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Hauke-Christian Dittrich, dpa, picture alliance.

Auslandsinformationen

Ellinor Zeino über die Lehren aus Afghanistan und die Zukunft deutscher Auslandseinsätze

„Krisen gehen nicht einfach so weg“

Dr. Ellinor Zeino war für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Afghanistan tätig und ist derzeit Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestags zur Aufarbeitung des gescheiterten Einsatzes am Hindukusch. Im Interview mit den Auslandsinformationen verrät sie, woran die Afghanistan-Mission krankte, was aus ihr für zukünftige Kriseneinsätze zu lernen ist und warum Deutschland in der Außenpolitik häufig viel will, am Ende aber wenig erreicht.

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Auslandsinformationen (Ai): Es waren dramatische Szenen, die im Sommer 2021 um die Welt gingen, als die internationalen Truppen überstürzt aus Afghanistan abzogen und die Taliban nach rund 20 Jahren wieder die Macht im Land übernahmen. Deutsche Politiker sprachen von einem „Desaster“, einem „Debakel“, einer „Tragödie“. Sie waren damals Leiterin des Afghanistan-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. Wie haben Sie diese Tage in Erinnerung?

Ellinor Zeino: Es war eine unglaublich intensive Zeit. Man hat irgendwann gemerkt, dass die Uhr tickt und es nur noch um Wochen und Tage geht. Als die USA dann gesagt haben, sie verlegen ihre Botschaft in den Flughafen, da wussten wir: Es geht jetzt nur noch um Stunden. Ich hatte Afghanistan in der Woche vorher verlassen und befand mich in Taschkent. Meine größte Sorge war die Sicherheit unserer Mitarbeiter, die ja noch in Kabul waren. Dabei befürchtete ich weniger, dass die Taliban uns angreifen, weil sie dazu keinen Grund mehr hatten, sondern dass die Lage insgesamt eskaliert, also Kabul belagert wird und wir bürgerkriegsähnliche Zustände erleben. Es waren ja praktisch alle bewaffneten Konfliktparteien in Kabul – da kann ein Funke zur Eskalation führen.

Ai: Und wie ging es dann weiter?

Zeino: Der Tag der Machtübernahme kommt mir im Nachhinein surreal vor. Es war ein Sonntag, in Afghanistan ist das der erste Tag der Woche. Wir hatten daher unser Team-Meeting, ich war digital zugeschaltet. Mitten im Meeting kam dann die Nachricht, dass die Taliban in die Stadt einziehen. Innerhalb von ein paar Stunden nahmen sie die Stadt ein, ohne auf Widerstand zu treffen, aber es brachen Panik und Verkehrschaos aus. Wir haben entschieden, dass es sicherer ist, wenn unser Team zunächst im Büro bleibt.

Für uns gab es nur ein Ziel: Unsere Mitarbeiter in Sicherheit bringen. Allerdings war schnell klar: Über das Ortskräfteverfahren, also die Flieger der Bundesregierung, wird niemand von uns rauskommen. Wir haben also an einer Landevakuierung gearbeitet. Die Taliban kontrollierten bereits alle Grenzübergänge und die landesweiten Straßensperren. Wir mussten daher das Einverständnis der Taliban sowie eine Aufnahmegenehmigung aus Pakistan einholen. Was uns zusätzlich Sorgen bereitete, war unsere Route durch die Provinz Nangarhar, eine Hochburg des regionalen Ablegers des sogenannten Islamischen Staats. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte noch Ortkräfte in Kabul und war in einer ähnlichen Lage. Wir beschlossen daher eine gemeinsame Landevakuierung. Unsere afghanischen Mitarbeiter standen am 31. August an der Grenze zu Pakistan. Dort haben wir sie dann zusammen mit unseren Kollegen von der Ebert-Stiftung abgeholt. Am 1. September verließ der letzte Flieger der US-Truppen Afghanistan. Wir waren praktisch vor der großen Fluchtwelle draußen.

