Ausgabe: 1/2021
Das Frühjahr 2021 markiert in etwa ein Jahr Coronapandemie in Europa. Die Pandemie mit allen ihren Konsequenzen als Tiefenkrise hat die vergangenen zwölf Monate in der Europäischen Union geprägt wie kein anderes Thema. Dabei hätten in dieser Zeit ganz andere Themen der EU ihren Stempel aufdrücken sollen: allen voran die Klimapolitik und Fragen der Nachhaltigkeit. Zugleich beobachten wir sorgenvoll eine Spaltung innerhalb der EU, von der unklar ist, wie sich die Krise hierauf auswirken wird, und spüren – verstärkt durch die Krise – immer deutlicher, wie sehr sich die Weltordnung gewandelt hat. Es überlagern sich eine Reihe von Themen, die im Folgenden durch eine außenpolitische Perspektive miteinander in Verbindung gesetzt werden. Es lohnt sich, den Blick darauf zu lenken, wie sich die Weltordnung verändert hat und mit welchen Herausforderungen die EU konfrontiert ist. Dabei offenbart sich für die Europäische Union die Notwendigkeit, künftig stärker in die Rolle eines globalen Akteurs zu wachsen. Gleichzeitig lassen sich auf diese Frage auch Antworten finden, die der Gestaltung der Identität der EU im Inneren den Weg weisen, um ihre Zerrissenheit zu überwinden.
Die Europäische Union in einer sich wandelnden Weltordnung
Werfen wir den Blick 30 Jahre zurück, sehen wir Europa inmitten einer völlig anderen Weltordnung. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag und der Zerfall der Sowjetunion hatten zu jener Zeit das Ende einer jahrzehntelangen weltpolitischen Phase der Bipolarität besiegelt. Eine bipolare Phase – trotz aller Konfrontation und Gräben – mit relativ hoher Stabilität. Auch im Anschluss, zu Beginn der 1990er Jahre, waren die Kräfteverhältnisse auf der Welt trotz der frischen Umbrüche eindeutig. Die Vereinigten Staaten waren die einzig verbliebene Großmacht, die Weltordnung war unipolar – und für wenige Jahre lebten wir weiter in weltpolitisch klaren und stabilen Verhältnissen. Seitdem ist die Weltordnung jedoch nach und nach unübersichtlicher geworden. Einzelne Ereignisse und Krisen, schrittweise verlaufende Prozesse und unvermeidliche Entwicklungen, wie beispielsweise demografische Aspekte, haben dazu beigetragen, dass die Weltordnung sich in ein multipolares System verwandelt hat.
Heute befindet sich Europa und damit die Europäische Union in einer unübersichtlichen, vielfach ungeordneten Welt mit diversen Machtzentren. Die Lage ist zudem geprägt von rapide verlaufenden Umbrüchen und von Krisen. In dieser Lage war die zurückliegende US-Präsidentschaft von Donald Trump für viele in Europa ein unangenehmer Weckruf. Trump, mit seinem erratischen Politikstil und dem Ansatz America first, verdeutlichte Europa zum einen, wie groß vor allem unsere sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA ist, und zum anderen, dass wir die Unterstützung durch die USA nicht wie in der Vergangenheit als Selbstverständlichkeit betrachten können. Gleichzeitig ist auch der endgültige Aufstieg Chinas zur Großmacht für uns Europäer eine neue Realität, mit der wir offensichtlich noch umzugehen lernen müssen.
In dieser außenpolitischen Großwetterlage ist die EU zusätzlich mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft konfrontiert. In aller Kürze seien hier als Schlagworte die Instabilität in der MENA-Region, der schwierige Partner Türkei, die Perspektive für die Westbalkan-Staaten, die multiplen Herausforderungen in den Staaten der östlichen Partnerschaft sowie das belastete Verhältnis zu Russland genannt.
