Ausgabe: 2/2024
Der afrikanische Ruf nach einer stärkeren Eigenverantwortung und Selbstbestimmung ist auf dem gesamten Kontinent zu vernehmen, sei es in Algier, Accra oder Addis Abeba. Während der Slogan „African solutions for African problems“ bislang hauptsächlich als Aussage formuliert wird, um ausländischen Einfluss in Konflikten einzudämmen, hat die Afrikanische Union (AU) ein konkretes Projekt entwickelt, das Afrika nachhaltig zu Wohlstand führen soll: die afrikanische Freihandelszone AfCFTA (African Continental Free Trade Area).
Als elementarer Baustein der kontinentalen Agenda 2063 sollen innerhalb der nächsten Jahrzehnte nahezu alle afrikanischen Staaten ihre Märkte füreinander öffnen und ein unkomplizierter Austausch von Gütern und Dienstleistungen ermöglicht werden – ein ambitioniertes Unterfangen, das zur weltweit größten Freihandelszone führen würde. Angesichts multipler Krisen und eines bislang schwierigen Verhältnisses zur Rolle multilateraler Organisationen auf dem Kontinent werden allerdings erste Stimmen des Abgesangs auf das Freihandelsabkommen laut. Doch wie steht es wirklich um das Schlüsselprojekt der Afrikanischen Union? Wie könnte die Umsetzung die Zukunft des afrikanischen Kontinents beeinflussen? Und welche Schritte werden getan, um das Ziel zu erreichen?
Von Protektionismus zu Freihandel
Seit Gründung der Afrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (AEC) 1991 haben sich verschiedene Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union und ihrer Vorgängerinstitution für eine stärkere wirtschaftliche Integration auf dem Kontinent eingesetzt. Dieser gilt noch immer als der regional am schlechtesten integrierte der Welt. Gerade für die wirtschaftlich stärkeren Staaten Afrikas war und ist es bis heute noch lukrativer, Handel mit Staaten in Europa, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Asien zu treiben.
Demgegenüber steht der Wunsch nach einer stärkeren afrikanischen Repräsentation in globalen wirtschaftspolitischen Fragen. Nach Verhandlungen in Johannesburg und Kigali beschlossen alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme Eritreas 2018, die AfCFTA zu gründen und ihre Märkte sukzessive füreinander zu öffnen. Bis 2063 sollen bis zu 90 Prozent der Zölle entfallen, wirtschaftlicher Austausch soll Arbeitsplätze schaffen, Armut bekämpft und Afrika zu einem globalen Wirtschaftsmotor werden. Konkret bedeutet dies, dass sich das kumulierte Bruttoinlandsprodukt Afrikas bis auf 3,4 Billionen US-Dollar erhöhen würde, bis 2035 Einkommenssteigerungen um 450 Milliarden US-Dollar möglich wären und bis zu 30 Millionen Bürger des afrikanischen Kontinents aus extremer Armut befreit würden. Allein in der verarbeitenden Industrie könnten bis 2063 16 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Kurzum: Viele Probleme sollen durch das Mammutprojekt AfCFTA bekämpft werden.
Das Freihandelsabkommen und die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents
BewegungsfreiheitDer afrikanische Kontinent wird auf absehbare Zeit der demografisch jüngste bleiben. Bei einem Durchschnittalter von derzeit knapp 19 Jahren und einem Bevölkerungswachstum von 2,4 Prozent jährlich werden dort bis 2050 4,5 Milliarden Menschen leben. Dies birgt sowohl Potenziale als auch Risiken für das wirtschaftliche Wachstum Afrikas.
