind, die zu einer Erleichterung des Handelsflusses erforderlichen Zollverfahren durchzuführen. Die entwickelten WTO-Länder verpflichten sich, wie bei anderen Abkommen technische und finanzielle Unterstützung zu leisten. Das TFA sieht aber auch eine objektivere Bewertung der Fähigkeit der Länder zur Umsetzung der Bestimmungen vor und könnte daher als Modell für den Umgang mit der Differenzierungsfrage angesehen werden. Schwach entwickelten Volkswirtschaften ohne die Fähigkeit zur Umsetzung wird mehr Zeit und Hilfe zugestanden; Schwellenländer oder Länder wie China, die über ausreichende Kapazitäten verfügen, sollten in der Lage sein, sich zur Einhaltung und Umsetzung der Bestimmungen zu verpflichten.
Ein weiterer alternativer Ansatz war die Rückkehr zum Plurilateralismus. Konkrete Vorschläge für plurilaterale Verhandlungen, in erster Linie von den Vereinigten Staaten, wurden unterbreitet, um die Sackgasse der multilateralen Verhandlungen zu überwinden. Das Argument lautet jetzt wie im GATT-System der 1960er bis 90er Jahre, dass gleichgesinnte Länder in bestimmten Themenbereichen sicher Fortschritte machen könnten. Sobald multilaterale Vereinbarungen bestehen, werden andere WTO-Mitglieder sich im Rahmen des Ansatzes eines „Clubs im Club“ anschließen. Weitere plurilaterale Initiativen sind die Verhandlungen über ein Trade in Services Agreement (TiSA), bei denen sogar die Frage einer exklusiven Mitgliedschaft aufgeworfen wurde. Auf der WTO-Ministertagung von Buenos Aires im November 2017 wurden weitere plurilaterale Maßnahmen eingeleitet oder neu gestartet – handelsbezogener elektronischer Transfer, nationalstaatliche Regulierung von Dienstleistungen, Umweltgüter und Investitionserleichterungen. Eine Schlüsselfrage bei plurilateralen Initiativen ist, ob sie im Zuge des Meistbegünstigungsprinzips (MFN) auf nicht teilnehmende WTO-Länder auszuweiten sind. Das Informationstechnologieabkommen von 1996 schloss die MFN ein und konnte dies auch, weil es eine kritische Masse an Teilnehmern erreichte. Sicherlich wird es heute schwieriger werden, exklusive plurilaterale Abkommen zwischen gleichgesinnten Ländern zu schließen, deren Bestimmungen dann nachträglich ausgeweitet werden sollen. Zumal dies kaum zu einer nachhaltigen regelbasierten Ordnung beitragen wird. Es ist ohnehin zweifelhaft, ob sich Schwellenländer auf Vereinbarungen einlassen werden, die von einer Gruppe von Industrieländern ohne sie ausgehandelt wurden. Ein solcher Buy-in ist nur in zwei Fällen wahrscheinlich: wenn das plurilaterale Handelsvolumen so groß ist, dass es positive Externalitäten für die Nicht-Teilnehmer schafft; oder wenn ein breiter Konsens über die Bestimmungen besteht. Im ersten Fall wird es ohne China und Indien schwierig sein, die für die Erzeugung positiver externer Effekte erforderliche kritische Masse zu erreichen. Im letzten Fall wird sich ein Normenkonsens als schwer fassbar erweisen, wenn die Entwicklung der Normen mit Fragen des Marktzugangs verbunden ist. Mit anderen Worten, die Frage ist, ob plurilaterale Abkommen dem Ziel einer Stärkung des internationalen Handelssystems oder den Marktzugangsinteressen bestimmter WTO-Länder dienen. Bisher scheint die Debatte über plurilaterale Ansätze von letzterem Punkt dominiert worden zu sein.