Ai: Nun wird der Afghanistan-Einsatz, der so überstürzt endete, seit Sommer 2022 im Rahmen einer Enquete-Kommission des Bundestags aufgearbeitet. Sie sind als Afghanistan-Expertin Mitglied dieser Kommission. Was ist eigentlich deren konkreter Auftrag?

Zeino: Zunächst muss man wissen, dass es parallel auch noch einen rein parlamentarischen Untersuchungsausschuss gibt, mit dem man uns nicht verwechseln darf. Dieser schaut nur auf die letzten zwei Jahre des Afghanistan-Einsatzes und die Evakuierung, wir dagegen blicken auf die gesamten 20 Jahre. Wir analysieren die militärische und zivile Seite des Einsatzes. Das heißt, wir betrachten das Agieren und die Zusammenarbeit aller deutschen Ressorts, die in Afghanistan eine Rolle spielten – das Verteidigungsministerium, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung, das Auswärtige Amt, das Innenministerium. Unser Auftrag ist es, Lehren für künftige Auslands- und Kriseneinsätze zu ziehen. In diesem Sinne sind wir keine reine „Afghanistan-Kommission“, sondern vor allem eine Kommission für Kriseneinsätze im Ausland.

Ai: Wie setzt sich die Kommission zusammen?

Zeino: Wir sind 22 Mitglieder: 11 Bundestagsabgeordnete und 11 von den Bundestagsfraktionen nominierte Sachverständige. Letztgenannte sind Experten mit unterschiedlichsten Hintergründen, darunter ehemalige Bundeswehrgeneräle, Wissenschaftler, Regionalexperten sowie ehemalige zivile Einsatzkräfte. Diese verschiedenen Erfahrungshorizonte sind wichtig, denn ein Einsatz wie in Afghanistan ist so komplex, dass eine einzelne Person gar nicht alle Bereiche abdecken kann. In der Kommission arbeiten wir im Konsensprinzip. Wir versuchen, uns auf gemeinsame Positionen zu einigen. Meistens gelingt das – wenn nicht, können Mitglieder oder Fraktionen auch Sondervoten abgeben. Es wird sehr konzentriert und sachorientiert gearbeitet. Der Umgang war vor allem für die Afghanistan-Aufarbeitung sehr kollegial. In der zweiten Phase erarbeiten wir jetzt politische Handlungsempfehlungen für Deutschlands künftige Auslandseinsätze.

Ai: Der vollständige Name der Kommission lautet: „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“. Was meinen wir eigentlich, wenn wir von einem „vernetzten Engagement“ oder „vernetzten Ansatz“ sprechen?

Zeino: Unser Grundverständnis ist, dass man Krisen holistisch verstehen muss. Der zentrale Gedanke ist: Entwicklung ist nur möglich, wenn Sicherheit und Stabilität garantiert sind. Und Sicherheit und Stabilität sind nur nachhaltig, wenn es eine gewisse wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung gibt. Krisen sind komplex, und für ihre Bewältigung braucht es umfassende Ansätze, die zivile und militärische Elemente zusammendenken. Deshalb sind verschiedene Akteure und politische Ressorts beteiligt, die „vernetzt“ agieren müssen. Unsere Aufgabe in der Enquete-Kommission ist es, zu bewerten, wie in Zukunft unser vernetztes Handeln nach außen – also Stabilisierung, Terrorismusbekämpfung, Diplomatie, Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe – wirkungsvoller funktionieren und ineinandergreifen muss.

Ai: In der Kommission sitzen Vertreter verschiedenster politischer Couleur. Jene der AfD etwa haben kritisiert, schon der Arbeitsauftrag der Kommission sei in dem Sinne fehlgeleitet, dass nur die Frage des „Wie“ künftiger deutscher Auslandseinsätze gestellt werde, nicht aber die Frage des „Ob“. Was würden Sie diesem Einwand entgegnen?

Zeino: Zunächst einmal: Das ist natürlich eine legitime Frage. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass es bei uns ein Kommissionsmitglied gibt, das kategorisch sagt, dass es nie wieder Auslands- oder Kriseneinsätze geben sollte. Ich denke, es ist jedem bewusst, dass sich Deutschland angesichts der vielfältigen Krisen nicht pauschal entziehen kann.

