Ausgabe: 3/2016
1. Hinführung: Internationale Ambitionen und nationaler Reformstau
Christian E. Rieck
Vom 15. bis zum 16. Oktober 2016 findet der achte BRICS-Gipfel unter indischer Präsidentschaft in Panaji, Goa, statt. Die Bilder, die diese jährlichen Gipfeltreffen auch dieses Mal wieder produzieren werden, sollen die Einigkeit der „postwestlichen Welt“ symbolisieren, eine produktive Verbindung zwischen ehrgeizigen und machtvollen Regionalmächten, die mit vereinten Kräften (und ohne den Westen) die Zukunft gestalten wollen. Nach der Jahrtausendwende schien die Machtverschiebung weg vom erschöpften Westen hin zu jener dynamischen Gruppe von Aufsteigerstaaten ohne Alternative und ein findiger Investmentbanker versah die neue „Anlageoption“ prompt mit dem eingängigen Akronym BRIC (später BRICS). Solange die Wirtschaft florierte, konnten sich Brasilien, Russland, Indien, China und (seit 2011) Südafrika als politische, wirtschaftliche und militärische Zentralmächte, gar als Sprechernationen ihrer Weltregionen verstehen.
Bis vor Kurzem noch schien der „Aufstieg der Anderen“ unaufhaltsam: Der BRICS-Verbund definiert sich selbstbewusst als „Schlüsselelement eines neuen Systems globaler Ordnungspolitik, vor allem im Finanz- und Wirtschaftssektor“, sowie als „neues Modell globaler Beziehungen, das die alten Trennlinien zwischen Ost und West, Nord und Süd überwindet“. Die Integration der Gruppe hat mit der NewDevelopment Bank BRICS (NDB BRICS) einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dieses Selbstbewusstsein sowie das damit verbundene Mobilisierungspotenzial unter Schwellen- und Entwicklungsländern haben die BRICS-Mitglieder bereits mehrfach in konkrete Vetomacht übersetzt. Sicherheitspolitisch stecken die BRICS-Staaten ebenfalls eigene Einflusssphären ab.
Das nichtwestliche Aufstiegsnarrativ hat sich im Wirtschaftsabschwung der BRICS-Staaten jedoch als wenig belastbar erwiesen. Die BRICS-Euphorie hat denn auch ihren Zenit überschritten. In der andauernden Wirtschaftskrise – zu der sich bei einigen Mitgliedern mittlerweile auch eine politische Krise gesellt – haben sich zudem die Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe weiter und dauerhaft in Richtung China verschoben, der mit Abstand größten (und weiter wachsenden) Volkswirtschaft im Verbund. Die wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen China und den anderen BRICS-Mitgliedern waren schon immer ein Strukturmerkmal des Verbunds. Doch in der Schwäche der nichtchinesischen BRICS-Staaten offenbart sich, wie zielstrebig und geschickt vor allem China die Plattform für seine eigene Interessenpolitik und Großmachtambitionen nutzt. Interessant wird zu beobachten sein, inwieweit sich diese chinesische Präponderanz für die anderen Mitglieder (und damit für den Verbund als ganzen) zu einem Strukturproblem entwickelt. Denn gerade Peking stehen auch andere Plattformen zur Großmachtprojektion zur Verfügung – nicht zuletzt die ehrgeizige Seidenstraßeninitiative (One Belt – One Road, OBOR), eine Entwicklungsagenda, mit der Peking ein gigantisches Infrastruktur- und Transportnetz etablieren will, das letztendlich ganz Kontinentalasien und Europa umspannen soll.
Die BRICS-Staaten behaupten trotz der chinesischen Dominanz im Verbund weiter von sich, aus den Legitimationsreserven im globalen Süden zu schöpfen. Dennoch steht der Verbund nicht in der Tradition klassischer (und oft wenig effizienter) Institutionen der organisierten Gemeinschaft des globalen Südens wie der Blockfreien-Bewegung oder der G77: Zwar werden sensible Themen wie demokratische und menschenrechtsorientierte Entwicklung auch innerhalb des BRICS-Verbundes nicht verhandelt. Die demokratischen Mitglieder des Verbundes haben diese Themen in das IBSA-Dialogforum ausgelagert, das 2003 für den Austausch von Wissen, Fähigkeiten und Technologie zwischen Indien, Brasilien und Südafrika gegründet wurde. Das BRICS-Format ähnelt in seiner losen, wenig institutionalisierten Form vielmehr den G7, mit denen es den regionalen und globalen Ordnungsanspruch gemeinsam hat, der von der ökonomischen und politischen Stärke seiner Mitglieder herrührt.
Der folgende Beitrag soll vor diesem Hintergrund aus Sicht der fünf beteiligten Staaten den Status quo und die Zukunftsperspektiven in den Blick nehmen – und zwar sowohl der einzelnen BRICS-Mitglieder als auch des Verbundes insgesamt. Leitfragen sind dabei:
- Wie stellt sich die wirtschaftliche Entwicklung des jeweiligen Mitgliedstaates dar?
- Welche konkreten Hoffnungen und Ziele verbinden die Mitglieder mit dem BRICS-Verbund?
- Welche Rolle spielt für die Mitgliedstaaten im Verbund die Nähe zu China?
2. Indien: Der BRICS-Verbund als Baustein einer multipolaren Welt
Lars Peter Schmidt † / Mark Alexander Friedrich
Während Kritiker monieren, der BRICS-Verbund sei nicht mehr als eine willkürlich zusammengestellte Gruppe von Staaten ohne Gemeinsamkeiten und folglich ein rein symbolischer Zusammenschluss, kann von einer solchen Bedeutungslosigkeit aus indischer Sicht nicht gesprochen werden. Indien hofft weiterhin auf eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb des Verbundes und setzt seine Hoffnungen insbesondere auf die vor zwei Jahren gegründete NDB BRICS sowie auf eine Reihe eigener Initiativen. Chinas großes Gewicht im Verbund wird durchaus zur Kenntnis genommen. Jedoch stellt der Zusammenschluss aus indischer Sicht durch die entstandenen institutionellen Strukturen, stetigen Konsultationen und die Schaffung von Konfliktlösungsmechanismen in einem multipolaren internationalen System ein Forum zur Zusammenarbeit mit China dar. Diese ist zudem im Kontext weiterer internationaler Kooperationsmechanismen zu betrachten.
Selbstbewusster indischer Führungsanspruch
Seit Amtsantritt der Regierung Modi (Bharatiya Janata Party, BJP) 2014 ist Indien aus der politischen und wirtschaftlichen Starre erwacht, die während der zweiten Regierung Singh herrschte. Auch wenn um viele Reformen aufgrund der fehlenden Mehrheit im Oberhaus noch gerungen wird, konnten erste Neuerungen schon umgesetzt werden: So gibt es zwischenzeitlich eine neue Insolvenzgesetzgebung und eine historische Mehrwertsteuerreform. Eine Landreform und eine Überarbeitung der Beschäftigungsgesetze stehen noch auf Modis Agenda. Vor allem ging mit dem Regierungswechsel ein Stimmungsumschwung einher. Hiervon, aber auch von den weltweit niedrigen Rohstoffpreisen beflügelt, nahm das indische Wirtschaftswachstum zu, sodass dieses laut Weltbank für das Fiskaljahr 2016 7,6 Prozent beträgt. Damit unterscheidet sich Indien von den zuletzt von wirtschaftlichen Problemen, politischen Unruhen oder militärischen Konflikten gebeutelten übrigen BRICS-Staaten. Entsprechend konnte das Land den BRICS-Vorsitz in diesem Jahr selbstbewusst angehen und hat sich anspruchsvolle Ziele gesetzt.
Dass Indien den Zustand des BRICS-Verbundes weniger kritisch betrachtet als der Westen, hat unterschiedliche Gründe. Für die Inder erfüllt die BRICS-Staatengemeinschaft vor allem vier Funktionen: Erstens soll die auswärtige Politik mit Ländern, mit denen man auf Grund ähnlicher Größe und wirtschaftlicher Potenziale Interessen teilt, koordiniert und abgestimmt werden. Zweitens begreift man sich als Entwicklungs- und Lerngemeinschaft. So möchte Indien ein gegenseitiges Lernen und den Austausch von Erfahrungen und Erfolgskonzepten hinsichtlich des sozialen Wandels, der Armutsbekämpfung, der sozialen Gerechtigkeit, der Urbanisierung und des guten Regierens erreichen. Drittens gibt es in der indischen Bevölkerung, resultierend aus den kolonialen Erfahrungen, nach wie vor gewisse Vorbehalte gegenüber dem Westen. Entsprechend legt das Land Wert darauf, auf eine multipolare Weltordnung hinzuwirken und politische, wirtschaftliche und institutionelle Absicherungen jenseits bestehender westlicher Institutionen und Kooperationsmechanismen zu schaffen. Der BRICS-Verbund leistet aus indischer Sicht einen Beitrag zu diesem stärker multipolar geprägten System. Die Beteiligung am BRICS-Verbund geht einher mit dem Engagement Indiens für eine Reform des Weltsicherheitsrates sowie für regionale, bi- und multilaterale Zusammenarbeit und Institutionen wie die Asiatische Entwicklungsbank (ADB). Viertens – und dies hängt mit dem Misstrauen gegenüber den einstigen Kolonialmächten zusammen – soll zu den aus indischer Sicht westlich dominierten Institutionen der Global Governance ein Gegengewicht geschaffen werden. Die NDB BRICS ist dabei sicherlich das prominenteste, jedoch nicht das einzige Beispiel. Im Juni 2016 wurde ein Memorandum of Understanding für den Beitritt Indiens zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) unterzeichnet. Weiterhin soll auch auf Ebene der technischen Infrastruktur, etwa durch ein geplantes gemeinsames BRICS-Satellitensystem zur Katastrophenbekämpfung, mehr Unabhängigkeit von anderen Akteuren erreicht werden.
