Ausgabe: 3/2019
Seit etwa einem halben Jahr geht ein Gespenst um in Europa. Das Gespenst der Strategischen Autonomie. Nicht unähnlich dem Terminus von der Europäischen Armee oder der Armee der Europäer kreisen um den Begriff Strategische Autonomie viele Missverständnisse und Mythen. Daran sind die beteiligten Akteure nicht ganz unschuldig. Wenn der französische Staatspräsident Emmanuel Macron den Begriff als die Notwendigkeit und Fähigkeit der Europäischen Union, sich zukünftig gegen Russland, China, aber möglicherweise auch die USA verteidigen zu können, definiert, suggeriert dies, dass es bei der Strategischen Autonomie darum geht, Europa als militärischen Akteur auf kommende Auseinandersetzungen vorzubereiten. Wenn man sich dann aber die militärischen Realitäten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union genauer anschaut, wird recht schnell klar, dass es um diese Frage nicht gehen kann. Denn wenn die EU ein militärischer Akteur werden wollte, der zukünftig in der Lage ist, einen hypothetischen Angriff von sechs russischen Panzerdivisionen gegen einen EU-Mitgliedstaat unter alleinigem Rückgriff auf eigene militärische Fähigkeiten zurückzuschlagen, dann muss man feststellen, dass Strategische Autonomie ein Fernziel ist. Und zwar in so weiter Ferne, dass die an der heutigen EU-Politik Beteiligten dies nicht mehr erleben würden. Zu groß sind die Fähigkeitslücken der europäischen Staaten, als dass sie kurz- oder mittelfristig geschlossen werden könnten. Wenn Strategische Autonomie also im militärischen Sinne zu verstehen ist, dann sollten wir uns schleunigst von dieser Vorstellung verabschieden, da die Enttäuschungen, die der Versuch, sie herzustellen, zwangsweise nach sich ziehen wird, der Idee der europäischen Integration im Ganzen und der Integration im verteidigungspolitischen Bereich nur Schaden zufügen können. Mithin sollte man Strategische Autonomie auch nicht vor dem Hintergrund der Debatte um die Steigerung der verteidigungspolitischen Fähigkeiten der EU betrachten.
Wenn das Konzept Strategische Autonomie aber nicht militärisch zu verstehen ist, wie dann? Hierzu ist es zunächst notwendig, den internationalen Kontext, in dem sich die Europäische Union bewegt und bewegen wird, näher zu betrachten.
Das 21. Jahrhundert ist für die Europäische Union von drei großen Entwicklungen gekennzeichnet. Zunächst einmal die Erosion des internationalen liberalen Systems. Durch die USA, aber auch vor allem durch Russland und China werden die Institutionen, die Normen, die Prinzipien und die Praktiken, unter denen sich internationale Politik nach 1945 weitgehend vollzog, zunehmend in Frage gestellt oder gar ad absurdum geführt. In ihrer großen Mehrzahl haben Mitgliedstaaten der Europäischen Union aber ein Interesse daran, dass zumindest einige dieser Prinzipien, Praktiken, Regeln und Normen auch für sie untereinander und in ihrem Außenverhältnis weiterhin Bestand haben.
Zweitens befinden wir uns in einer Phase der heraufziehenden neuen Bipolarität. Die Struktur des internationalen Systems ist bereits heute von einer globalen Konkurrenz zwischen China und den USA bestimmt. Aus amerikanischer Perspektive – und dies ist Konsens zwischen Republikanern und Demokraten – ist China die Herausforderung Nummer Eins für die Vereinigten Staaten. Aus chinesischer Perspektive, und dies hat der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas deutlich gemacht, sind die USA das größte Problem dieses Landes bei seinem Aufstieg zur globalen Macht. Diese neue Bipolarität wird nicht der alten, die zwischen den USA und der UdSSR existierte, gleichen. Sie wird weniger militärisch und nuklearstrategisch (obwohl dies auch Faktoren sind), sondern eher ökonomisch und technologisch dominiert sein. Aber für die EU stellt sich dennoch die Frage, wie sie sich als Staatengemeinschaft in dieser neuen Polarität verhalten soll und wie sie sich vor den negativen Auswirkungen eben dieser schützen kann.
Und drittens werden die Europäer viele der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, die aus ihrem südlichen und östlichen Vorfeld entspringen (Staatszerfall, Migration, Folgen der Klimakrise etc.), zukünftig nur mit Rückgriff auf eigene ökonomische, militärische und politische Fähigkeiten bewältigen können, da die USA als dauerhafter Partner der Europäer nicht mehr zur Verfügung stehen werden.
Betrachtet man somit diese Herausforderungen, dann wird schnell deutlich, dass die große Gefahr der Zukunft für die Europäische Politik darin besteht, im 21. Jahrhundert entweder mangels politischer, ökonomischer und militärischer Gestaltungsmacht an den Rand des internationalen Geschehens gedrückt zu werden, oder aber zwischen einer der beiden Supermächte der heraufziehenden neuen Weltordnung wählen zu müssen. Beides ist nicht im Interesse Europas. Es gilt für die EU somit, um es mit Kant auszudrücken, nicht erneut in eine „selbstverschuldete Unmündigkeit“ zu geraten, so wie dies nach Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall war.
Gestalten kann man in der internationalen Politik aber nur dann, wenn man Machtmittel besitzt und die politische Fähigkeit, gegen äußeren Druck standzuhalten. Beides bedingt einander. Je mächtiger man ist, desto mehr kann man seinen gestaltenden Einfluss wirksam machen und den Anforderungen, die an einen von außen gestellt werden, widerstehen.