Klar ist aber auch: Mit der Rückkehr des Krieges nach Europa und der „Zeitenwende“ steht die Landes- und Bündnisverteidigung wieder viel stärker im Fokus. Das hat Folgen für die Diskussion über die Ausgestaltung möglicher Kriseneinsätze. Solch eine umfassende Staatsbildungs- und Stabilisierungsmission wie jene in Afghanistan wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Da gibt es keinerlei Verlangen – in Deutschland nicht, aber auch nicht international.

Man darf sich allerdings auch nichts vormachen. Krisen gehen nicht einfach so weg. Auch Entwicklungen in vermeintlich fernen Gegenden können unsere Sicherheit und unseren Wohlstand betreffen. Weltregionen, die wir nie im Blick hatten, können urplötzlich für unsere Sicherheit relevant werden. Der Trend aktueller Kriseneinsätze geht jedoch voraussichtlich in Richtung kleinerer Stabilisierungseinsätze, vergleichbar beispielsweise mit der derzeitigen Mission im Golf von Aden zum Schutz der internationalen Schifffahrt vor Angriffen der islamistischen Huthi-Miliz. Solche Missionen haben ein klar umrissenes Ziel. Die umfangreichen und sehr ambitionierten Multi-Ziel-Einsätze wie in Afghanistan sind dagegen in der Vergangenheit weitgehend gescheitert.

Ai: Die Enquete-Kommission hat sich bereits intensiv mit dem Afghanistan-Einsatz beschäftigt. Was sind bislang die zentralen Erkenntnisse? Woran haperte es bei dem Einsatz besonders?

Zeino: Ein großes strukturelles Problem war sicher die fehlende lokale Eigenverantwortung. Lokale Eigenverantwortung ist das Fundament, damit ein Auslandseinsatz erfolgreich sein kann. Sonst sehen wir – wie in Afghanistan –, dass wir eine Hilfswirtschaft und einen abhängigen Staat aufbauen, der an dem Tag zusammenbricht, an dem die internationale Unterstützung endet. Afghanistan war quasi vollständig von ausländischer Unterstützung abhängig. Die afghanischen Sicherheitskräfte – also Militär und Polizei – waren zu fast 100 Prozent fremdfinanziert und zudem auf die militärischen Fähigkeiten der USA angewiesen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie innerhalb von ein paar Wochen niedergerannt werden und praktisch widerstandslos aufgeben, wenn die Unterstützung wegfällt.

Eine wichtige Frage ist vor diesem Hintergrund zudem jene nach der Absorptionsfähigkeit von internationalen Geldern, also wie sinnvoll ausländische Mittel vor Ort tatsächlich verwendet werden. Mehr Geld ist nicht gleich mehr Wirkung. Im Gegenteil: Ab einem gewissen Punkt kann mehr Geld sogar kontraproduktive Wirkungen haben. In Afghanistan entstand nicht nur eine ungesunde Geber-Nehmer-Beziehung. Auch Korruption nahm dramatisch zu. Günstlingswirtschaft und Zweckentfremdung von öffentlichen Mitteln fanden in allen staatlichen Einrichtungen statt. Unter der letzten afghanischen Regierung gab es zudem Kapitalflucht ins Ausland im ganz großen Stil. Wir hatten es versäumt, dem einen Riegel vorzuschieben und Rechenschaftspflicht von der afghanischen Regierung einzufordern – was wiederum zu einem Problem für deren Glaubwürdigkeit wurde. Es entstand zunehmend eine Entfremdung zwischen der Regierung und der breiten Bevölkerung. Am Ende ist das System innerhalb weniger Wochen kollabiert.

Hinzu kommen viele weitere strukturelle Schwächen des Auslandseinsatzes: von fehlender Zielklarheit, schlechtem Erwartungsmanagement und deutschen Ressortegoismen bis hin zu einer unzureichenden internationalen Koordinierung sowie einer kollektiven Verantwortungsdiffusion unter den zahlreichen Gebern und Bündnispartnern.