Derzeit lässt sich beobachten, dass vor allem die wirtschaftlich stärkeren Staaten des Kontinents ein geringeres Bevölkerungswachstum melden und sich so innerhalb der kommenden Jahrzehnte ähnliche Situationen wie in Mitteleuropa einstellen könnten. Dass auch aus diesen Ländern gut ausgebildete Arbeitskräfte in die Wirtschaftsmetropolen der Welt emigrieren und ihre Heimatländer verlassen, ist hinsichtlich der aktuellen „Brain-Drain-vs.-Brain-Gain“-Debatte zwar bedenklich. Es besteht jedoch die Chance, dass eine innerafrikanische Arbeitsmigration dies wieder auffängt.
Das Beispiel der Europäischen Union zeigt, dass eine kontinentale Freihandelszone effektiver funktionieren kann, wenn die Freizügigkeit ihrer Bürger garantiert ist. Auch wenn die Afrikanische Union und die regionalen Wirtschaftsgemeinschaften dies noch nicht garantieren können, sind in einigen Regionen wie der EAC (East African Community) bereits erste Initiativen geschaffen worden, um einen regional traditionell schlecht integrierten Kontinent für die eigenen Bürger zu öffnen. Weitere Initiativen wie die des kenianischen Präsidenten William Ruto, der Anfang 2024 für Kenia als erstes Land der Welt die Visapflicht aufhob, lassen darauf schließen, dass sich trotz wirtschaftlichem Protektionismus derzeit in einigen Staaten eine panafrikanische Stimmung ausbreitet, die über antikoloniale Debatten hinausgeht. Städte wie Nairobi, Kapstadt oder Accra sind bereits regionale Schmelztiegel, die das Potenzial hätten, sich zu afrikanischen Wirtschafts- und Innovationsmetropolen zu entwickeln.
Gleichzeitig sollten Risiken der Personenfreizügigkeit nicht ignoriert werden. Organisierte Kriminalität, Milizen und Terrororganisationen bestimmen leider noch immer die Debatten und auch den Alltag vieler Menschen am Horn von Afrika, in der Sahelzone oder am Golf von Guinea. Das Wiedererstarken der Al-Shabab-Miliz in Somalia und ihre Pläne, im selbst erklärten „somalischen Kernland“, das Teile Kenias, Äthiopiens und Dschibutis umfasst, mithilfe von Waffengewalt und Anschlägen ein Kalifat zu errichten, finanziert durch Schmuggel und Schutzgelderpressung, konterkarieren aktuelle Bestrebungen der EAC, zwischen ihren Mitgliedern die Visapflicht aufzuheben.
Auch abseits sicherheitspolitischer Risiken herrschen gegenüber der Freizügigkeit in einigen Ländern Skepsis und Ablehnung vor, besonders im Norden Afrikas. Auf rassistische und populistische Entgleisungen des tunesischen Präsidenten Kais Saied im Herbst 2022 und Sommer 2023 folgten gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Tunesiern und Migrantengruppen in der Hauptstadt Tunis sowie in der Hafenstadt Sfax. Ähnliche Phänomene ließen sich 2022 in Südafrika beobachten, wo vor allem Staatsbürger Simbabwes und Nigerias Opfer von xenophoben Kampagnen, Brandanschlägen und Verfolgung wurden. Auch Äthiopien – Ausgangs-, Transit- und Zielland verschiedener Migrationsbewegungen – versucht angesichts einer mehr als schwierigen Wirtschaftslage, der Flüchtlingszahlen aus den benachbarten Ländern Eritrea und dem Sudan Herr zu werden.
Diese Beispiele aus Nord- und Ostafrika zeigen, dass derzeit noch eine Menge Arbeit nötig ist, um die positiven Effekte einer Personenfreizügigkeit auch nutzen zu können. Um beispielsweise den bislang noch immer unterdurchschnittlichen innerafrikanischen Handel, der lediglich 15 Prozent des gesamten afrikanischen Handels ausmacht, voranzutreiben, sollten verträgliche Lösungen für die Herausforderungen gefunden werden.