Die Lage der Europäischen Union im globalen Kontext, aber auch bezogen auf die unmittelbare Nachbarschaft, hat in den EU-Institutionen und dem politischen Umfeld in Brüssel in den zurückliegenden Jahren zu einer verstärkten Diskussion über die Rolle der EU in der Welt geführt. Unter verschiedenen Schlagworten wurden und werden Konzepte diskutiert, die die EU dazu befähigen sollen, ihren Platz im globalen Kontext adäquat auszufüllen. Denkt die Union nicht nur beim Klimawandel in großen Linien, möchte sie allen beschriebenen und kommenden Herausforderungen gerecht werden und bei den mannigfaltigen Entwicklungen der Gegenwart und Zukunft nicht ins Hintertreffen geraten, bleibt ihr keine andere Wahl, als in eine Rolle hineinzuwachsen, in der sie mit den USA und China auf Augenhöhe ist. Dabei wird die Rolle sicher durch das transatlantische Verhältnis definiert und kann nicht als eine Positionierung in Äquidistanz verstanden werden. Aber sollte die EU nicht willens oder in der Lage sein, eine solche Rolle künftig zu spielen, wird sie zwangsläufig an Einfluss, Gestaltungsmacht, Sicherheit und Wohlstand verlieren: eine Perspektive, die für die EU keine Option sein kann. Gleichzeitig ist im globalen und langfristig gedachten Kontext klar, dass auch eine Rückkehr zu rein nationalstaatlichen Sichtweisen wenig erfolgversprechend für die europäischen Staaten ist. Kein europäischer Staat allein wird sich im Wettbewerb mit China und den USA behaupten können, nur die Europäische Union als Ganzes hat das Potenzial hierfür. Es ist somit unumgänglich, dass die EU dieses Potenzial ausschöpft und sich in einem bewussten Prozess in eine politische Union transformiert, die als globaler Wettbewerber bestehen kann. Die Notwendigkeit hierzu speist sich vordergründig aus exogenen Faktoren, bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber auch endogene Elemente, die diesen Prozess erforderlich machen.
Die EU als globaler Akteur – Eine Notwendigkeit gespeist aus exogenen Faktoren
Orientieren wir uns zunächst an den exogenen Faktoren und widmen uns der angesprochenen, bereits seit einigen Jahren geführten Debatte, zeigt sich eine Vielzahl von Ideen, Debattensträngen und Begrifflichkeiten, die wir aufgreifen können. Die meisten Beiträge finden sich unter den Überschriften „europäische Souveränität“ und „strategische Autonomie“. Die Europäische Kommission ihrerseits nutzt in ihrer strategischen Vorausschau intensiv den Begriff Resilienz – ein Terminus, den Beobachter dahingehend interpretieren, dass er hinter dem Anspruch, selbst handlungsfähig zu werden, zurückbleibt. Insgesamt ist in dem Diskurs somit vieles nicht neu. Nach wie vor herrscht Uneinigkeit speziell hinsichtlich der Begrifflichkeiten und des jeweiligen konkreten Verständnisses. Auch das Europabüro der Konrad-Adenauer-Stiftung hat sich im vergangenen Jahr in Zusammenarbeit mit dem European Policy Centre (EPC) mit einem Studienprojekt dem Thema „strategische Autonomie“ gewidmet. Ziel war es hierbei zum einen, den Rahmen der Debatte zu weiten, da diese bis dato vielfach einer Verengung auf ein militärisches Verständnis unterlag. Zum anderen war die Studie darauf angelegt, einen Beitrag zum einheitlichen, breiten Verständnis von „strategischer Autonomie“ zu liefern sowie in ausgewählten Politikbereichen konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Gleichzeitig wurde im Rahmen der Studie deutlich, dass sowohl „Souveränität“ als auch „Autonomie“ von den EU-Institutionen bereits vielfach als Legitimationsquelle für politisches Handeln genutzt werden. Diejenigen, die sich teilweise mit Genuss am Begriffsstreit beteiligen, übersehen diese politische Realität.