Ai: Welche Probleme gab es auf der operativen Ebene?

Zeino: Eine Schwäche bei Auslandseinsätzen sehe ich in den kurzen Entsendezeiten von Einsatzkräften, etwa bei der Bundeswehr, aber auch in anderen Bereichen. Kurze Entsendezeiten führen schlicht dazu, dass man nie in der lokalen Realität ankommt. Außerdem bildeten sich voneinander abgeschottete Lebenswelten und regelrechte Informationsblasen, in denen sich die Beteiligten gegenseitig aufeinander bezogen und bestärkten. Ich nenne das „Informations-Inzest“. Das Ergebnis sind unzureichende Lageeinschätzungen, die der Komplexität der Realität nicht gerecht werden.

Dazu muss man allerdings ergänzen, dass es durchaus auch treffende Lagebilder und Informationen gab, die von unseren Einsatzkräften weitergeleitet wurden. Teilweise wurden diese – aus politischen Gründen – nach oben hin beschönigt. In den letzten zwei Jahren des Verhandlungsprozesses wurden – etwa aus Gründen vermeintlicher Solidarität mit der afghanischen Regierung – die Stabilität der Regierung und die Widerstandskraft der afghanischen Sicherheitskräfte überbewertet. Kurz vor der Machtübernahme durch die Taliban wurde zudem die Dringlichkeit der Situation in der Außenkommunikation heruntergespielt, um Panik zu verhindern. Die Kommunikation von Lagebildern war auf allen Seiten hoch politisiert und sensibel.

Ai: Gibt es denn auch Dinge, wo Sie sagen würden, die sind gut gelaufen?

Zeino: Projekte, die gut funktioniert haben, waren solche, die lokal verwurzelt waren, also Projekte, bei denen sich ausländische Organisationen möglichst im Hintergrund gehalten haben und nicht mit fremden Wertvorstellungen reingegrätscht sind. Das führt uns zu dem in Deutschland oft zu hörenden Stichwort der „werteorientierten Außenpolitik“. Ja: Werte sind gut und für die Grundierung von Außen- und Entwicklungspolitik wichtig. Der Knackpunkt ist, wie man es macht und welches Rollenverständnis man mitbringt. Wollen wir andere Gesellschaften belehren und unsere eigenen Vorstellungen exportieren? Oder kann ein gegenseitiger, respektvoller Austausch entstehen? Zudem besteht das Risiko, dass wir bestimmte Zielgruppen wie Frauen und Minderheiten umso stärker gefährden, je mehr wir sie in den Fokus stellen und das auch öffentlich propagieren. Die explizite Förderung dieser Gruppen kann dann vor Ort als Ausdruck einer „ausländischen Agenda“ betrachtet werden.

Das heißt: Es geht um das Wie – Projekte müssen den Menschen vor Ort einen spürbaren Mehrwert bieten und auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnitten sein. Sie sollten kultursensibel sein, also den konkreten Kontext berücksichtigen. Und sie sollten Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellen. Projekte, die so angelegt waren, waren erfolgreich; einige wenige gibt es noch heute unter den Taliban. Ein Beispiel sind Entwicklungsprojekte, die die lokalen Stammesvertreter vor Ort mit eingebunden haben, etwa im Bereich Ressourcenmanagement und dem Umgang mit dem Klimawandel in der Landwirtschaft.

Ai: Wenn wir uns einmal ins Jahr 2001 unmittelbar vor den Beginn des Afghanistan-Einsatzes zurückversetzen: Mit dem Wissen von heute – was würde man anders machen?

Zeino: Das ist natürlich spekulativ. Klar ist, dass der Einsatz mit viel zu hohen Erwartungen, viel zu ambitionierten Zielen und viel zu großen Versprechungen verbunden war. Im Nachhinein wäre es vermutlich besser gewesen, sich auf den Kampf gegen Al-Qaida zu konzentrieren, statt ein derart ambitioniertes Staatbildungsprojekt ohne definierten Endzustand zu verfolgen. Und in einem Punkt gab es zudem in den öffentlichen Anhörungen in der Enquete-Kommission einen relativ breiten Konsens: Ein Kardinalfehler sei es gewesen, die Taliban nach dem Sturz ihres Regimes 2001 nicht von Beginn an in einen Verhandlungs- oder Friedensprozess miteinbezogen zu haben. Man dachte, sie seien besiegt und politisch irrelevant. Als die Taliban sich bereits ab 2003 als Aufstandsbewegung neu formieren konnten, hat man lange ihre Machtbasis und ihren Rückhalt in der Bevölkerung unterschätzt.