„African solutions for African problems“ – diesem Slogan begegnen Besucher der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba direkt bei der Einreise am internationalen Flughafen. Auch in anderen afrikanischen Großstädten sind solche Parolen entweder als Grafitti verewigt oder werden wie ein Mantra von Spitzenpolitikern bei internationalen Konferenzen vorgetragen.
Die Afrikanische Union hat sich nicht zuletzt durch den Beitritt zur G20 das Ziel gesetzt, global eine stärkere Stimme zu werden, auch um die kontinentalen Herausforderungen strukturierter anzugehen. Die Schaffung einer Freihandelszone zur Stärkung der Resilienz afrikanischer Gesellschaften ist ein wichtiger Schritt, mit dem die AU auch aus der (finanziellen) Abhängigkeit von externen Gebern treten könnte. Eine Afrikanische Union, die Resultate liefert, wird auch für ihre Mitgliedstaaten attraktiver. Damit steigen die Chancen, dass Mitgliedsbeiträge der Staaten zeitig überwiesen werden – was auch die finanzielle Unabhängigkeit fördern würde.
Die Stärkung des Privatsektors und der damit verbundene Ausbruch aus häufig existierender staatlicher Kontrolle über Unternehmen schafft neue Dynamiken und „Ownership“ mit Blick auf das eigene Schicksal. Es erwachsen neue Eliten, die global vernetzt sind und Erfahrungen aus Metropolen wie Singapur, Dubai oder New York in ihre Heimatländer mitbringen. Mit Netzwerken, Ideen und dem nötigen Startkapital ausgestattet, sind es mittlerweile die zweite und dritte Generation, die in die Heimatländer ihrer Eltern oder Großeltern investieren. Dies geschieht bereits, muss jedoch noch weiter aktiv vorangetrieben werden. Dass es in der Afrikanischen Union eine eigene Abteilung zu Diaspora-Fragen gibt, zeigt die Relevanz dieser Akteure für die Zukunft des Kontinents.
Das Interesse, sich für die Zukunft der Herkunftsländer abseits von Rücküberweisungen einzusetzen, ist da, es sind jetzt nur noch die verkrusteten Verwaltungsvorgänge zu durchbrechen – derzeit noch ein schwieriges Unterfangen, welches sowohl von nationaler als auch kontinentaler Seite angegangen werden muss. Kleine, aber bereits wirksame Schritte sind elektronische Visa in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents, die es Unternehmern vereinfachen, innerafrikanisch zu reisen. Das Weltwirtschaftsforum geht in einem Bericht von 2023 davon aus, dass es vor allem junge Entrepreneure afrikanischer Herkunft sein werden, die die Umsetzung der AfCFTA vorantreiben werden. Zudem erlebt der Kontinent seit 2010 auch wieder steigende Industrialisierungsraten – Grundvoraussetzung für Wertschöpfung und wirtschaftliche Diversifizierung.
Allen Herausforderungen geografischer, kultureller oder sprachlicher Natur zum Trotz gibt es verschiedene Initiativen der Afrikanischen Union wie auch von privatwirtschaftlicher Seite, um eine stärkere Vernetzung von privatwirtschaftlichen Akteuren zu erreichen. Die Intra-African Trade Fair zum Beispiel bietet Möglichkeiten, historisch bedingte Grenzen zu überwinden. Ein einfacherer Erfahrungsaustausch und die Möglichkeit, mit niedrigen bürokratischen Hürden grenzübergreifend Handel zu treiben, erscheinen derzeit noch als Utopie, würden aber sowohl den Wohlstand steigern als auch ein Umfeld schaffen, welches auf wirtschaftliche, politische und ökologische Schocks schnell reagieren könnte.
Die Afrikanische Union unter Schirmherrschaft des Kommissars Albert Muchanga hat bereits mehrere Konsultationen und sogenannte High Ranking Panels ins Leben gerufen, um den Privatsektor auf kontinentaler Ebene einzubinden. Gespräche in Nairobi oder Gaborone haben gezeigt, dass vor allem größere Unternehmen eine Möglichkeit der Expansion sehen, sollte der institutionelle Rahmen stimmen.