In einigen Feldern und in institutioneller Hinsicht hat die Europäische Union ohnehin bereits im vergangenen Jahrzehnt signifikante Fortschritte dabei gemacht, ein relevanterer globaler Akteur zu werden, die an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden sollten. Bereits mit dem Lissabon-Vertrag hat die EU die Grundlage geschaffen, den sich ändernden globalen Rahmenbedingungen gerecht zu werden. Die Schaffung des Amtes eines Präsidenten des Europäischen Rates, die Einsetzung eines Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik zusammen mit der Schaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und die Reform der Mehrheitsanforderungen bei Ratsentscheidungen sind drei wichtige Beispiele. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU, deren Wurzeln bereits weiter zurückreichen, gewannen hierdurch nochmals stärkeres Gewicht.
Nichtsdestotrotz nahm der Diskurs darüber, wie stark das Gewicht dieser Politikfelder für die EU sein sollte, in der Folge noch zu. Wie bereits angeklungen, war die Debatte zunächst auf die Bereiche Sicherheit und Verteidigung fokussiert. Die Feststellung, dass 27 voneinander getrennte Armeen riesige Potenziale bieten, um Synergien zu schaffen, lag und liegt auf der Hand. Gleichwohl berührt die nationale Verteidigung das Verständnis von Nationalstaaten im ureigenen Sinne. Betrachten wir die kollektive Sicherheit Europas, so ist die NATO, der weite Teile der EU-Staaten angehören, als Verteidigungsbündnis unabhängig von EU-Bestrebungen der Schutzrahmen. Es war dennoch richtig, dass die EU beispielsweise mit der European Defence Agency (EDA) in Rüstungsfragen eine Agentur geschaffen hat, die sich um Planung, Beschaffung und Forschung kümmert. Eine Weiterentwicklung der GSVP stellte ebenfalls die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) dar. Zwar entzündet sich durchaus berechtigte Kritik an PESCO-Projekten im Einzelnen, der grundsätzlich hierdurch eingeschlagene Weg ist jedoch richtig und muss fortgeführt werden. An der Frage, wie dieser Weg aussehen könnte und sollte, scheiden sich im sicherheits- und verteidigungspolitischen Diskurs jedoch, wie jüngst zu beobachten, die Geister. Es gibt insbesondere verschiedene Auffassungen darüber, wie weit eine mögliche stärkere sicherheitspolitische Unabhängigkeit von den USA gehen sollte. Die Wahl des neuen US-Präsidenten Joe Biden verlieh dieser Frage unlängst neues Gewicht.
Rund um die US-Wahl offenbarten sich unterschiedliche Sichtweisen in Deutschland und Frankreich. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer machte in einem im Brüsseler Leitmedium Politico veröffentlichten Beitrag ihre Sicht deutlich: Europa müsse anerkennen, dass es in der nahen Zukunft von den Vereinigten Staaten abhängig bleiben werde. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron brachte als unmittelbare Reaktion in einem Interview sein Unverständnis darüber zum Ausdruck und erklärte, er halte die Aussagen Kramp-Karrenbauers für eine „historische Fehlinterpretation“. Die Verteidigungsministerin wiederum ließ sich nicht beirren und erwiderte nur wenige Tage später in ihrer Grundsatzrede vor Studierenden der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg: „Die Idee einer strategischen Autonomie Europas geht zu weit, wenn sie die Illusion nährt, wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten. Wenn es aber darum geht, auch eigenständig als Europäer handeln zu können, wo es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, dann ist das unser gemeinsames Ziel und entspricht unserem gemeinsamen Verständnis von Souveränität und Handlungsfähigkeit.“ In der Tat hat sie recht, wenn sie vorrechnet, dass die US-Armee hinsichtlich ihrer Ausrüstung und Kapazitäten circa 75 Prozent aller NATO-Fähigkeiten stellt. Ihre Feststellung, dass Europa die Vereinigten Staaten weiterhin für die eigene Sicherheit brauche und sich dieser Umstand nicht allzu schnell ändern werde, ist also kaum von der Hand zu weisen. Fraglich bleibt, ob man dies mittel- und langfristig ändern könnte und sollte.