Heterogene Partnerschaftsprofile
Die starke Heterogenität der BRICS-Staaten wird beim Blick auf die Beziehungen Indiens zu seinen Partnerländern deutlich. Zugleich zeigt sich aber auch, dass Indien mit allen anderen BRICS-Staaten Gemeinsamkeiten und Interessen teilt. Das Verhältnis zu Brasilien ist geprägt durch gemeinsame Werte, die sich aus dem Charakter beider Länder als liberale Demokratien und Verfassungsstaaten ergeben. Darüber hinaus existieren gemeinsame Interessen und Vorstellungen, etwa hinsichtlich der Gestaltung des globalen Handels, globaler Umweltstandards und der Reform internationaler Institutionen, allen voran der Vereinten Nationen und des Weltsicherheitsrats. Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den beiden Ländern sind im letzten Jahrzehnt stetig gewachsen. So hat sich der indisch-brasilianische Handel zwischen 2008 und 2014 mehr als verdoppelt und soll durch regelmäßige Konsultationen auf Ministerialebene überwacht und angeregt werden. Beide Länder haben zum Teil große Herausforderungen im Infrastrukturbereich zu meistern, sodass hier Ansatzpunkte für eine engere Zusammenarbeit bestehen. Gemeinsam mit Südafrika arbeiten Brasilien und Indien zudem auf der Ebene des IBSA-Dialogforums zusammen. Neben der demokratischen Staatsform einen die Länder eine steigende gesellschaftliche Ungleichheit trotz – zumindest im langfristigen Trend – wachsender Volkswirtschaften sowie der Wille, unabhängiger vom Westen zu werden. Als Verbund aufstrebender, multiethnischer und -kultureller Demokratien ist die Konstellation zwar homogener als bei den BRICS-Gruppe, jedoch reicht er nicht ansatzweise an deren Bedeutung heran. Dies wird auch dadurch deutlich, dass IBSA gezielt die Zusammenarbeit mit Russland und China sucht.
Als Teile des ehemaligen britischen Kolonialreichs können Indien und Südafrika auf eine gemeinsame Geschichte zurückblicken. Neben der Mitgliedschaft im Commonwealth zeigt dies vor allem die große und lebendige indische Minderheit in Südafrika. Nachdem Indien eine Vorreiterrolle im diplomatischen Kampf gegen das Apartheid-Regime gespielt hatte, nahmen Südafrika und Indien ihre diplomatischen Beziehungen 1993 wieder auf. Seitdem findet ein reger Austausch auf den Gebieten Verteidigung, Kultur, Gesundheit, Siedlungspolitik, öffentliche Verwaltung, Wissenschaft, Bildung und Technologie statt. Die Beziehungen zu Südafrika sind für Indien von großer Bedeutung. So unterstützt Südafrika etwa im Gegensatz zu China einen Beitritt Indiens zur Gruppe der Kernmaterial-Lieferländer (NSG). Wirtschaftlich gibt es trotz der guten Beziehungen noch viel Potenzial: Zwar wuchs das Handelsvolumen beider Länder seit der Unabhängigkeit Südafrikas stetig, dennoch beträgt es derzeit nur ein Drittel des chinesisch-südafrikanischen Güteraustausches.
Die indischen Beziehungen zu Russland sind traditionell gut. Trotz nomineller Blockfreiheit stand Indien bündnispolitisch der Sowjetunion während des Kalten Krieges näher als den USA. Dieses über Jahrzehnte aufgebaute Vertrauen prägt die Beziehungen beider Länder bis in die Gegenwart. Wie Südafrika unterstützt Russland einen indischen Beitritt zur NSG. Indien wiederum beteiligt sich nicht an den Sanktionen gegen Russland. Traditionell ist vor allem die militärische Zusammenarbeit eng. So machten russische Waffen zwischen 2004 und 2014 etwa drei Viertel der indischen Waffenimporte mit einem Gesamtwert von 30 Milliarden Dollar aus. Das bilaterale Handelsvolumen ist in den letzten anderthalb Jahrzehnten stark gestiegen, zuletzt jedoch, auch wegen der gefallenen Rohstoffpreise, wieder gesunken. Beide Länder haben sich zum Ziel gesetzt, das Handelsvolumen bis 2025 auf 30 Milliarden US-Dollar anzuheben. Dies erscheint optimistisch, würde es doch annähernd eine Vervierfachung des gegenwärtigen Handels bedeuten. Für Indien bedeutet ein starkes Russland einen weiteren, freundlich gesinnten Akteur in einer multipolaren Welt und damit ein zusätzliches Gegengewicht zu China.
Die Beziehungen Indiens zu China sind komplexer als jene zu den übrigen BRICS-Staaten. Lange Zeit war der Kontakt von Handel und kulturell-philosophischem Austausch sowie von einem überwiegend friedlichen Nebeneinander geprägt. Heute dagegen bergen ungelöste Grenzfragen, geo- und wirtschaftspolitische Konkurrenz, die Tibetfrage und das Vordringen der chinesischen Marine in den Indischen Ozean Herausforderungen für die Beziehungen. Gleichzeitig liegen in den wachsenden wirtschaftlichen Verbindungen und gemeinsamen Interessen in der Region – bspw. beim Infrastrukturausbau – auch Chancen für eine engere Zusammenarbeit. Diese bieten sich besonders durch die Make in India-Kampagne, etwa im Bereich des Schienenverkehrs, beim Bau von Atomkraftwerken und bei der Nutzung von erneuerbaren Energien.
Indien hat Interesse an der Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zur Volksrepublik und hofft auf weitere chinesische Investitionen. So werden etwa Investitionen in die IT-Branche, den Wohnungsbau und die Infrastruktur benötigt. Bereits jetzt werden indische Projekte und Firmen, insbesondere im IT-Sektor, durch chinesische Banken und Investoren finanziert. Das Handelsvolumen stieg zu Beginn des Jahrzehnts stark an, stagniert jedoch seitdem. Indien weist seit Jahren ein deutliches Handelsdefizit auf. Durch institutionalisierte Zusammenarbeit, wie bspw. im Rahmen des BRICS-Verbundes, sollen weitere Handelskanäle eröffnet werden. Darüber hinaus gibt es sowohl auf ministerialer als auch auf Arbeitsebene regelmäßige Konsultationen. Aus indischer Sicht ist eine Einbindung Chinas in institutionelle Strukturen, eine stetige Koordination und die Schaffung von Konfliktlösungsmechanismen, wie der BRICS-Verbund dies aus indischer Sicht ermöglicht, ebenso notwendig wie eine Absicherung durch eine Zusammenarbeit mit weiteren Regionalmächten. Entsprechend baut die Regierung die Beziehungen zu potenziellen pazifischen Partnern wie den USA, Japan, Vietnam und Australien aus.
Kein Ende der BRICS-Kooperation in Sicht
Um die künftige Zusammenarbeit unter den BRICS-Staaten zu vertiefen, schlug Premierminister Modi 2015 seinen Plan „Das Kadam – 10 Schritte für die Zukunft“ vor. Dieser beinhaltet eine BRICS-Handelsmesse, ein BRICS-Eisenbahnforschungszentrum, die Zusammenarbeit der obersten Rechnungsprüfungsbehörden, eine verbundseigene digitale Initiative, ein BRICS-Landwirtschaftsforschungszentrum, ein Verwaltungsforum der Bundesstaaten und Selbstverwaltungen der BRICS-Mitgliedstaaten, eine bessere Zusammenarbeit der Städte in den BRICS-Ländern bei der Urbanisierung, einen BRICS-Sport-Rat und eine jährliche, bisher nicht näher spezifizierte BRICS-Sportveranstaltung, ein BRICS-Film Festival sowie den Vorschlag, dass das erste große Projekt der NDB BRICS im Bereich der erneuerbaren Energien liegen solle. Die indische Regierung plant, diese Initiative während ihres Vorsitzes und im Rahmen des Gipfels voranzutreiben. Darüber hinaus besitzt die Regierung Modi für den Vorsitz weitreichende Ambitionen, zu denen gegenseitige Visa-Erleichterungen und eine Zusammenarbeit bei der Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen gehören.
Die von einigen Wirtschaftsexperten vertretene These, dass das Zeitalter des BRICS-Verbundes aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Situation vorüber sei, muss aus indischer Sicht befremdlich erscheinen. Indien versteht den Verbund nicht nur als wirtschaftliches, sondern auch als politisches Projekt, das einen Austausch in gesellschaftlichen Fragen unter den zentralen Akteuren der nichtwestlichen Welt beinhaltet. Wirtschaftliche Gesichtspunkte allein sind für die Bemessung des Wertes der Zusammenarbeit somit nicht entscheidend. Viele indische Wirtschaftsexperten sind zudem der Ansicht, dass die BRICS-Mitgliedschaft Indien schon heute international zu mehr Einfluss verholfen hat. Unabhängig von der wirtschaftlichen Komponente stellt der BRICS-Verbund für Indien ein Instrument aktiver Außenpolitik in einer zunehmend multipolaren Welt dar.
3. Brasilien: Krisengelähmt nimmt die Abhängigkeit von China zu
Jan Woischnik / Alexandra Steinmeyer
Die massive Krise der brasilianischen Wirtschaft und Politik macht die strukturellen Probleme des ehemaligen Boom-Lands deutlich. Innenpolitisch gelähmt, bleibt wenig Aufmerksamkeit für außenpolitische Projekte. Innerhalb der Region gelingt es Brasilien zudem nicht, sich als Führungsmacht zu etablieren. So ist heute nicht mehr das antihegemoniale Narrativ das stärkste Argument für Brasiliens BRICS-Mitgliedschaft, sondern ein privilegierter Zugang zu seinem größten Handelspartner China.