Wechselseitige Abhängigkeiten als FriedensanreizAuch wenn das sozialdemokratische Prinzip des „Wandels durch Handel“ spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr als nur auf dem Prüfstand steht, herrscht unter Experten auf dem afrikanischen Kontinent Konsens, dass zwischenstaatliche Konflikte durch engere Handelsbeziehungen eingedämmt und die Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch neuer Gewalt reduziert werden können. Aus diesem Grund entstehen zunehmend Initiativen, die sowohl den Privatsektor in friedensbildende Prozesse als auch Konfliktregionen zügig wieder in Handelsnetzwerke einbinden wollen.
Ein gemeinsames Interesse an der friedlichen Nutzung von Handelswegen würde das Risiko kriegerischer Auseinandersetzungen innerhalb von und zwischen Staaten senken. Die Kosten, die bei Ausbruch von Konflikten für die Parteien entstünden, würden bei einer stärkeren regionalen Integration drastisch steigen, sodass Frieden und Sicherheit attraktiver wären, schreibt die Leiterin des African Union Peace Fund, Dagmawit Moges. Auf einem Kontinent, der in den vergangenen Jahren vor allem aufgrund von Putschen, Bürgerkriegen und Krisen Schlagzeilen gemacht hat, ist eine stärkere regionale Integration durch eine kontinentale Handelspolitik eine willkommene Alternative, um gegenseitige Abhängigkeiten zu verstärken.
Der Wille der Afrikanischen Union, Handel als elementaren Bestandteil der Agenda 2063 und als Schlüssel zur Entwicklung des Kontinents zu identifizieren, wird bei einem Blick auf die Strategiepapiere und Artikel der verschiedenen Organe ersichtlich. Es obliegt jetzt den Mitgliedstaaten und den AU-Institutionen, alte Pfadabhängigkeiten im Nexus zwischen Sicherheit und Handel zu durchbrechen und Strategien zu finden, durch die mehr Sicherheit die Handelsbeziehungen positiv beeinflussen kann und die Handelsbeziehungen wiederum zu einer nachhaltigeren Sicherheitsarchitektur in den einzelnen Mitgliedstaaten führen können.
Die Afrikanische Union konnte aufgrund multipler Probleme bislang das Ziel, als eine Einheit wahrgenommen zu werden, nicht erreichen. Zwar konnten einige regionale Wirtschaftsgemeinschaften (RECs) wie die westafrikanische ECOWAS oder die ostafrikanische EAC bereits erste kleinere Erfolgsgeschichten verzeichnen, jedoch ist das Gesamtbild afrikanischer Integration derzeit eher unbefriedigend. Der Personenverkehr ist auf wenige Knotenpunkte ausgerichtet und vor allem die Rückbesinnung auf Strategien der Stärkung nationaler Identitäten verhindert das Ausschöpfen des Potenzials. Eklatant ist die Nord-Süd-Spaltung, die in den vergangenen Jahren zunehmend problematisch geworden ist. Dabei würden gestärkte regionale Wirtschaftsgemeinschaften ein Vehikel bilden, um gewachsene gesellschaftliche und wirtschaftliche Spaltungen zu umgehen. Momentan noch häufig überfordert, werden sie bis zur vollständigen Umsetzung der AfCFTA eine gesteigerte Wichtigkeit erfahren und so auch institutionell gestärkt werden.
Was bremste bislang eine schnellere Umsetzung der AfCFTA?
Auch wenn die Umsetzung des Freihandelsabkommens nach wie vor weit oben auf der Prioritätenliste der Afrikanischen Union steht, lief die Implementierungsphase eher langsam an. Neben globalen Herausforderungen, die eine Umsetzung erschwert haben, tun sich auch strukturelle Probleme auf, welche die Erfolgsaussichten bislang trüben.