Der Schlüssel, um dieser Fragestellung zu begegnen, liegt in zwei Aspekten. Erstens werden die europäischen Staaten, besonders die NATO-Mitglieder und speziell Deutschland, nicht umhinkommen, ihren Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit zu steigern. Hierbei geht es um spürbare Erhöhungen der Verteidigungsausgaben, welche zum Ausbau von substanziellen Fähigkeiten verwendet werden müssen, um die Lastenteilung innerhalb der NATO in eine bessere Balance zu bringen. Das Beispiel Airbus zeigt, dass europäische Lösungen konkurrenzfähig funktionieren können. Gleichwohl haben auch die US-Amerikaner ein Interesse daran, ihre sicherheitspolitische Vormachtstellung in Europa zu behalten. Somit brächten verstärkte Verteidigungsinvestitionen die EU einerseits per se dem Ziel näher, selbst an Bedeutung zu gewinnen, sie würden zudem das transatlantische Bündnis stärken. Die EU könnte innerhalb des Bündnisses ihr Gewicht stärker einbringen und es so in eine bessere Balance bringen. Andererseits sollte das Ziel von höheren Investitionen in letzter Konsequenz gar nicht die Loslösung von den USA sein, da dies weder im US-amerikanischen noch im europäischen Interesse läge.
Zweitens greift die Frage, ob die EU in militärischer Hinsicht auf die Vereinigten Staaten angewiesen bleibt, zu kurz, wenn wir über die Rolle Europas in der Welt diskutieren. In dieser Frage sollte ein viel breiteres Konzept entwickelt werden, das sich von einem rein militärischen Verständnis löst.
Weiten wir unser Verständnis, wie die Europäische Union ein gewichtigerer globaler Akteur werden kann, tun sich viele Politikfelder mit einer Reihe von Handlungsoptionen auf. In wirtschaftspolitischer Hinsicht ist die EU – den Kennzahlen nach – bereits jetzt ein globales Schwergewicht. In seiner Handelspolitik ist Brüssel bislang stets als geschlossener Akteur nach außen aufgetreten. Die Handelsabkommen, beispielsweise mit Kanada (CETA), Japan (JEFTA) und Südamerika (MERCOSUR), zeugen vom Standing der EU und sichern ihren Wohlstand. Die Verhandlungen mit den USA zum TTIP-Abkommen liegen zwar derzeit auf Eis. Die zwischenzeitlichen Versuche Donald Trumps, die Verhandlungen durch bilaterale „Deals“ mit einzelnen EU-Staaten zu untergraben, liefen jedoch ins Leere. In Handelsfragen hat sich die EU bislang nicht spalten lassen. Auch Boris Johnson musste feststellen, dass er es hinsichtlich der neu zu regelnden Handelsbeziehungen des Vereinigten Königreichs zur EU immer mit einer Union zu tun hatte, die mit einer Stimme sprach. Der Ansatz, als geschlossener Block zu agieren, ist besonders in Handelsfragen ein Schlüssel. Mit dem Gewicht des gesamten Wirtschaftsraums der EU lassen sich ebenso gewichtige Ergebnisse erzielen. Die Europäische Union hat in dieser Hinsicht bereits den richtigen Weg eingeschlagen und sollte diesen konsequent fortsetzen, um gerade in Handelsfragen die internationale regelbasierte Ordnung einzufordern und zu fördern. Von Handelskonflikten, wie die Welt sie in den vergangenen Jahren erlebt hat, wird die EU nicht profitieren können, nur ein System fester Regeln ist für sie erfolgversprechend. Gleichzeitig verbietet sich Blauäugigkeit. Das jüngst geschlossene Investitionsabkommen zwischen der EU und China ist ein gutes Beispiel. Auf den ersten Blick war es insbesondere aus Sicht der deutschen Ratspräsidentschaft ein Erfolg. Doch die Kritik ist unüberhörbar und sicher nicht unberechtigt. Kritik von Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen war in diesem Zusammenhang sicherlich erwartbar. Dass aber auch Wirtschaftsverbände wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) mit Kritik nicht sparten, überraschte. Die Kommission fühlte sich angesichts der Kritik bemüßigt klarzustellen, dass das Abkommen weit weniger ist als ein Freihandelsabkommen. Es ziele vielmehr darauf ab, Marktzugänge zu regeln und faire Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen. Aus Sicht von DIHK und BDI fehlt insbesondere ein wirksamer Investorenschutz. Das Beispiel zeigt, dass die EU in Handelsfragen zwar grundsätzlich ein starker Akteur ist, die Union aber besonders mit schwierigen Partnern nur in kleinen Schritten vorankommen kann. Die Tatsache, dass China zum ersten Mal in einem Abkommen bereit war, ein Kapitel zum Thema Nachhaltigkeit zu akzeptieren, weist außerdem in die richtige Richtung. Abkommen in Handelsfragen kommen in der Regel nur durch lange Verhandlungsprozesse zustande. Um ihren Status als Handelsmacht zu bewahren, muss die EU ihren Weg mit Geschlossenheit und Ausdauer weitergehen und sich in Verhandlungen mit schwierigen Partnern auch mit kleinen Fortschritten zufriedengeben.