Wirtschaft und Politik in der Krise
Nach der Jahrtausendwende boomte die brasilianische Wirtschaft und wuchs von 2002 bis 2014 auf das Doppelte. Dies ist vor allem auf den Anstieg der Weltmarktpreise von Commodities, wie etwa Erze, Öl, Soja und Fleisch, zurückzuführen, die 2014 64 Prozent des brasilianischen Exports ausmachten. Von der Weltwirtschafts- und Finanzkrise erholte sich die brasilianische Wirtschaft sehr schnell, da das aufstrebende Schwellenland für Investoren, die ihr Kapital aus den krisengeplagten USA und Europa abzogen, attraktiv wurde und die Regierung durch große Investitionsprojekte die Nachfrage künstlich steigerte. Das Wirtschaftswachstum wurde durch Sozialprogramme wie das Conditional-Cash-Transfer-Programm Bolsa Familia für einen breiten Teil der brasilianischen Bevölkerung spürbar – die Haushaltseinkommen stiegen von 2002 bis 2014 auf das 1,7-Fache.
Doch der Boom der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas war nicht nachhaltig, sondern auf den Export von Commodities und im Inland zu großen Teilen auf die extreme Ausweitung von Konsumkrediten statt langfristiger Investitionen gebaut. Dementsprechend läutete der Einbruch der Commodity-Preise auf den Weltmärkten ab 2014 in Brasilien die größte Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren ein: Inflation und Arbeitslosigkeit stiegen 2016 in den knapp zweistelligen Bereich, während das Pro-Kopf-Einkommen allein 2015 stärker sank als während der gesamten „verlorenen Dekade“ der 1980er Jahre. In Brasilien, das trotz eigener industrieller Basis strukturell importabhängig ist, verschlechterte diese Preisentwicklung zusammen mit der Währungsabwertung die Terms of Trade und ließ die Inflation ansteigen. Zudem nahm die Auslandsverschuldung, auch wegen mangelnder Haushaltsdisziplin der Regierung, in den vergangenen 15 Jahren um fast zwei Drittel zu. Die Währungseffekte hätten die Exporte ankurbeln können, doch diese sind seit 2012 rückläufig, da sie wegen langjähriger protektionistischer Maßnahmen international kaum wettbewerbsfähig sind. Auch wenn Brasilien etwa Weltmarktführer für Orangensaft und Zucker ist (bei gentechnisch modifizierten Pflanzen belegt das Land den zweiten Platz), machten Exporte in den vergangenen Jahren durchschnittlich nur etwa ein Achtel der brasilianischen Wertschöpfung aus. Der Binnenmarkt bleibt demnach vorrangiger Wachstumsmotor der brasilianischen Wirtschaft, und dieser ist aktuell krisengeplagt.
Die strukturellen Ursachen dieser Krise liegen jedoch nicht nur in der Wirtschaft, sondern umfassen eine ausufernde Bürokratie, ein abgesehen von wenigen Eliteschulen qualitativ unzureichendes Bildungssystem und eine Staatsquote, die sich fast auf deutschem Niveau befindet, ohne den enormen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten ausreichend mit sozialstaatlichen Leistungen zu begegnen. Im politischen Bereich treffen kaum programmatisch verankerte Parteien auf klientelistische Strukturen. Das Verfahren zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff (Partido dos Trabalhadores, PT) und das anhängige Verfahren zur Annullierung der letzten Präsidentschaftswahlen sind klarer Ausdruck der Krise im Land und machen die zukünftige (wirtschafts-)politische Situation in Brasilien unberechenbar. Die Enthüllungen im Rahmen der Aufdeckung des Lava Jato-Skandals, des größten Korruptionsnetzwerks der Geschichte Brasiliens, haben zudem das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik erschüttert.
Orientierung nach China statt regionaler Führungsrolle
Innenpolitisch gelähmt, sind außenpolitische Angelegenheiten momentan in Brasilien nachrangig. Seit der Re-Demokratisierung im Jahr 1985 setzte die brasilianische Außenpolitik unterschiedliche Schwerpunkte. Zunächst stark nach Europa und den USA hin orientiert, setzte Luiz Inácio Lula da Silva (PT) während seiner Präsidentschaft (2002 bis 2009) Akzente der Süd-Süd-Kooperation innerhalb und außerhalb der Region Südamerikas. Während dieser Zeit strebte das Land danach, seine durch Wirtschaftsleistung, Bevölkerungszahl und Fläche gegebene Vormachtstellung innerhalb der Region auch politisch auszufüllen – unter anderem im Rahmen regionaler Integrationsvorhaben.
Der Mercosur, der 1991 mit dem Ziel gegründet worden war, einen gemeinsamen südamerikanischen Binnenmarkt zu schaffen, brachte zwar Visa-Erleichterungen für die Bevölkerung mit sich, doch die erhoffte wirtschaftliche Integration kam nicht in Schwung. Spätestens mit der Aufnahme Venezuelas im Jahr 2012 sanken die Hoffnungen auf eine Wiederbelebung des Forums, zumal die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union seit mehr als zwei Jahrzehnten ergebnislos bleiben. Daraufhin wurde 2008 in Brasília das politische Integrationsvorhaben UNASUR ins Leben gerufen, das einige diplomatische Erfolge erzielen konnte und Infrastrukturprojekte auf den Weg brachte. In beiden Foren forcierte Brasilien seinen regionalen Führungsanspruch und setzte eigene Akzente. Allerdings blieben beide Versuche der regionalen Integration – und damit auch Brasiliens Führungsrolle innerhalb Südamerikas – abhängig von einzelnen Staats- und Regierungschefs und wurden nicht gesellschaftlich-administrativ konsolidiert. Innerhalb der Region ist Brasiliens Führungsrolle nicht unumstritten und wurde historisch beispielsweise von Venezuela oder Argentinien herausgefordert.
Lulas Nachfolgerin Rousseff (von 2010 bis zu ihrer Amtsenthebung im August 2016 Staatspräsidentin) verfolgte keine nennenswerten außenpolitischen Projekte. Stattdessen blickte Brasilien, vor allem angetrieben von der Wirtschaft, nach China: Seit 2009 ist das Land größter Handelspartner und wichtiger Gläubiger Brasiliens. 2016 wird Brasilien voraussichtlich die meisten chinesischen Direktinvestitionen in Lateinamerika erhalten, besonders im Rohstoff- und Energiesektor sowie im Infrastrukturbereich. Diese starke wirtschaftliche Bindung verstärkt den Bedarf nach einem politischen Dialog Brasiliens mit China. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind jedoch von Asymmetrie geprägt: China schafft nicht nur im wirtschaftlichen Bereich Fakten durch strategisches Investment. Brasilianische Experten stellen zudem fest, dass Brasilien eine ausreichende China-Expertise fehlt und sich die Asymmetrie dadurch langfristig noch zu verstärken droht. Die Priorität der neuen brasilianischen Regierung liegt in der Wirtschaftspolitik, und hier könnte China durch seine Investitionen einen Ausweg aus der Krise aufzeigen. Die Abhängigkeit Brasiliens vom ungleichen Partner würde dadurch jedoch noch größer werden.
Brasilien im BRICS-Verbund: Viel Rhetorik, weniger Engagement
Die strukturellen wirtschaftlichen Probleme Brasiliens und sein weder akzeptierter noch konsolidierter Führungsanspruch innerhalb Südamerikas stehen im starken Kontrast zu den globalen Ambitionen, die das Land etwa im Rahmen des BRICS-Verbunds einfordert. Der damalige Staatspräsident Lula brachte sein Land in der BRICS-Gruppe mit dynamischen Volkswirtschaften zusammen und nutzte das globale window of opportunity, um die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung Brasiliens in einen Statusgewinn auf der internationalen politischen Bühne umzusetzen. Für Brasiliens BRICS-Mitgliedschaft war die Person Lulas also ein wichtiger Faktor: Die BRICS-Euphorie in Brasilien ging vor allem auf das von Lula vertretene Narrativ einer neuen, multipolaren Weltordnung in Zeiten einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise zurück. Auch nach außen fand das Projekt in ihm einen artikulationsmächtigen Werber, an dessen Charisma kein anderer Gründungsvater der BRICS-Gruppe heranreichte. Für den Westen interessant ist, dass sich Brasilien, wenn auch mit Einschränkungen, historisch-kulturell bedingt als Teil des Westens versteht und damit innerhalb der BRICS-Staaten eine moderierende Sonderstellung einnimmt. Für Irritationen sorgte Lula allerdings, als er 2009 einen Atomdeal mit Iran aushandelte, der im Westen nicht auf Zustimmung stieß.
Unter Lula war Brasiliens Mitgliedschaft im BRICS-Projekt motiviert durch den Wunsch, Gehör auf der internationalen Bühne zu finden. Allerdings wurde schnell deutlich, dass die anderen Mitgliedstaaten mit Brasilien neben der Reform internationaler (Finanz-)Organisationen wenige Interessen teilten. Trotzdem konnte Brasilien eigene Akzente setzen und ver-stärkte etwa die Intra-BRICS-Kooperation in den Bereichen Sicherheitspolitik, Public Health und Bekämpfung des Klimawandels. Doch besonders während Rousseffs Präsidentschaft blieb Brasiliens Außenpolitik hinter seiner globalen Verantwortung als immerhin viertgrößte Demokratie der Welt zurück – auch innerhalb der BRICS-Gruppe: Unter Rousseff brachte Brasilien kaum eigene Initiativen in das BRICS-Forum ein und versäumte, etwa die Flüchtlingsfrage als aktuell größte globale Herausforderung entschieden zu thematisieren. Das gilt auch für das IBSA-Format, das eigentlich das angemessene Forum für Debatten über Menschenrechte wäre. Stattdessen hat sich die Motivation, am BRICS-Projekt festzuhalten, gewandelt hin zur wirtschaftlich begründeten Notwendigkeit direkter Beziehungen zu China. Bilateral hätte Brasilien kaum einen ähnlich privilegierten Zugang zu dem Land, für das es hauptsächlich Nahrungsmittel- und Rohstofflieferant sowie Absatzmarkt darstellt – und damit weitgehend ersetzbar ist.