Die Nachwehen einer PandemieDie Coronapandemie hat auch den afrikanischen Kontinent stark getroffen. Sie habe die innerafrikanischen wirtschaftlichen Gräben nochmals vertieft, merkt die Analystin Anabel Gonzalez an. Die Umsetzung des Abkommens, bereits hochambitioniert für den Sommer 2020 geplant, musste damals verschoben werden. Darüber hinaus verschob sich der Fokus und die (reduzierten) Gelder von Gebern flossen in andere Bereiche wie Krisenfrüherkennung oder globale Gesundheit. Geschlossene Grenzen, Häfen und Flughäfen schränkten den ohnehin schwach ausgeprägten Handel zwischen afrikanischen Staaten zusätzlich ein.
Die Frage der WettbewerbsfähigkeitFür einen offenen Wettbewerb braucht es eine Vielzahl an Unternehmen, die – angespornt durch Konkurrenz – dem Markt eine Masse an Produkten oder Dienstleistungen zur Verfügung stellen und sich permanent reformieren müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Problematisch ist, dass in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents kaum eine ernsthafte Konkurrenz herrscht. Zu häufig dominieren Staatsunternehmen ganze Sektoren und machen es für private Unternehmen nahezu unmöglich, erfolgreich auf dem Markt Fuß zu fassen. Gleichzeitig sind es vor allem staatliche Unternehmen, die zwar häufig „too big to fail“, aber seit Jahren defizitär sind und staatliche Budgets belasten. Getrieben durch die Angst, dass nationale Prestigeobjekte wie South African Airways an ausländische Investoren verkauft werden könnten, wodurch auch ein Stück nationaler Identität verloren ginge, vermeiden Entscheidungsträger notwendige Richtungswechsel. Gleichzeitig hat die erste Privatisierungswelle in Staaten wie Nigeria gezeigt, dass Liberalisierung um jeden Preis auch kontraproduktiv wirken und Staaten wettbewerbstechnisch schwächen kann. Sowohl die AU als auch die einzelnen Mitgliedstaaten benötigen hier einen vernünftigen Mittelweg, um Märkte zu öffnen, den Privatsektor zu stärken, aber gleichzeitig die Balance zu halten.
Der afrikanische Kontinent – ein geografisches, logistisches und infrastrukturtechnisches DilemmaDass ein Freihandelsabkommen, das eine Fläche von 30 Millionen Quadratkilometern und 54 Länder umfassen soll, kein einfaches Unterfangen darstellt, ist wenig verwunderlich. Auf dem afrikanischen Kontinent besitzen insgesamt 15 Länder keinen Seezugang. In einigen Sahelstaaten sind es teilweise mehr als 2.000 Kilometer bis zum nächsten Hafen, sodass ein Großteil des Handels entweder über Straßen oder per Luftfracht geschehen muss. Darüber hinaus sind die großen Flüsse des afrikanischen Kontinents für den Binnenverkehr kaum geeignet, Wüsten und dichte Wälder tun ein Übriges.
Zwar gilt die schwache transafrikanische Infrastruktur noch als eines der kleineren Hemmnisse, zu vernachlässigen ist sie jedoch nicht. Exemplarisch dafür steht das ambitionierte Hafenprojekt der somalischen Stadt Berbera, das vor allem für Äthiopien, den bevölkerungsreichsten Binnenstaat Afrikas, als Alternative zum Hafen von Dschibuti gilt. Das Hafenprojekt, finanziert von den Vereinigten Arabischen Emiraten und betrieben vom emiratischen Konzern DP World, ist bereits seit längerer Zeit fertiggestellt und die Straße zur somalisch-äthiopischen Grenze ebenso – auf äthiopischer Seite konnte der Straßenbau jedoch auch aufgrund innenpolitischer Probleme bislang nicht erfolgen.