Wirtschaftspolitisch sollte ein weiteres Feld ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden, wenn es darum geht, die Position der EU im globalen Wettbewerb zu stärken: das europäische Wettbewerbsrecht, welches sich global betrachtet sehr nachteilig auswirken kann. Aktuell ist dieses am Horizont des EU-Binnenmarktes ausgerichtet. Leider führt dies im weltweiten Wettbewerb teilweise zu fatalen Nachteilen, wie das bekannteste Beispiel der geplatzten Siemens-Alstom-Fusion eindrücklich belegt. Margrethe Vestager, in ihrer Funktion als Wettbewerbskommissarin der Kommission Juncker, verhinderte im Jahr 2019 die Fusion des deutschen Zugbauers Siemens mit dem französischen Unternehmen Alstom. Der Grund hierfür lag im europäischen Wettbewerbsrecht. Betrachtet man nur den EU-Binnenmarkt, hätte die Fusion zu einer zu großen Marktmacht geführt. Vestager ist also nur bedingt ein Vorwurf zu machen, sie hat korrekt gehandelt. Hält man sich allerdings vor Augen, dass beide Unternehmen zusammengenommen nur etwa halb so groß sind wie die China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC), der weltweit größte Konkurrent, wird klar, dass das europäische Wettbewerbsrecht fälschlicherweise nicht den globalen Wettbewerb berücksichtigt. In dieser Hinsicht muss Brüssel unbedingt nachbessern, um künftig den Bedingungen des Weltmarktes gewachsen zu sein.
Aus zwei weiteren Beispielen aus der jüngsten Vergangenheit lassen sich Politikfelder ableiten, die berücksichtigt werden müssen, um als EU zu einem globalen Akteur zu werden. Das erste Beispiel steht in direktem Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie und verdeutlicht Licht und Schatten der Brüsseler Krisenpolitik. Als die Krise Europa im Frühjahr 2020 mit Wucht traf, offenbarte sich schnell, in welch großer Abhängigkeit sich die EU selbst bei vergleichsweise einfach zu produzierenden Gütern wie medizinischen Masken befindet. Der weltweite Bedarf explodierte, die Vorräte reichten bei weitem nicht aus und die heimische Produktion konnte nicht zeitnah hochgefahren werden. Gleichzeitig bemühten sich die Mitgliedstaaten händeringend um Abhilfe und kauften für sich die Masken, die zu bekommen waren. Ein Umstand, aus dem die EU dringend ihre Lehren ziehen muss. Um in Krisenzeiten resilient und handlungsfähig zu bleiben, müssen die Institutionen bessere Krisenpläne bereithalten und sich, insbesondere was medizinische Güter betrifft, auf Worst-Case-Szenarien vorbereiten. Dazu zählen langfristig ganz sicher auch die nötigen Produktions- und Vorratskapazitäten für essenzielle Güter sowie gleichfalls der Schutz sensibler Infrastrukturen.