Allerdings vergab Brasiliens neuer Präsident Michel Temer (Partido do Movimento Democrático Brasileiro, PMDB) das Amt des Außenministers nicht, wie zuvor üblich, an einen Diplomaten, sondern an den Parteipolitiker und ehemaligen Bundesminister José Serra (Partido da Social Democracia Brasileira, PSDB). Dies deutet darauf hin, dass Außenpolitik eine Priorität der neuen Regierung werden soll, wenn auch bisher hauptsächlich in Form bilateraler Kooperationen. Der BRICS-Verbund ist aktuell kaum präsent in der brasilianischen Debatte – zu sehr ist das Land mit der massiven Krise beschäftigt, die Politik und Wirtschaft aktuell durchmachen, und auch in den kommenden Jahren wird die politische Agenda wohl innenpolitisch dominiert bleiben. Das wäre durchaus zu begrüßen, da Brasilien nur durch strukturelle Reformen die Voraussetzungen für seine globalen Ambitionen schaffen kann. Sofern jenseits der innenpolitischen Baustellen noch Raum für eine außenpolitische Agenda bleibt, wird Brasilien weiter am BRICS-Format festhalten, das ihm politischen Zugang zum Wirtschaftsriesen China garantiert. So könnte es weiterhin die Funktion einer Brücke zwischen dem Westen und den vornehmlich asiatischen aufstrebenden Schwellenländern darstellen.
4. Südafrika: Am Kap der enttäuschten Hoffnung
Tilmann Feltes
Als jüngstes BRICS-Mitglied hat Südafrika die allgemeinen Erwartungen seit seinem Beitritt nicht erfüllen können. Sollten zudem die großen Potenziale des Landes in Zukunft nicht genutzt werden, wird neben der ökonomischen auch die politische Bedeutung Südafrikas im BRICS-Verbund schwinden.
Der gatekeeper als underachiever
Südafrika befindet sich in einer Phase der Ernüchterung. Das unter den ehemaligen Präsidenten Mandela und Mbeki Erreichte (wirtschaftliche Stabilisierung, soziale Kohäsion, regionale Führungsrolle) wird in Frage gestellt, tiefgreifende Krisen erfassen viele Bereiche des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens. Nach der mühevoll überwundenen Apartheid und der noch immer nicht abgeschlossenen Transition zur Demokratie nehmen nun sowohl intern als auch extern Sorge und Skepsis hinsichtlich der Entwicklungsorientierung und der Stabilität des einst als Erfolgsmodell betrachteten Landes zu. Unter allen BRICS-Staaten besitzt Südafrika die höchste Arbeitslosenquote (über 25 Prozent sowie geschätzt über 50 Prozent unter Jugendlichen), die größte Ungleichheit zwischen Arm und Reich sowie eines der schlechtesten öffentlichen Grundbildungssysteme. Unter anderem aufgrund des vom IWF für 2016 prognostizierten, nahezu stagnierenden Wachstums von 0,1 Prozent sowie aufgrund der für Südafrika ungewöhnlichen politischen Turbulenzen sind die ausländischen Direktinvestitionen im letzten Jahr um 74 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Es wird davon ausgegangen, dass sich diese Lage bis zur internen Neuwahl des Präsidenten des regierenden ANC (African National Congress) Ende 2017 nicht ändern wird. Bis dahin wird Südafrika wohl in einem Warte- bzw. Wankelmodus verharren.
Die BRICS-Staaten in Afrika
Es hatte verheißungsvoll begonnen, als mit der Aufnahme Südafrikas im Jahr 2011 der BRICS-Verbund seinen Einflussbereich auf den Kontinent mit den größten Wachstumspotenzialen auszuweiten versuchte. Südafrikas Präsident Jacob Zuma (ANC) bezeichnete sein Land als „Tor nach Afrika“, das Unternehmen aus den anderen BRICS-Staaten den besten Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten der Region bieten würde. Wirtschaftlich konnte Südafrika jedoch mit den anderen Mitgliedern von Anfang an nicht mithalten. Voller Euphorie wurde nach dem Beitritt ein Anstieg des Handels zwischen Afrika und den BRICS-Staaten auf 500 Milliarden US-Dollar für das Jahr 2015 prognostiziert. Doch eingetreten ist letztlich lediglich ein Anstieg auf knapp 300 Milliarden US-Dollar. Zudem erscheint im Jahr 2016 die Theorie des gatekeeper mehr als fragwürdig. Nach Meinung vieler Analysten würden die BRICS-Staaten auch ohne eine Mitgliedschaft Südafrikas auf dem Kontinent investieren. Schon jetzt sind die fünf Staaten hier mit jeweils eigenen „Afrikastrategien“ aktiv. So verfolgt Brasilien beispielsweise wirtschaftliche Interessen vor allem in den PALOP-Staaten (z.B. im Bergbausektor), Indien vorzugsweise in Ostafrika und China auf dem gesamten Kontinent.
Ein chinesischer Wirtschaftsimperialismus in Afrika?
Beachtlich ist vor allem das wachsende Engagement Chinas auf dem Kontinent. 2011 hatte die Volksrepublik die USA erstmals als größten Handelspartner Afrikas abgelöst. Allein in den kommenden drei Jahren will China über 60 Milliarden US-Dollar in Afrika investieren. Unter dem Motto „Rohstoffe gegen Infrastruktur“ wurde in der Vergangenheit oftmals chinesische Hilfe beim Ausbau staatlicher Infrastruktur jeglicher Art angenommen, die Auswirkungen auf Nachhaltigkeit und gute Regierungsführung blieben aber überschaubar. Gleichzeitig vertritt auch Südafrika eigene Interessen auf dem Kontinent aktiv und hat jenseits des BRICS-Verbunds ein Regionalprojekt im südlichen Afrika gestartet: Regionale Entwicklungskorridore sollen die Subregion verbinden. Bislang halten sich Interessenkonflikte der beiden Akteure in Afrika aber in Grenzen. Südafrika versteht seine Führungsrolle eher politisch, China konzentriert sich (noch) verstärkt auf den Handel und die Wirtschaft. Solange dies so bleibt, sind keine größeren Interessenkonflikte zu erwarten.
In Südafrika selbst ist China schon seit 2009 der größte Handelspartner, wobei dies der Volksrepublik derzeit größere wirtschaftliche Vorteile bringt als Südafrika: Im März 2016 lagen die chinesischen Einfuhren nach Südafrika beispielsweise doppelt so hoch wie die südafrikanischen Ausfuhren nach China. Nach der Unterzeichnung einiger Kooperationsabkommen, die vor allem den halbstaatlichen südafrikanischen Eisenbahn- und Minenunternehmen den Zugang zum chinesischen Markt erleichtern sollen, könnte sich dies allerdings ändern.
Neben den Wirtschaftsbeziehungen ist es vor allem aber die politisch-ideologische Affinität zu China, die seit einigen Jahren eine unübersehbare Rolle in der südafrikanischen Außenpolitik spielt. Südafrika nutzt geschickt und wo immer möglich die verbindende BRICS-Mitgliedschaft dazu, die bilateralen Beziehungen zu China zu verfestigen und sich China als ideologischem Partner mit teils stark antiwestlicher Rhetorik anzubiedern. Wie sich diese Rhetorik auf die künftigen politischen Handlungsmaximen Südafrikas auswirken wird, bleibt abzuwarten. Des Öfteren kam es jedoch schon zu politisch fragwürdigen Entscheidungen wie zum Beispiel Einreiseverboten für den Dalai Lama.
Der wirtschaftliche Zugang zu chinesischem Kapital, Know-how und Investitionen spielt in Südafrika eine Rolle, jedoch keine so bedeutende wie in anderen afrikanischen Entwicklungsländern. Insgesamt ist das BRICS-Engagement Südafrikas zwar für eine Diversifizierung der südafrikanischen Absatzmärkte nützlich, die Handelsstruktur der afrikanischen Staaten mit den BRICS-Mitgliedern bleibt dabei jedoch oftmals die gleiche wie mit den westlichen Partnern: unverarbeitete Rohstoffe gegen Dienstleistungen und Industriegüter. In einer künftigen Verarbeitung vor Ort liegen hierbei die Zukunftschancen sowohl für Afrika insgesamt als auch für Südafrika. Als das am meisten industrialisierte Land Afrikas hat Südafrika hierbei gute Voraussetzungen. Gerade im Bereich der Weiterverarbeitung der beliebtesten Exportprodukte des Landes (hochwertige Mineralien wie Gold, Diamant, Platin) besteht großes Wertschöpfungspotenzial.
Antikoloniales Instrument und innenpolitische Verhärtung
Das Auftreten der BRICS-Staaten in Subsahara-Afrika beinhaltet zunehmend Elemente klassischer Süd-Süd-Kooperationen, die der Verringerung der Abhängigkeit der Länder des globalen Südens von den westlichen Industrieländern dienen sollen. In Abgrenzung zu den klassischen Geber-Nehmer-Beziehungen mit dem Westen machen sich die fünf Regionalmächte dabei zunutze, dass sie auf den ersten Blick nicht mit einer imperialen Vergangenheit belastet sind, da sie teils selbst europäische Kolonien waren. Ungeachtet dessen, dass Südafrika diesem postkolonialen Anspruch nicht immer gerecht wird und oft selbst in seinem Auftreten als Hegemon wahrgenommen wird, macht sich diese antikoloniale Ausrichtung verstärkt in der derzeitigen Tagespolitik Südafrikas bemerkbar. Westliche Akteure bzw. kritische südafrikanische Stimmen werden als „Agenten“ oder „CIA-Agenten“ gebrandmarkt. Zudem stellt sich Südafrika oftmals zumindest symbolisch hinter seine BRICS-Partner, z.B. im Falle der Wirtschaftssanktionen gegen Russland.