Führung neu denken
Das Fehlen einer Führungsrolle nach innen und außen wurde als weiterer Grund für die derzeitige WTO-Lähmung benannt. Bei der Gründung der WTO gab es eine gemeinsame Führung durch USA und EU, unterstützt von einer Reihe anderer OECD-Staaten. Grundsätzlich hatten und haben die beiden transatlantischen Akteure gemeinsame Interessen im Bereich Handelspolitik. Erstens ist es im Interesse von Wirtschaft und Politik, in den USA wie in Europa auf ein regelbasiertes Handelssystem zurückgreifen zu können, welches Vereinbarungen zu Antidumping-Maßnahmen, Investitions- und Wettbewerbsrecht, zum öffentlichen Beschaffungswesen oder zur Entbürokratisierung von Zollverfahren enthält. Zweitens haben beide Wirtschaftsmächte ein Interesse daran, sukzessive einen freien Zugang zum chinesischen Markt zu erwirken und Regelverstöße Pekings innerhalb des WTO-Regimes konsequent zu ahnden (um Nachahmer zu verhindern und China einzuhegen). Bislang ist man bei den Themen „Diebstahl von geistigem Eigentum“, Industriesubventionen und den Regeln zum Technologietransfer, die die Regierung in Peking seinen Handelspartnern aufzwingt, seitens der Europäer zu nachsichtig gewesen. Drittens sollte es im Interesse von Amerikanern und Europäern sein, dass westliche Bündnis nicht auseinanderdividieren zu lassen, da es um mehr als wirtschaftspolitische Fragestellungen geht. Mit ihren jüngsten Aktionen haben die USA einer gemeinsamen Führung allerdings einen Bärendienst erwiesen. Interessenkonflikte zwischen Europa und den Vereinigten Staaten über handelspolitische Fragen sind daher 555,84 mm an der Tagesordnung und es ist wenig überraschend, dass die US-Abkehr von einer multilateralen Handelspolitik zu neuen Allianzen Europas führen muss. Zu bedenken ist außerdem, dass die EU kein monolithischer Block ist. Sie muss, anders als die USA, nicht nur mit dem jeweiligen Handelspartner einen Kompromiss finden, sondern auch einen Ausgleich zwischen den Interessen der EU-Mitglieder schaffen, unter denen sich auch einzelne Staaten befinden, die stark vom Export profitieren. Intraregionaler Handel spielt innerhalb der EU eine sehr wichtige Rolle. Augenfällig ist außerdem, dass Europa seine handelspolitischen Maßnahmen regelmäßig mit gesellschaftspolitisch wichtigen Zielen wie dem Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz verbindet, die USA von solchen Verbindungen aber wenig halten.
Unabhängig vom Tandem USA-EU fordern die großen Schwellenländer entsprechend ihrer gestärkten Handels- und Wirtschaftskraft ein höheres Maß an Einflussnahme auf das regelbasierte System sowie mehr Mitsprachemöglichkeiten bei demselben. Es ist klar, dass es eines kooperativen Engagements dieser beiden Gruppen bedarf, um Fortschritte zu erzielen. Eine Lösung wäre eine breitere Aufteilung der Führungsverantwortung innerhalb der WTO mit einer größeren Rolle für die Schwellenländer. Dies kann möglicherweise durch die Schaffung eines informellen oder sogar formalen Führungsorgans erreicht werden, das sich aus der G20-Handelsgruppe und je einem Vertreter aus jedem der Verhandlungsbündnisse, wie beispielsweise der Afrikagruppe, zusammensetzt. Dieses Gremium könnte eine Schnittstelle zwischen den Mitgliedern und dem Erweiterten Rat bilden und wäre für die Förderung systemischer Ziele und die Konsensbildung in Verhandlungsfragen verantwortlich. Die Bereitstellung größerer Mittel für das WTO-Sekretariat, um zu einer aktiveren Rolle beitragen zu können – sei es durch eine Förderung des Dialogs und der Konsensfindung oder des proaktiven Unterbreitens von Vorschlägen – wäre auch ein Beitrag dazu, der Arbeit der WTO eine strategischere Ausrichtung zu geben und die Abhängigkeit von einer Führung durch die Mitglieder zu verringern. Dies geschieht zum Teil bereits hinter den Kulissen und wäre besonders wichtig in einer Situation, in der ein Bündnis von WTO-Ländern versucht, eine Führungsrolle zu übernehmen. Der Nachteil bei der Etablierung einer Form der gemeinsamen Führung besteht darin, dass sie per Definition nicht alle einbeziehen kann.
Schlussbemerkungen
Die USA sind ein zentraler Partner für Politik und Wirtschaft in Deutschland – trotz der politischen Spannungen der letzten Monate. Berlin und Washington müssen im Gespräch miteinander bleiben. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis untereinander, sondern auch für eine Zusammenarbeit innerhalb der Welthandelsorganisation und für den Umgang mit China. Kurzfristig ist es zweifellos notwendig, dass besonnene Köpfe versuchen, die derzeitigen Spannungen zwischen den USA und China abzubauen und die Blockade bei der Auswahl der Mitglieder des Berufungsgremiums aufzuheben. Eben dies war das Ziel der Gruppe von WTO-Ländern, die sich im Oktober 2018 in Ottawa trafen. Das Mittel dafür ist die Fortsetzung eines inklusiven Dialogs über Reformen.Abschließend sollte man in der Debatte über die WTO nicht aus den Augen verlieren, dass die größten Hemmnisse für handelspolitische Fortschritte auf nationalstaatlicher Ebene liegen. Die WTO ist und bleibt eine mitgliedergetriebene Institution. Und die USA und Europa haben in der Hand, wohin sie treibt.
David Gregosz ist Koordinator für Internationale Wirtschaftspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dr. Stephen Woolcock ist Leiter der International Trade Policy Unit an der London School of Economics und lehrt dort Internationale Politische Ökonomie.
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