Das zweite Beispiel betrifft ebenfalls die Coronakrise. Es kann als ein unmittelbarer Lerneffekt aus der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr 2020 gelten, dass die EU im anschließenden Sommer bei den Verhandlungen rund um die Bestellungen der Impfstoffe gegen das Virus als geschlossener Akteur agiert hat. Die Impfstoffbeschaffung und -verteilung hat viel Kritik hervorgerufen, höchstwahrscheinlich gespeist aus Frust und Ungeduld infolge des sehr langsamen Beginns der Impfkampagnen in der EU. Dennoch kann der europäische Weg, der hier bei Verhandlungen, Beschaffung und Verteilung gegangen wurde, als ein Beispiel dienen, wenn es um die Frage geht, welche Rolle die EU künftig in der Welt spielen sollte. Die Union hat es geschafft, bei dieser strategisch wichtigen Herausforderung von Beginn an als geschlossener Akteur mit den Pharmariesen zu verhandeln. Es unterstreicht das Selbstverständnis der EU und hat das Potenzial, sowohl Ansehen als auch Vertrauen in die europäischen Institutionen nach innen und nach außen nachhaltig zu stärken.
Die Europäische Union hat es im zurückliegenden Jahr 2020 ebenfalls geschafft, sich auf einen neuen EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre zu einigen, zu dem ein milliardenschwerer Wiederaufbaufonds hinzukommt – ein finanzielles Gesamtpaket in bislang ungekannter Höhe. Der Weg zu diesem Finanzpaket war ein Prozess mit vielen Schwierigkeiten und harten Verhandlungen. Ein kleiner Aspekt kann dabei hervorgehoben werden, der die Zukunftsfähigkeit der EU voraussichtlich mehr bestimmt als in den Verhandlungsrunden berücksichtigt. In der öffentlichen Wahrnehmung hat das Europäische Parlament insbesondere beim Thema Rechtsstaatlichkeit Druck gemacht. Das ist korrekt, allerdings nur eine Seite der Medaille. Es hat ebenso klargemacht, dass es in dem Gesamtpaket die Ausgaben zur Forschungs- und Innovationsförderung als zu gering erachtet. Sicherlich handelt es sich – gemessen am Volumen – um einen vergleichsweise kleinen Posten. Dennoch hat das Parlament an dieser Stelle das richtige Gespür gezeigt. Genau diese Ausgaben sind für die Zukunft entscheidend, und auch in diesem Aspekt steht die EU mit den USA und China in besonderer Weise im Wettbewerb. Zugleich zeigen gerade die erfolgreichen, europäisch geprägten Impfstoffentwicklungen das enorme Potenzial solcher Investitionen. Es wurde richtigerweise die Frage gestellt, ob sich die EU nicht in diesem Bereich mit höheren Haushaltsmitteln unabhängiger von der Forschung anderer machen möchte.
Ein letzter Komplex, in dem die Europäische Union sich fortentwickeln muss, betrifft die außenpolitischen Entscheidungsprozesse der EU-Institutionen ganz unmittelbar. Vielfach wird eine neuerliche Reform der Entscheidungsregularien im Rat gefordert. Aktuell gilt für Entscheidungen zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik das Einstimmigkeitsprinzip. Dies führt dazu, dass einzelne Mitgliedstaaten Entscheidungen blockieren können. Zuletzt wurden häufig Blockadehaltungen mit anderen Themen verquickt. Zwar konnten viele Beschlüsse dennoch gefasst werden, aber der Weg dorthin war oft quälend lang und wirkt besonders angesichts der Schnelllebigkeit unserer Zeit mitunter völlig anachronistisch. In der Tat gehört das Einstimmigkeitsprinzip auf den Prüfstand. Leider scheint es aktuell aber ein aussichtsloses Unterfangen, eine Reform dieses Prinzips anzustreben. Auch wenn es, besonders auf lange Sicht, absolut erstrebenswert wäre, das Einstimmigkeitsprinzip zu reformieren, ist es aus EU-Sicht aktuell zielführender, den bereits vorhandenen Werkzeugkasten außenpolitischer Möglichkeiten so gut es geht auszuschöpfen. Die Möglichkeiten reichen von der diplomatischen Arbeit des Hohen Vertreters bis zur Förderung des regelbasierten multilateralen Systems mithilfe der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, von Entwicklungshilfe bis hin zu gezielten Sanktionsregimen.