Die Kooperation und Freundschaft zwischen Russland und Südafrika sind hierbei historisch bedingt. Die Sowjetunion hatte zu Apartheidszeiten vielen, zum Teil noch heute aktiven ANC-Politikern Exil gewährt, einschließlich Ausbildung und Waffenlieferung. Zuletzt wurde neben einem Atomabkommen auch ein Abkommen zur Ausbildung südafrikanischer Ärzte in Russland unterzeichnet, das den Ärztemangel in Südafrika bekämpfen soll. In Bezug auf Indien ist es vor allem die große indische Diaspora in der Hafenstadt Durban, die für einen regen kulturellen und wirtschaftlichen Austausch mit bedeutenden indischen Investitionen, vor allem im südafrikanischen Technologie- und Mediensektor, sorgt. Die Beziehungen zu Brasilien stagnieren nach der euphorischen Anfangsphase unter Präsident Lula, was zu großen Teilen auch an der innenpolitischen Fokussierung der Regierung Rousseff liegt. Insgesamt geht es Südafrika im Rahmen der BRICS-Mitgliedschaft vor allem um zunehmende außenpolitische Sichtbarkeit und darum, als Fürsprecher eines ganzen Kontinents das Africa Rising-Narrativ prominenter zu vertreten.
Die südafrikanische Demokratie gerät zunehmend nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch unter Druck. Generell wankt die Ausrichtung der südafrikanischen Wirtschaftspolitik derzeit zwischen Vernunft (Soziale Marktwirtschaft) und Ideologie (Verstaatlichung). Hatten in den letzten beiden Jahrzehnten noch die liberalen Prinzipien in Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowie die IBSA-Beziehungen zu Brasilien und Indien eine größere Rolle gespielt, so setzt der regierende ANC seit Beginn der Zuma-Jahre 2009 verstärkt auf staatliche Steuerung und Intervention.
Dennoch stellt die Aufnahme Südafrikas in die Reihe der BRICS-Staaten eine der größten außenpolitischen Erfolge des Landes dar und trägt dazu bei, Südafrikas Ansprüche als Regionalmacht abzusichern. Darüber hinaus dürfen die großen Potenziale des Landes nicht außer Acht gelassen werden: Die derzeitige Bevölkerungsmehrheit der unter 25-Jährigen stellt ein zukünftiges Arbeitskräftepotenzial dar, das relativ zur Gesamtbevölkerung betrachtet so groß ist wie in keinem anderen BRICS-Staat sowie in den kommenden Jahrzehnten zu steigenden Wachstumsraten und Stabilität führen kann. Zudem bieten die prognostizierte Verdoppelung der Bevölkerung Afrikas bis 2050 und die damit einhergehende Urbanisierung das Potenzial für neue Absatzmärkte für Industriegüter aus den BRICS-Staaten. Bleiben diese und weitere Potenziale jedoch unausgeschöpft, besteht die Gefahr eines anstelle des Africa Rising- einsetzenden Africa Falling-Narrativs. Dies würde sich auch negativ auf die Interessen der anderen BRICS-Staaten an Afrika, vor allem von China, auswirken.
5. Russland: Ein ambitioniertes Mitglied im BRICS-Verbund
Claudia Crawford
Auf den ersten Blick ist es verwunderlich, dass sich Russland mit viel Enthusiasmus bei der Etablierung des BRICS-Verbunds auf die Zuordnung als Schwellenland einließ. Denn Russland als Führungsnation der früheren Sowjetunion war einst eine Weltmacht. Sowohl der Lebensstandard und das Bildungsniveau der Bevölkerung als auch die wirtschaftliche und technologische Entwicklung ragen noch immer deutlich gegenüber dem Stand von Schwellenländern heraus. Allerdings erscheint die Basis für das hohe Wirtschaftswachstum in Russland in den 2000er Jahren fragiler als bei den übrigen BRICS-Mitgliedern: Zum einen stagniert die demografische Entwicklung. Russland weist eine alternde Gesellschaft auf, wie Westeuropa auch. Bei allen anderen BRICS-Staaten ist das anders. Die Ausnahme ist China, wobei dort aber allein schon die große Bevölkerung für eine stetige Nachfrage sorgen wird. Die demografische Entwicklung in Russland lässt hingegen sowohl eine ausreichend dynamische Binnennachfrage als auch ein ausreichendes Innovationspotenzial in der Zukunft fraglich erscheinen. Zum anderen war das hohe Wachstum vor allem den rasant steigenden Rohstoffpreisen in diesem Zeitraum zu verdanken und nicht einer besonders dynamischen und wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft. Diese enormen Mehreinnahmen wurden jedoch nicht dazu genutzt, die Wirtschaft zu diversifizieren und somit die Einnahmenstruktur dauerhaft zu verbreitern. Damit ist die russische Volkswirtschaft in einem höheren Maße als die der anderen vier BRICS-Mitglieder von den Weltmarktpreisen abhängig. Die derzeitigen Ölpreise stellen aufgrund der geringen Diversifizierung für Russland daher ein besonders großes Problem dar.
Russische Rückkehr auf die Weltbühne und Gegenmachtbildung
Auf den zweiten Blick gibt es sehr wohl Gründe für die politische Führung in Russland, sich bewusst mit dem BRICS-Verbund zu identifizieren. Schon aus Imagegründen ist es sinnvoll, einer Ländergruppe anzugehören, der international viel Potenzial zugeschrieben wird. Dabei ist diese Zuschreibung nicht nur gegenüber der internationalen Gemeinschaft von Bedeutung, sondern auch innenpolitisch wichtig. Ein positives Bild im Ausland hilft, die eigene Bevölkerung vom Erfolg der eigenen Politik zu überzeugen. Präsident Putin hat zudem früh erkannt, dass sich dieses Bündnis der sonst sehr heterogenen BRICS-Mitglieder dafür nutzen lässt, sich der wahrgenommenen Dominanz der westlichen Welt zu widersetzen.
Die BRICS-Staaten haben gute Argumente auf ihrer Seite, die die Dominanz des Westens zu belegen scheinen. Sie stellen 40 Prozent der Weltbevölkerung. Gemeinsam machen sie heute mehr als 20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung aus. Die BRICS-Staaten sind demgegenüber aber nicht adäquat in den globalen Finanzinstitutionen wie Weltbank und IWF repräsentiert. Hier fordern sie Veränderungen der Stimmgewichte. Bisherige Schritte, die in den letzten Jahren diesbezüglich unternommen wurden, gehen zwar in die richtige Richtung, stellen aber die Regionalmächte noch nicht zufrieden.
Für Russland und seine Außenpolitik wiegt besonders schwer, dass es nach dem Zerfall der Sowjetunion einen enormen Bedeutungsverlust hinnehmen musste. Zwar behielt das Land als Rechtsnachfolger der UdSSR den ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, aber häufig kam dieser politisch nicht zum Tragen. Ebenso war die große wirtschaftliche Schwäche unter Präsident Boris Jelzin in den 1990er Jahren prägend und wurde als Demütigung empfunden, auch wenn der Westen für diese schwierige wirtschaftliche Situation nicht verantwortlich war. Erhoffte Schuldenerlasse wurden durch den Westen allerdings nicht erteilt, die liberale Regierung unter Michail Kassjanow (von Mai 2000 bis Februar 2004) fühlte sich im Stich gelassen.
Der Amtsantritt Wladimir Putins als russischer Präsident fiel zusammen mit einem ungeahnten Anstieg des Ölpreises. Dies gab dem neuen Präsidenten größere Spielräume als sie sein Vorgänger Boris Jelzin je hatte. Nicht nur, dass die Rückzahlung der Schulden möglich wurde. Es konnten sogar die Sozialleistungen ausgeweitet werden. Zudem führte eine kluge Finanzpolitik zur Schaffung von Nachhaltigkeitsfonds, von denen Russland in den heutigen Krisenzeiten zehrt. Erst diese Entwicklung schuf die Voraussetzungen für die zunehmende Stärke Russlands und schließlich auch für die Zuordnung zu den aufstrebenden BRICS-Regionalmächten.
Putin ist seit Beginn seiner Präsidentschaft entschlossen, Russland zurück auf die Weltbühne zu führen. Wo immer möglich, unterstreicht er den Anspruch seines Landes, ein eigener Pol in einer multipolaren Welt zu sein. Neben der BRICS-Mitgliedschaft erfüllt diese Funktion vor allem das noch junge Integrationsprojekt der Eurasischen Wirtschaftsunion. Als politisches Projekt vom russischen Präsidenten vorangetrieben, weichen die nichtrussischen Mitgliedsländer einer Politisierung der Wirtschaftsunion jedoch aus und betonen die rein wirtschaftliche Natur dieses Zusammenschlusses. Dies kommt zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, dass sie die Lebensmittelsanktionen Russlands gegenüber dem Westen im Zuge der Ukrainekrise nicht mittragen.
Obwohl die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion – ebenso wie im BRICS-Verbund – nicht zu einer Koalitionsbildung führen dürfte, verhalten sich die nichtrussischen Mitglieder außenpolitisch dennoch auffallend passiv. Dies ist etwa bei der russischen Annexion der Krim der Fall, welche die anderen Mitglieder nicht verurteilen, aber auch nicht anerkennen. Beide Integrationsformate scheinen also zu einer für Russland vorteilhaften „Neutralisierung“ der anderen Partner zu führen.