Ai: Nach allem, was Sie durch die Arbeit in der Kommission und Ihre Zeit in Afghanistan mitbekommen haben: Wo sehen Sie in Deutschland die größten Schwächen, wenn es um Themen wie Krisenreaktion oder strategische Vorausschau geht?

Zeino: Wir haben uns zu lange hinter den USA versteckt beziehungsweise unsere Sicherheit an die USA ausgelagert. In der Rolle der Zivilmacht hat sich Deutschland gut gefallen. Verantwortung für die robusteren Aufgaben wollten wir ungern übernehmen.

Das hat auch dazu geführt, dass es in unserem Land eklatant an strategischem Denken fehlt, an einer strategischen Kultur. Geopolitische Studiengänge führen ein Nischendasein in der deutschen Wissenschaftslandschaft. Kleine Länder wie Norwegen oder Schweden haben führende Thinktanks in diesem Bereich, Deutschland hinkt deutlich hinterher. Mit der „Zeitenwende“ hat sich das zumindest dahingehend verbessert, dass verteidigungspolitische Themen in der medialen Öffentlichkeit prominenter diskutiert werden als vorher. Dennoch habe ich den Eindruck, dass der Handlungsdruck noch nicht überall angekommen ist. Es ist noch nicht angekommen, dass wir jetzt strukturell etwas tun müssen, um krisenfest zu werden. Das liegt sicher an politisch-ideologischen Prägungen, die Menschen nicht so einfach hinter sich lassen und die sich in einer reflexartigen Skepsis gegenüber der Übernahme militärischer Verantwortung äußern. Schon das Wort „kriegstüchtig“ ist ja bei vielen umstritten. Und natürlich ist es auch einfach so, dass Änderungen dauern, weil demokratische Prozesse ihre Zeit brauchen.

Ai: Andere Länder – auch Demokratien – sind da allerdings deutlich weiter…

Zeino: Ja, es gibt viele Länder, die viel pragmatischer an Außen- und Sicherheitspolitik herangehen. Da sind sicher die USA weit vorn. Sie haben etwa einen niedrigschwelligen, politischen Gesprächsfaden mit den Taliban zum Thema Terror- und Drogenbekämpfung aufgenommen. Die Nachbarländer sind – auch wenn sie mit der aktuellen Situation nicht glücklich sind – mit dem neuen Regime in Kontakt, um Fragen zur Grenzsicherheit, zu Handel und Warenverkehr oder zu Wasser- und Ressourcenmanagement zu klären. Deutschland hingegen verweigert bereits politische Gespräche und Kontakte auf der Arbeitsebene. Interessengeleitete Politik – nicht zu verwechseln mit Machtpolitik – ist bei uns immer stärker ins Abseits geraten. Wir haben inzwischen eine sehr moralisierende Sicht auf Politik. Da müssen wir wieder die richtige Balance finden. Bei uns fehlt manchmal das Denken vom Ergebnis her. Also zu sagen: Das ist das Ergebnis, das angestrebt wird, und für dessen Erreichung finden wir einen Weg. Ich wünsche mir einen realistischen Blick auf Außenpolitik. Vermutlich bedarf es einer noch größeren Krise, bis man ins Handeln kommt.

Ai: Das klingt alles eher skeptisch und wenig mutmachend. Gibt es denn etwas, wo Sie sagen würden: Das ist außen- und entwicklungspolitisch eine echte Stärke Deutschlands?