Mit dem eingangs eingeführten breiten Verständnis für eine insgesamt gewichtigere Rolle der EU in der Welt lassen sich viele Politikfelder identifizieren, in denen Potenziale in dieser Hinsicht liegen. Die hier aufgezählten Bereiche haben nicht den Anspruch, als vollumfänglich zu gelten und können nur einen Ausschnitt darstellen. Allein die Stichworte Green Deal, Digitalisierung und demografischer Wandel zeigen, welche großen Zukunftsthemen außerdem in den Blick genommen werden müssen. Es ist zudem davon auszugehen, dass künftig weitere Politikbereiche und Problemstellungen hinzukommen werden, die aktuell noch nicht vorauszusehen sind. Wichtiger ist aber ohnehin, dass die EU, egal um welchen Politikbereich es sich handelt, das Selbstverständnis entwickelt, ein globaler Akteur zu sein. Selbstredend ist dabei, dass es sich um einen Prozess handelt, der sich stärker an den verfolgten Inhalten denn an Überschriften orientiert, stetem Wandel unterliegt und wohl niemals einen festen, abgeschlossenen Aggregatzustand erreichen wird.
Auch endogene Faktoren sprechen für die EU als globaler Akteur
Die vorangegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Europäische Union sich aufgrund einer Reihe exogener Faktoren einer stärkeren Rolle als globaler Akteur kaum entziehen kann. Je mehr man sich mit der Frage auseinandersetzt, wie diese Rolle konkret aussehen kann und welche konkreten Schritte nötig sind, um diesem Anspruch gerecht zu werden, desto klarer zeigt sich, dass in der Beantwortung dieser Frage auch Antworten liegen, die über die Rolle der EU nach außen hinausweisen. Vielmehr berühren sie im Kern die Frage nach der Identität der EU. Die Frage, was die EU sein kann beziehungsweise sein will, schwingt nämlich ebenso bei den Kontroversen innerhalb der Union mit.
Die vergangenen Jahre haben in der EU immer wieder Spaltungen zutage treten lassen, die nicht durch die gewohnten Brüsseler Kompromisse aufgelöst oder befriedet werden konnten. Ein Beispiel hierfür ist die Frage des Umgangs mit Flüchtlingsströmen insbesondere über das Mittelmeer. Das Dublin-System hatte über Jahre die am Mittelmeer gelegenen EU-Staaten benachteiligt, aber erst durch die drastische Zunahme der Flüchtlingszahlen in den Jahren 2015 und 2016 wurde der EU als Ganzes klar, dass es einer Reform bedarf. Allerdings gestalten sich die Reformbemühungen seit rund fünf Jahren ausgesprochen schleppend. Es besteht nach wie vor keine einheitliche Vorstellung davon, wie das Recht auf Asyl, eine faire Aufteilung und Kostenbeteiligung untereinander, effektive Rückführungen und ein funktionierender, aber menschenwürdiger Außengrenzschutz aussehen können. Gleichzeitig sterben Flüchtlinge nach wie vor auf dem Mittelmeer oder befinden sich am Rande der EU auf griechischen Inseln in Camps mit miserablen Zuständen. Diese ernüchternde Bestandsaufnahme führt bei vielen zu der Schlussfolgerung, dass die Mitgliedstaaten sich dieser Problematik annehmen sollten. Ferner ist dies auch für die Union als globaler Akteur eine Notwendigkeit, um mit Glaubwürdigkeit und moralischer Integrität ihre Interessen zu verfolgen, zu deren Grundlage die allgemeinen Menschenrechte zählen.