Vertiefung der Beziehungen zu China
Der BRICS-Verbund ist für Russland ein Integrationsprojekt, das noch mehr als die Eurasische Wirtschaftsunion zeigen soll, dass Russland einen anerkannten Platz in der Weltgemeinschaft einnimmt und auf globaler Ebene mitspielt. Die Beziehungen zu China spielen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, da mit China bereits eine langjährige (wenngleich nicht unproblematische) Zusammenarbeit existiert. China hat Europa als wichtigsten Wirtschaftspartner Russlands abgelöst. Die Tatsache, dass beide Staaten Vetomächte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sind und dem westlichen Gesellschaftsmodell distanziert gegenüberstehen, schafft zudem eine größere politische Verbundenheit und lässt zumindest derzeit die ebenfalls bestehende Rivalität zwischen beiden Ländern in den Hintergrund treten. Es gibt sie natürlich weiterhin: Besonders mit dem OBOR-Projekt macht China sein Interesse an Zentralasien deutlich – einer Region, die Russland aufgrund der gemeinsamen Sowjetzeit als seine natürliche Einflusszone betrachtet. Mit seiner beeindruckenden Wirtschaftsdynamik und dem zunehmenden Ausbau seiner technologischen Fähigkeiten hat China Russland jedoch bereits hinter sich gelassen.
China erhofft sich von Russland vor allem die Stillung seines Energiehungers. Ob Moskau daraus Kapital schlagen kann, ist indes nicht sicher. Nach einem halben Jahr der Hinwendung zu China haben sich viele russische Unternehmen enttäuscht abgewendet und ein starkes Interesse geäußert, die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Westen (vor allem auch mit Deutschland) wieder zu verstärken: wegen der größeren Verlässlichkeit und der besseren Qualität der Produkte. Öffentlich hält man jedoch an der Orientierung nach Osten fest. Jede Seite zieht ihren Nutzen aus der derzeitigen Hinwendung zueinander, wobei jedoch auch Beobachtern in Moskau klar ist, dass auf längere Sicht Russland den Wettlauf mit China verlieren wird. Aber die Alternativen für Russland auf der Weltbühne sind begrenzt.
Das kommt in besonderer Weise in den letzten zwei Jahren zum Tragen, in denen sich Russlands Verhältnis zum Westen dramatisch verschlechtert hat. Als Reaktion auf die Annexion der Krim im März 2014 belegten die USA und die EU Russland mit Sanktionen, die auf Personen der russischen Führungsriege, Banken, Dual-Use-Produkte und Hightech-Bereiche der Ölwirtschaft zielen. Daraufhin führte Russland umgekehrt diesen Ländern gegenüber Einfuhrverbote für viele Lebensmittel ein, was die wirtschaftlichen Verbindungen zum Westen weiter schwächte. Seit 2014 wurden seitens des Westens darüber hinaus auch die meisten Dialogforen und Gesprächsplattformen eingestellt. Russland musste die G8 verlassen, der NATO-Russland-Rat stellte seine Arbeit ein, Deutschland sagte die deutsch-russischen Regierungskonsultationen ab und die Parlamentarische Versammlung des Europarats entzog der russischen Delegation ihr Stimmrecht. Russland warf vor diesem Hintergrund den USA und der EU vor, es aus der europäischen Sicherheitsarchitektur herauszudrängen und auch international isolieren zu wollen. Der BRICS-Verbund hat so als alternatives geopolitisches Forum an Wert noch gewonnen.
Die BRICS-Gruppe als alternative Plattform ohne den Westen
Eine aktive Rolle Russlands innerhalb der Gruppe soll deshalb nicht zuletzt belegen, dass Russland international nicht isoliert werden kann. Besonders zu spüren war dies auf dem BRICS-Gipfel in Ufa im Juli 2015. Auf der Internetpräsenz der russischen BRICS-Präsidentschaft hieß es beispielsweise, dass Russland an einer Stärkung der Kooperation unter den Mitgliedstaaten und an der Entwicklung neuer Kooperationsmechanismen interessiert sei. Zeitgleich mit dem Gipfel nahm die NDB BRICS ihre Arbeit auf, die vor allem Infrastrukturprojekte in ihren Ländern fördern soll. Russland hatte die Schaffung der Bank dabei sehr unterstützt. Es ist jedoch nicht ersichtlich, wie langfristig das BRICS-Engagement Moskaus tatsächlich angelegt ist und welcher konkreten Integrationsvision es folgt.
Präsident Putin nutzte das genannte Gipfeltreffen vor allem innenpolitisch. Die Anwesenheit der ausländischen Staatsgäste wurde medial stark wahrgenommen und sollte die Stärke Russlands und seine Unabhängigkeit vom Westen unterstreichen. Die Schwierigkeit für die russische politische Elite besteht allerdings darin, dass solche Medienbilder nicht sehr langlebig sind und vor allem von der Realität des Alltags schnell überlagert werden. Diese gestaltet sich für die Bevölkerung seit Mitte 2013 zunehmend schwierig. Dafür sind in erster Linie nicht die Wirtschaftssanktionen verantwortlich, sondern der fallende Ölpreis in einer gering diversifizierten Volkswirtschaft und der damit einhergehende Rubelverfall. Die Zahl der Menschen, die in die Armut abrutschen, wächst schnell. Während 2013 15,5 Millionen Russen (10,8 Prozent) unter der Armutsgrenze lebten, waren es Ende 2015 bereits 19,2 Millionen (13,4 Prozent). Russland hatte sich vor diesem Hintergrund im BRICS-Bündnis mehr Solidarität von China erhofft.
Die wirtschaftliche Schwäche Russlands bekommt dabei nicht nur die russische Bevölkerung zu spüren, sie wird auch vom Ausland wahrgenommen. Damit ist Russland in Gefahr, hinter seine eigenen weltpolitischen Ansprüche zurückzufallen. Denn wenn der Wille zur Macht nicht auch durch eine starke Wirtschaftsleistung untermauert werden kann, ist die russische „Rückkehr auf die Weltbühne“ gefährdet. Das gilt natürlich auch für Russlands Rolle innerhalb des BRICS-Verbunds: Denn je schwächer Russland ist, und damit ist zu einem großen Teil seine Wirtschaftskraft gemeint, umso weniger Gestaltungskraft kommt ihm im Verbund zu.
6. China: Zugpferd unter ungleichen Partnern
Thomas Awe / Tim Wenniges
Chinas Aufstieg zu einer regionalen und globalen Macht wurde lange Zeit medial eher am Rande behandelt. Vielmehr lag der Fokus der internationalen Wahrnehmung Chinas auf den erstaunlichen ökonomischen Wachstumsraten, die das Land Jahr für Jahr produzierte. Zunächst auf internationaler Ebene vorsichtig agierend und dabei bemüht, den wohlwollenden und friedlichen Charakter des chinesischen Aufstiegs zu zeigen (peaceful rise), manifestierte sich mit Beginn des neuen Jahrtausends aber zugleich ein zunehmendes Streben Pekings nach mehr Mitsprache in internationalen Organisationen. In diesem Zusammenhang ergab sich auch die Möglichkeit einer strategischen Zusammenarbeit mit aufstrebenden Mächten, die China recht schnell vor allem in der BRIC- bzw. BRICS-Gruppe erkannte.
Dieser „Club aufstrebender Regionalmächte“ lag dabei insbesondere im Blickfeld Chinas, wenn es darum ging, Bündnisse zu schmieden, mit deren Hilfe Pekings Interessen wirksamer in multilaterale Verhandlungen eingebracht werden konnten. Getrieben von der Vision, der von den USA dominierten hegemonialen Struktur der internationalen Beziehungen ein Gegengewicht entgegenzusetzen, hat sich die Volksrepublik dabei nach und nach als Sprachrohr der Entwicklungsländer hervorgetan und zieht zunehmend auch die Fäden unter den BRICS-Staaten. Mit 85 Prozent Anteil am Handelsvolumen innerhalb der Gruppe, einer zunehmenden going out-Strategie chinesischer Unternehmen und der auch dadurch bedingten größeren Interessen an globalen Ordnungsfragen ist die VR China prägender Akteur im BRICS-Verbund. Dem stehen aber auch konkrete geopolitische Streitfragen mit Russland und Indien gegenüber, weswegen eine zu dominante Rolle Chinas unter den anderen BRICS-Ländern auch Skepsis hervorruft.
Diese Motivation zeigt sich im Moment sehr deutlich an Chinas geopolitischen Initiativen rund um die OBOR-Strategie, der für deren Finanzierung vorgesehenen Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), der NDB BRICS und der starken Rolle Chinas in den G20.
Chinas Wirtschaft im Wandel
Nachdem die Volksrepublik im vergangenen Jahrzehnt noch mit spektakulären Wachstumszahlen von bis zu knapp 15 Prozent für Schlagzeilen sorgte, hat sich die chinesische Wirtschaft in den letzten Jahren hin zur sogenannten „neuen Normalität“ entwickelt und bei etwa sechs bis acht Prozent jährlichem Wachstum eingependelt. Durch den Boom der frühen 2000er Jahre schaffte man es, Millionen von Menschen aus der absoluten Armut zu befreien und das Land, gemessen an der Größe seiner Volkswirtschaft, an die Spitze der Weltgemeinschaft zu katapultieren – 2010 verdrängte China Japan, ungeachtet des Pro-Kopf-Einkommens, als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Doch das rasante Wachstum brachte seine Schattenseiten mit sich: Abgesehen von immer deutlicher ausgeprägten Disparitäten innerhalb des Landes (starkes Stadt-Land-Gefälle) litt vor allem die Umwelt unter dem kaum nachhaltigen Wirtschaftskonzept. Immerhin wurde dieses Problem inzwischen erkannt und die „grüne Entwicklung“ als Teil der nationalen Entwicklungsstrategie deklariert. Um von der umweltschädlichen, arbeitsintensiven und exportgetriebenen Wirtschaftsstruktur wegzukommen, versucht die Regierung zurzeit, ein moderates ökonomisches Wachstum durch eine Stärkung des Binnenkonsums und des Dienstleistungssektors zu erreichen. Ob dies allerdings wie vorgesehen im Laufe des aktuellen Fünfjahresplanes (2016 bis 2020) umsetzbar sein wird, ist fraglich. Vor allem die fragile Situation an den chinesischen Aktienmärkten könnte die Wirtschaftslage des Landes ins Wanken bringen. Wie schnell dies gehen kann, zeigte sich, als die Börsen in Shanghai und Shenzhen 2015 innerhalb nur eines Monats um bis zu 30 Prozent einbrachen und Millionen von Privatanlegern in eine finanzielle Krise stürzten. Nachdem die Staatsführung in den Jahren zuvor die Bevölkerung dazu animiert hatte, ihr Geld in Aktien anzulegen und die Kurse entsprechend in die Höhe getrieben wurden, sorgte ein neuer Erlass der Börsenaufsicht zur Regulierung von Aktienankäufen auf Pump im Juni 2015 dafür, dass unzählige Kleinanleger ihre Anteile verkauften. Weltweit riss der Börsencrash Aktienkurse in den Keller und übte durch den Abzug vieler internationaler Investoren aus dem asiatischen Raum sowie eine Schwächung des Renminbi insbesondere auf bereits wirtschaftlich angeschlagene Schwellenländer – darunter auch einige BRICS-Staaten – enormen Druck aus.