Es geht also letzten Endes darum, die politische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Europäischen Union im 21. Jahrhundert aufrechtzuerhalten bzw. ihr überhaupt erst Geltung zu verschaffen.
Und hier spielt Strategische Autonomie eine zentrale Rolle. Denn wenn die EU im internationalen System des 21. Jahrhunderts nicht nur Anhängsel einer der beiden neuen „Supermächte“ sein will, sich nicht nur vor den Auswirkungen der neuen Bipolarität schützen möchte, sondern auch einen eigenen Gestaltungs- und Handlungsraum in dieser neuen Weltordnung haben und entfalten will, dann bedarf es der Fähigkeiten, Prozesse, Instrumente und Mechanismen, um diesen Anspruch zu realisieren.
Strategische Autonomie bedeutet unter diesen zukünftigen Gegebenheiten, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten auch weiterhin die „Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung“ (Richard Löwenthal) besitzen und sichern müssen, die es ihnen ermöglicht, so zu leben und Politik zu betreiben, wie es in den Nationalstaaten dem politischen und gesellschaftlichen Willen entspricht. „Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung“ heißt auf die EU übertragen die Sicherung der fortgesetzten inneren Selbstbestimmung. Sehr vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass die innere und äußere Form, Gestaltung und Zukunft der Europäischen Union zuvorderst von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Berücksichtigung ihrer nationalen und europäischen Interessen bestimmt wird und nicht von äußeren Zwängen. Neudeutsch könnte man sagen, dass es bei dem Konzept Strategischer Autonomie um europäische Resilienz geht.
Es bedeutet aber auch nicht, dass Strategische Autonomie, wie gerade definiert, zu einer Abkopplung von internationalen Entwicklungen führt. Das Gegenteil wäre der Fall. Ein strategisch autonomes Europa wäre besser und bewusster in der Lage, auf internationale Entwicklungen zu reagieren und externe Heraus- und Anforderungen anzunehmen. Denn die zu gebenden Antworten würden immer aus dem Selbstbewusstsein resultieren, europäische Antworten auf diese Anforderungen zu geben, und nicht, aus der Schwäche geborene Anpassungen an die Politiken eventueller Schutzmächte oder strategischer Herausforderer vorzunehmen. Mithin zeichnet sich ein politisch verstandenes Konzept von strategischer Autonomie durch einen „defensiven Ehrgeiz“ (Raymond Aron) aus, im 21. Jahrhundert gestaltend in der internationalen Politik mitzuwirken.
Um es zusammenzufassen: Strategische Autonomie bedeutet nicht Autarkie oder Abkopplung, sondern die Herstellung der Fähigkeit, mögliche „negative Auswirkungen“ von existierenden (ökonomischen, politischen und militärischen) Interdependenzen zu den USA, aber auch zu anderen Großmächten besser absorbieren zu können und in der Lage zu sein, die eigene Handlungsautonomie auch unter erschwerten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Im Verhältnis zu der auch im 21. Jahrhundert für Europa so bedeutenden Schutzmacht USA bedeutet die Herstellung Strategischer Autonomie die Voraussetzung für eine „balancierte Partnerschaft“ (Werner Link).
Somit ist Strategische Autonomie zuvorderst als ein politisches Konzept zu verstehen, das die notwendigen militärischen und ökonomischen Mittel braucht, um unterfüttert zu werden, aber ebenfalls den politischen Willen, als Gestaltungsmacht EU im 21. Jahrhundert auch weiterhin eine (mit-)führende Rolle in einigen Bereichen (wie z. B. beim Welthandel oder bei der internationalen Normsetzung) der internationalen Politik zu spielen.
Ohne eine solche Strategische Autonomie würde die EU über kurz oder lang zu einem Spielball zwischen den USA und China werden und à la longue zwischen den beiden Opponenten des internationalen Systems marginalisiert werden. Wenn Europa aber seinen eigenen Anspruch auf Mitgestaltung zukünftig in realpolitischer Währung einlösen möchte, dann wird es an der Herstellung eines gewissen Maßes an Strategischer Autonomie nicht herum kommen. Strategische Autonomie und die daraus resultierende politische Unabhängigkeit der EU ist auch der einzig mögliche Weg, die Reste der liberalen internationalen Ordnung mit ihren Werten, Normen und Regeln für den Umgang der EU-Mitgliedstaaten untereinander, aber vor allem für den Umgang der EU mit ihren externen, demokratischen Partnern (Japan, Australien, Neuseeland und Südkorea, um nur einige zu nennen) aufrechtzuerhalten. Die Alternative dazu wäre, dass die EU in der heraufziehenden Welt des Nullsummenspiels, in der die „Regeln des Dschungels“ (Robert Kagan) gelten, mitmachen muss. Als multinationaler Integrationsverbund europäischer Staaten kann sie aufgrund ihrer inneren Verfasstheit in einer solchen Welt nicht bestehen.
Insofern ist Strategische Autonomie das richtige Leitbild, um die EU auch im 21. Jahrhundert als mächtigen und wirksamen Akteur auf der weltpolitischen Bühne aufrechtzuerhalten. Man sollte nur zukünftig dafür sorgen, dass klarer und deutlicher kommuniziert wird, was unter Strategischer Autonomie zu verstehen ist. Weder die Abkopplung von transatlantischer Sicherheit noch eine übermäßige Aufrüstung zum Zwecke der Verteidigung sollten das Ziel dieses Konzeptes sein. Es geht schlichtweg um die politische Überlebens- und Gestaltungsfähigkeit Europas in der Zukunft. Dazu bedarf es aber des politischen Willens, der ökonomischen und militärischen Fähigkeiten sowie der angemessenen institutionellen Strukturen.
Dr. Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität der Bundeswehr München.
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