In eine ähnliche Richtung zielt auch das nächste Beispiel. Besonders im vergangenen Jahr hat es innerhalb der Europäischen Union einen scharfen Konflikt darüber gegeben, inwiefern aus den Brüsseler Institutionen Maßstäbe für Rechtsstaatlichkeit gesetzt und durchgesetzt werden können. Im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren wird aktuell genau das zwar bereits gemacht, aber der Streit entzündete sich ohnehin eher am Prinzip – zweifelsohne gespeist aus innenpolitischen Motiven, die in Ungarn und Polen zu suchen sind. Hält man sich vor Augen, dass die EU nach außen besonders auf dem Feld der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik auf ebenjene Rechtsstaatlichkeitskriterien berechtigterweise pocht, mutet es jedoch eigentümlich an, dass ebenjene Kriterien im Inneren so umkämpft sind. Auch wenn es sich nicht gebietet, bei diesem Thema Mitgliedstaaten mit den Standards in den sehr diversen und teilweise fragilen Staaten in der Nachbarschaft zu vergleichen, so sollte doch nicht darüber hinweggesehen werden, dass die Vorgänge in Polen und Ungarn im Einzelnen massiv dem mehrheitlichen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit in der EU widersprechen. Dies betrifft in Polen besonders die Unabhängigkeit der Justiz und in Ungarn die politische Einflussnahme auf die Medienlandschaft. Die Schlussfolgerung ist auch in diesem Punkt gleichlautend, dass die EU als Akteur nach außen mit klaren Erwartungen an rechtsstaatliche Standards nur dann erfolgreich wird auftreten können, wenn sie dies auch im Inneren glaubwürdig umsetzt und ihr Selbstverständnis in dieser Hinsicht klären kann.
Neben diesen beiden Bereichen Migration und Rechtsstaatlichkeit, die tiefe Gräben offenbaren, brachte die Coronapandemie deutlich zutage, wie schwer sich die Europäische Union im Angesicht dieser tiefgreifenden Krise tat, adäquat und koordiniert zu reagieren und zu einem aktiven Krisenmanagement zu finden. Die getroffenen Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen, gehen in der Mehrzahl von der nationalstaatlichen Ebene aus. Das ist insofern verständlich und nachvollziehbar, da der Bereich der Gesundheitspolitik eine Kompetenz der Nationalstaaten ist. Dennoch gab die EU insbesondere in der ersten Phase der Pandemie kein gutes Bild ab. Nicht zu Unrecht wird ihr mangelnde Resilienz auf vielen Ebenen vorgeworfen. Zwar ist der gemeinsame Weg der Impfstoffbeschaffung und -verteilung, wie bereits geschrieben, richtig und zukunftweisend. Trotzdem kann dieser Aspekt nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU ihre Krisenfestigkeit, ihre Notfallpläne und ihre Reaktionsfähigkeit auf den Prüfstand stellen muss – ganz sicher, um dem Anspruch zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger nach innen gerecht zu werden, aber auch, um gegenüber anderen Akteuren auf der Welt nicht ins Hintertreffen zu geraten. Dies ist besonders insofern wichtig, als die Entwicklung der Weltbevölkerung und die Veränderung des Weltklimas vergleichbare Krisensituationen als realistische Erwartung erscheinen lassen.
Es lässt sich nach der Betrachtung dieser Beispiele konstatieren, dass die Europäische Union, den Blick nach innen gerichtet, eine Reihe von Fragenkomplexen zu beantworten hat. Wie hält sie es mit Rechtsstaatlichkeitsstandards? Welche Möglichkeiten bestehen, das Asylsystem der EU zu reformieren? Wie wird die EU resilienter für Krisen? Diese Fragen verdeutlichen, dass das Selbstverständnis als Akteur nach außen und die Vorstellung dessen, welche Identität die Union im Inneren entwickelt, Hand in Hand gehen. Nur wenn die Europäische Union sich aktiv an die Arbeit macht, auch diese Fragen zu beantworten, sich gleichzeitig der Herausforderung stellt, ein Selbstverständnis als globaler Akteur zu entwickeln und sich traut, bei all dem auch in großen Linien zu denken, wird sie ihre Erfolgsgeschichte fortschreiben können.
Dr. Hardy Ostry ist Leiter des Europabüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel.
Ludger Bruckwilder ist Referent im Europabüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.