Das BRICS-Projekt als Testfeld für Chinas globale Gestaltungsambitionen?
Abgesehen von einer besseren wirtschaftlichen Zusammenarbeit und stärker vernetzten Handels-politik zwischen den Mitgliedsländern, die durch die regelmäßigen BRICS-Gipfel und eine Reihe von ständigen Arbeitsgruppen erreicht werden sollen, hat die Volksrepublik den Verbund jedoch auch zur Erreichung ihrer geopolitischen Ziele genutzt. Das auf internationaler Ebene langsame Vorantasten Pekings an eine globale Führungsrolle wurde vor allem im Rahmen des BRICS-Verbunds getestet: In Form von Forderungen nach einer stärkeren Regulierung der globalen Finanzarchitektur (2009), vehementen Bemühungen, den Internationalen Währungsfonds zu entsprechenden Quoten- und governance-Reformen zu bewegen, oder der Koordinierung in der Eurokrise 2012. Damals schickte man sich an, ein entsprechendes Rettungspaket des IWF zu schnüren, bei dem die BRICS-Staaten allein 70 Milliarden US-Dollar beisteuerten (Anteil Chinas: 43 Milliarden US-Dollar). Es lassen sich also einige Beispiele finden, die ein entschiedenes, koordiniertes Vorgehen unter Führung der BRICS-Länder aufzeigen. Als „Anwälte des globalen Südens“ setzen sich China und der Verbund auch die Aufgabe, für die Belange der Entwicklungsländer einzutreten, die sich beispielsweise bei der Frage der „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung“ im Kampf gegen den Klimawandel zeigt, mit der die historische Verantwortung der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern betont wird. Dass die Mitglieder des Verbundes von ihrer internen Verfasstheit, durch ihre Einbettung in regionale und überregionale Machtverhältnisse sowie in Bezug auf ihre Gestaltungsmacht in der internationalen Politik allerdings völlig unterschiedliche Voraussetzungen mit sich bringen, ist offensichtlich. Die Gestaltungsmacht des BRICS-Verbundes ist genau dann am größten, wenn sich dahinter ein entsprechend wichtiges Anliegen Chinas befindet. Konkret wird dies am Beispiel der Internationalisierung des Renminbi, bei der China mit der Aufnahme des chinesischen „Volksgeldes“ in den Währungskorb des IWF 2015 ein erster Teilerfolg gelang.
Stärker als je zuvor definiert sich die Volksrepublik – gerade in der Auseinandersetzung mit den USA – als Vertreter des globalen Südens. Vor diesem Hintergrund ist auch die Rolle des BRICS-Verbunds zu betrachten. China nutzt diese Plattform vor allem im Hinblick auf deren globale Ausstrahlungsfähigkeit zur Beschaffung von Mehrheiten in Debatten und Abstimmungen in internationalen Organisationen.
Der BRICS-Verbund – zentraler Bestandteil der chinesischen Außenpolitik?
In offiziellen Stellungnahmen der chinesischen Regierung oder den staatlich kontrollierten Medien sind kaum kritische Töne gegenüber dem Verbund zu hören. Dies liegt vor allem daran, dass die Volksrepublik selbst der entscheidende Treiber hinter den jüngsten Initiativen (z.B. NDB BRICS sowie Sonderrücklage in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar) ist. Spätestens seit der Bekanntgabe des OBOR-Projekts 2013 sowie der Gründung der AIIB 2014 hat Chinas Interesse an der BRICS-Gruppe jedoch deutlich abgenommen.
Besonders im Vergleich zu Pekings Rolle in den G20 sowie in regionalen Bündnissen wie der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC), der sicherheitspolitisch orientierten SCO und der ASEAN+3 ist der Verbund der fünf Regionalmächte in den letzten Jahren ins Hintertreffen geraten. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen ist Chinas Rolle im selbstinitiierten OBOR-Projekt sowie in der AIIB noch zentraler und vor allem prestigeträchtiger als die im BRICS-Verbund, zum anderen konzentriert sich die Volksrepublik lieber auf regionale Institutionen, in denen gleich mehrere Nachbarländer vertreten sind, als auf ein Bündnis, welches eine große geografische Distanz zwischen den meisten Mitgliedstaaten aufweist. Dabei geht es der Pekinger Führung vor allem darum, ein stabiles und für China positives Umfeld zu schaffen. Zudem sind alle anderen BRICS-Staaten, genau wie China selbst, Mitglied in der ebenfalls auf wirtschaftliche Entwicklung konzentrierten G20. Da die Volksrepublik in diesem Jahr den Vorsitz dieser Gruppe innehat, wird deren Bedeutung für Peking auch im Hinblick auf die Themensetzung und Berücksichtigung der internationalen Entwicklungsagenda im Sinne Pekings auch weiter zunehmen. Das hohe Interesse an den thematischen Schwerpunkten Deutschlands, das den G20-Vorsitz im kommenden Jahr übernehmen wird, lässt erkennen, wie wichtig Peking dabei die Vorbereitung und Aushandlung einer erfolgsversprechenden Agenda für das Gipfeltreffen in Hangzhou im September 2016 ist.
Im Gegensatz dazu stehen die ökonomischen Schwächen der BRICS-Staaten Russland und Brasilien, aber auch Südafrika, welches im vergangenen Jahr ein Wachstum von unter einem Prozent aufwies (Mangel an diversifizierten Wirtschaftswachstumsmodellen), die internationale Isolierung Russlands (Krimkrise, Verfall des Ölpreises) sowie das politische Chaos in Brasilien und in kleinerem Maße auch in Südafrika (gesellschaftliche Frustration mit dysfunktionaler Staatlichkeit) der Wiedererlangung einer größeren Bedeutung des Verbunds im Wege.
Insgesamt ist aber ersichtlich, dass der Erfolg des BRICS-Verbundes und dessen strategischer Ausbau maßgeblich von der Initiative Pekings abhängen und dabei die Stärken der informellen, auf geringen Kosten beruhenden Absprache innerhalb der Plattform im Vordergrund stehen. Damit lassen sich aufgrund der wachsenden globalen Vernetzung Pekings gemeinsame Interessen erfolgversprechend auf die Agenda bringen. Hierbei werden auch in Zukunft vereinzelt Initiativen der BRICS-Gruppe zu sehen sein, nämlich dann, wenn sich aus der ungleichen Partnerschaft erfolgversprechende Ergebnisse erwarten lassen. Trotz der seit 2015 in Shanghai ansässigen NDB BRICS und einem Finanzierungsaufkommen, das dem der AIIB gleicht, ist im Moment jedoch nicht absehbar, dass der BRICS-Verbund wieder stärker in den Fokus des chinesischen Interesses rücken wird. Auch die Herausbildung einer darüber hinaus reichenden gemeinsamen BRICS-Identität, wie es früher die G5 oder nun die G7 veranschaulichen, ist nicht zu erwarten. Dafür sind die BRICS-Mitgliedsländer in ihrer Struktur und regionalen Ordnungsrolle zu verschieden. Auch unterminieren die divergierenden Interessen und bilateralen Konfliktpunkte der Mitglieder weitaus größere Entfaltungsmöglichkeiten.
7. Fazit: Strukturelle Probleme bleiben, die chinesische Übermacht ebenso
Christian E. Rieck
Das BRICS-Projekt ist ein neuartiges Integrationsformat zwischen großen nichtwestlichen Regionalmächten, die weder territorial zusammenhängen noch eine politisch-ideologische Affinität zueinander aufweisen. Die globale Aufmerksamkeit, die das Format auch 15 Jahre nach seiner Gründung genießt, verdeckt, dass die Machtpotenziale der Gruppe – ebenso wie deren Blockaden – weiter auf der nationalen Ebene liegen. Das nichtwestliche Aufstiegsnarrativ hat sich in der Wirtschaftskrise der BRICS-Staaten jedenfalls als wenig belastbar erwiesen.
Wie stellt sich die wirtschaftliche Entwicklung des jeweiligen BRICS-Mitgliedstaates dar?
Trotz der aktuellen wirtschaftlichen Eintrübung in fast allen Mitgliedstaaten bleibt der BRICS-Verbund ein Zusammenschluss ehrgeiziger Regionalmächte, die alle für sich betrachtet beträchtliche Ressourcen und (meist regionalen) Einfluss besitzen. Die Krise in den Einzelstaaten hat unterschiedliche Gründe, und doch bleibt der Befund, dass der geopolitische Reformehrgeiz der Gruppe keine innenpolitischen Pendants besitzt. Der entsprechende Investmentfonds von Goldman Sachs wurde mittlerweile geschlossen, was die gesunkene Attraktivität als Investitionsstandort noch unterstreicht.