Zeino: Wir waren international lange ein hochgeschätzter Partner. Wir haben nicht die gleiche koloniale Vergangenheit wie andere Staaten, uns wurden keine versteckten Interessen unterstellt. Aber ich sehe seit vielen Jahren, dass dieses positive Bild bröckelt – nicht erst seit dem aktuellen Gaza-Krieg. Wir stoßen in der Entwicklungszusammenarbeit seit Jahren zunehmend auf Widerstände. Was ich immer deutlicher feststelle, ist, dass die Länder, in denen wir tätig sind, sich immer weniger vom Westen insgesamt sagen lassen, wie sie leben, wie sie sich entwickeln sollen. Sie wollen sich nicht reinreden lassen. Und der Unterschied zu früher ist: Sie haben heute eine viel größere Auswahl an Partnern, ob im Sicherheitsbereich oder der Entwicklungszusammenarbeit – natürlich China, aber auch Staaten wie Indien, Katar oder die Türkei. Die „Gebermärkte“ sind heute viel diverser. Umso notwendiger wäre eine pragmatischere Herangehensweise unsererseits.

Ai: Sie haben vorhin gesagt, in Deutschland fehle es an strategischer Kultur, es fehle das Denken vom Ergebnis her. Außerdem dauere vieles sehr lange. Eine institutionelle Veränderung, die immer wieder vorgeschlagen wird, um die deutsche Außenpolitik stringenter und handlungsschneller zu machen, ist die Einrichtung eines sogenannten Nationalen Sicherheitsrats. Auch in der Enquete-Kommission wurde darüber gesprochen. Was halten Sie von einem solchen Rat? Und was wäre seine genaue Funktion?

Zeino: Die Idee dahinter ist richtig. Wir brauchen ein Gremium mit einem ausreichenden Mandat, das die Zusammenarbeit der verschiedenen Ministerien im Lichte einer übergeordneten Strategie koordiniert, Lageanalysen und Szenarien entwickelt und Entscheidungsvorlagen erarbeitet. Es wäre sinnvoll, ein solches Gremium, in dem ähnlich wie in der Enquete-Kommission auch unabhängige Experten vertreten sein sollten, im Kanzleramt anzusiedeln. Wichtig ist, dass ein Nationaler Sicherheitsrat unabhängig von der Tagespolitik agieren kann. Die Bewertungen müssen die Mitglieder im Rat ohne politischen Druck treffen können. Lageanalysen und Krisenszenarien müssen losgelöst von politischer Ideologie und Weltanschauung sein. Viele Länder haben einen Sicherheitsrat. Ich sehe aktuell bei uns – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der vielen Ressorts und des hiesigen Föderalismus – das Problem, dass Informationen nicht gebündelt an einer Stelle zusammenfließen. Da könnte ein Nationaler Sicherheitsrat helfen, aber er wird nicht alle Probleme lösen.

Ai: Stichwort Informationen und Lageeinschätzung: Welche Rolle können politische Stiftungen in diesem Zusammenhang spielen?

Zeino: Ich denke, die politischen Stiftungen haben eine Art Seismo- grafenfunktion, die nicht nur in Krisenländern immer wichtiger wird, um Veränderungen wahrzunehmen. Wir haben den Vorteil, dass wir weltweit präsent sind und gleichzeitig viel niedrigschwelliger Kontakte in die jeweiligen Gesellschaften pflegen können als unsere diplomatischen Vertretungen. Durch unsere Ortskräfte sind wir tief im lokalen Alltag verwurzelt, wir erreichen Menschen auch dort, wo Diplomaten nicht mehr hinkommen. In politischen Krisenzeiten oder schwierigen Einsatzländern können die politischen Stiftungen vielleicht noch eine Brücke bauen, Kontakte halten und vor allem die lokalen Perspektiven und Belange zurück nach Berlin spiegeln. Das ist eine wesentliche Funktion, die auch in der Enquete-Kommission anerkannt wird.

Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.

 


 

Dr. Ellinor Zeino ist Leiterin des Auslandsbüros Türkei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Von September 2018 bis August 2021 leitete sie das Auslandsbüro Afghanistan. Seit September 2022 ist sie Mitglied der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ des Deutschen Bundestags.

 


 

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