Mit dem Verlust der ökonomischen Vorbildfunktion wird auch ein Rückgang der Mobilisierungsfähigkeit der BRICS-Staaten im globalen Süden einhergehen. Denn die symbolische Macht des Verbundes in den internationalen Beziehungen hängt stark vom perzipierten Erfolg seiner Mitglieder ab. Auffällig ist bei alledem, wie sehr das wirtschaftlich dynamische China in dieser Gruppe einen besonders ehrgeizigen und erfolgreichen Part spielt.
Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt obendrein, wie sehr eine dynamische Volkswirtschaft auch in einer „postwestlichen Welt“ eine außenpolitische Ressource erster Güte ist. Die dadurch ver-stärkte Machtverschiebung innerhalb des Verbunds zugunsten Chinas stellt ein kaum lösbares Strukturproblem des BRICS-Formats dar.
Welche konkreten Hoffnungen und Ziele verbinden die Mitglieder mit dem BRICS-Projekt?
Eine Mitgliedschaft im BRICS-Verbund hat wenige Kosten und zahlreiche Vorteile: Zunächst einmal verschafft der Verbund als Plattform seinen Mitgliedern internationale Sichtbarkeit und damit Prestige, das sie für ihre eigenen Verhandlungen auf globaler und regionaler Ebene nutzbar machen können. Darüber hinaus erhöht eine Mitgliedschaft auch deren Blockademacht gegenüber anderen, stärker etablierten oder mächtigeren Akteuren in internationalen Verhandlungsformaten. Die Flexibilität des Verbundes erlaubt auch eine Strategie der Risikominimierung, indem eine parallele Beteiligung an westlich geprägten Organisationen weiterhin möglich bleibt (hedging, forum shopping).
Strukturelle Probleme im Verbund bleiben jedoch bestehen: Zwar haben sich alle BRICS-Staaten um den Verbund in verschiedenen Handlungsfeldern verdient gemacht, so etwa Russland bei der Institutionalisierung der Gruppe ab 2009, Brasilien bei den Themen Klimawandel und Armutsbekämpfung oder China beim Thema Entwicklungsbank und Finanzsektor. Doch diese individuellen Beiträge lassen sich wegen der großen Differenzen zwischen den BRICS-Staaten im Hinblick auf Wirtschaftskraft, politisches System, Entwicklungsstand, außenpolitische Orientierung und klassische Machtressourcen kaum in ein kohärentes Ganzes überführen.
Solange es den Mitgliedern an einer gemeinsamen geopolitischen Vision für den BRICS-Verbund mangelt, wird auch dieser selbst weit hinter den Hoffnungen zurückbleiben, die manche seiner Mitglieder einst mit seiner Gründung verbanden. Zu einem tragfähigen nicht- oder gar antiwestlichen Gegenentwurf zur gegenwärtigen Weltordnung wird der Verbund nicht heranreifen: Moskaus Streben nach antiwestlicher Gegenmachtbildung und dem indischen Selbstverständnis als antiimperialistischer Sprechernation stehen in Brasília und – zumindest bis vor Kurzem – auch in Pretoria prowestliche Interessen entgegen, die eher für eine Neutralität gegenüber dem Westen und seinen globalen Strukturen plädieren.
Zu heterogen sind also die Interessenprofile seiner Mitglieder auf regionaler wie auf globaler Ebene wie auch deren Ausstattung mit außenpolitischen Machtressourcen. Oder anders gewendet: Für einen klaren Konsens über die Ausrichtung der BRICS-Plattform ist die chinesische Präponderanz im Verbund zu ausgeprägt, denn sie hält die anderen Partner auf Distanz. Dennoch bleibt eine Mitgliedschaft für China weiter grundsätzlich von Interesse (Abb. 1).
Quelle: Eigene Zusammenfassung des Autors.
Die BRICS-Staaten werden es immer schwerer haben, Gefolgschaft aus dem globalen Süden zu organisieren, je mehr sich ihre Interessenprofile in den Bereichen Handel, Klima, Energie und Sicherheit von denen der Entwicklungsländer entfernen bzw. sich denen der etablierten Großmächte annähern und sie somit selbst zu Status quo-Mächten reifen. Es wird also keinen globalen „Beijing Consensus“ geben (können). Das bedeutet zwar nicht, dass der BRICS-Verbund vor dem Ende stünde, doch die Interessendivergenzen zwischen den Mitgliedern werden diesen auch in Zukunft weiter lähmen, so dass er auch auf lange Sicht nicht mehr sein wird als die Summe seiner Einzelteile.
Das Ende der Utopien ist gekommen. Doch die vielfältigen Versuche, die Integration im Verbund voranzutreiben, zeigen, dass die BRICS-Staaten weiter an einer selektiven und pragmatischen Zusammenarbeit untereinander interessiert sind. Diese politikfeldorientierte Allianzenbildung kann aber lediglich der selektiven Gegenmachtbildung dienen. Nach dem Ende der Schwellenlandeuphorie der Jahrtausendwende wird offenbar, wie schwierig die Transformation von Blockierern zu Gestaltern der Global Governancenoch immer ist. Eine „G7 der Regionalmächte“ reift so nicht heran, doch in den Mühen der Ebene der pragmatischen, technischen Zusammenarbeit kann und wird der BRICS-Verbund zweifellos noch wachsen.
Welche Rolle spielt für die Mitgliedstaaten im Verbund die Nähe zu China?
Zur Erwartungskonkurrenz zwischen den BRICS-Mitgliedern gehört auch die Definition der Rolle des Verbunds im Binnenverhältnis zu China als größter Macht in der Gruppe. Es mag vermessen erscheinen, dass die kleineren BRICS-Partner hoffen, durch ihren privilegierten Zugang zu China Einfluss auf Pekings Politikformulierung nehmen zu können. Den Verbund im Umkehrschluss aber als chinesischen „Selbstbedienungsladen“ zu begreifen, griffe zu kurz: Er würde die Dynamiken der Intra-BRICS-Kooperation verkennen.
Ein gewichtiges Argument für die Beteiligung am BRICS-Verbund (gerade in der aktuellen Krise) bleibt die Nähe der Mitglieder zu China und Indien, den kommenden geoökonomischen und geopolitischen Supermächten: China ist schon heute einer der wichtigsten Handelspartner für alle BRICS-Staaten. Eine gemeinsame Mitgliedschaft führt hier zu einem besseren Verständnis der chinesischen Interessen und Visionen (beispielsweise im Bereich Entwicklung), aber auch zu möglichen Vorteilen im direkten Verhältnis mit China. Als BRICS-Mitglied fällt es leichter, sich an diese neuen Realitäten anzupassen, ohne jedoch in allen Fällen dem chinesischen Beispiel folgen zu müssen (so beispielsweise im Bereich Internet Governance). Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie geschickt China die BRICS-Plattform für seine eigenen globalen Ziele zu nutzen versteht. Für China überwiegen die wirtschaftlichen und geopolitischen Vorteile einer BRICS-Mitgliedschaft – sie erscheinen gar ausgeprägter als im Falle der anderen Mitglieder.
Wird China das BRICS-Projekt weiter unterstützen, auch wenn sich Pekings außenpolitische Prioritäten auf ein anderes Format (z.B. OBOR) richten sollten? Ja, denn die technische Zusammenarbeit unterhalb der Ebene der Staats- und Regierungschefs weist darauf hin, dass die Kooperation auf gemeinsamen, zumindest technischen Interessen fußt (z.B. bei der Standardsetzung). Das bedeutet jedoch nicht, dass es eine geopolitische Übereinkunft gäbe – oder gar eine echte „BRICS-Identität“ jenseits der eloquenten Gipfeldokumente.
Anders als es die BRICS-Gipfel suggerieren, erschöpft sich die Kooperation der Mitglieder nicht in großen Deklarationen und Strategien, die an die Weltöffentlichkeit gerichtet sind: Eine ganze Reihe von Arbeitsgruppen ist innerhalb des Verbundes gegründet worden, die sich vor allem mit Themenfeldern der technischen Zusammenarbeit beschäftigen und sowohl weitere Integration vorbereiten (insbesondere im Wirtschaftsbereich) als auch dem politischen Lernen untereinander dienen sollen (in Politikfeldern wie der Armutsbekämpfung und dem Umweltschutz). Darüber hinaus existieren BRICS-Begleitprozesse (track II integration), etwa im Bereich Think Tanks und Städtepartnerschaften. Diese sogenannte Intra-BRICS-Kooperation verleiht dem Integrationsformat schon heute eine gewisse Tiefe und einen Horizont, der über die aktuelle Krise hinausreicht. Dass das BRICS-Format in seinen Mitgliedstaaten innenpolitisch nicht nachhaltig unter Druck geraten ist, weist ebenfalls darauf hin, dass mit der Intra-BRICS-Kooperation konkrete Hoffnungen auf (wirtschaftliche) Integration verbunden werden.
All das – neben den geringen Kosten der Teilnahme – sollten den Verbund in die Lage versetzen, auch einen außenpolitischen Prioritätenwechsel in Peking zu überleben. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die andauernde Wirtschafts- und Strukturkrise einzelner BRICS-Staaten deren Relevanz für die Global Governance weiter negativ beeinträchtigen wird.
Christian E. Rieck ist Referent für Entwicklungspolitik und Menschenrechte im Team Politikdialog und Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dr. Lars Peter Schmidt † ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Indien.
Mark Alexander Friedrich ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Indien.
Dr. Jan Woischnik ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.
Alexandra Steinmeyer ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.
Tilmann Feltes ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Südafrika.
Claudia Crawford ist Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Russland.
Thomas Awe ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Peking, China.
Tim Wenniges ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Shanghai, China.
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