Die schwach ausgebaute Infrastruktur, geografische Herausforderungen sowie hohe Zölle und damit einhergehende Korruption an Grenzübergängen treiben bislang Logistikkosten in die Höhe. Produkte, die von Ost- nach Westafrika gelangen sollen, müssen bislang in den großen Häfen am arabischen Golf umgeschlagen und entweder über den Suezkanal und das Mittelmeer oder um das Kap der Guten Hoffnung verschifft werden. Der Weitertransport in Binnenstaaten ist mit so großen Mühen verbunden, dass Logistikfirmen diesen erst gar nicht anbieten, oder aber mit so hohen Kosten, dass sich dieser Handelszweig kaum lohnt. Dem Economist zufolge wird dies verschärft durch das Paradox, dass Händler häufig keine Logistikunternehmen finden, während die Logistiker sich über zu viel Leerstand beklagen. Grund hierfür sei das Ungleichgewicht im Handelsvolumen – es werde zu viel (vor allem von außerhalb Afrikas) importiert, während gleichzeitig kaum Exporte in die Hafenstädte geliefert würden. Deshalb sei der Markt für Logistikunternehmen kaum lukrativ.
Freihandel zwischen Staatsstreichen und BürgerkriegenNach dem missglückten „Arabischen Frühling“, der 2010/2011 in Nordafrika eingeläutet wurde, dem Erstarken Boko Harams und des sogenannten Islamischen Staats im Sahel und in Westafrika sowie einer beständig unbeständigen politischen und wirtschaftlichen Performance vieler afrikanischer Staaten sollten die 2020er-Jahre eigentlich der Wendepunkt werden und den Kontinent auf Dekaden des Wachstums einstellen. Bislang haben in diesem neuen Jahrzehnt aber vor allem Konflikte und Staatsstreiche den afrikanischen Kontinent und damit auch die Afrikanische Union beschäftigt.
Seit 2020 gab es in Afrika mehr als 15 Putschversuche. Darüber hinaus sind es vor allem inner- und zwischenstaatliche Konflikte, die einen effektiven kontinentalen Handel erschweren. Besonders die Probleme in der Sahelzone, Bindeglied zwischen Nordafrika und Subsahara-Afrika, der Bürgerkrieg in Sudan und die Spannungen am Horn von Afrika bedrohen derzeit nationale Umsetzungsstrategien für die AfCFTA oder blockieren Handelswege. Deshalb schlagen einige Experten, wie ein Mitarbeiter der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Afrika (UNECA) und der nigerianische Professor Adekeye Adebajo, inzwischen Alarm. Das Erreichen der Ziele der AfCFTA sei durch die sicherheitspolitischen Krisen, die vermehrten Staatsstreiche und zwischenstaatlichen Konflikte derzeit äußerst gefährdet.
Was bedeutet die AfCFTA für Europa und Deutschland?
Die Forderung „Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“ ist klar und deutlich formuliert und sollte ernst genommen werden. Die AfCFTA ist ein afrikanisches Projekt, das hauptsächlich der Entwicklung des afrikanischen Kontinents zugutekommen und von Afrikanern getragen werden sollte. Jedoch ist unumstritten, dass der Aufbau einer afrikanischen Freihandelszone auch für Europa und damit für Deutschland nur von Vorteil sein kann.
In den vergangenen Jahren wurde von afrikanischer Seite vermehrt Kritik an europäischen Akteuren und Gebern geäußert. Der Vorwurf: Entwicklungspolitik werde an den Interessen der Empfängerländer vorbei betrieben. Gleichzeitig gab es vor allem auch in Deutschland Diskussionen darüber, ob Entwicklungspolitik nicht deutlich strategischer und an den eigenen Interessen angelehnt stattfinden solle. Die AfCFTA kann als Paradebeispiel dafür dienen, dass die Interessen nicht zwangsläufig divergieren müssen. Dieses Projekt kann im Nexus von Entwicklungs-, Handels- und Außenpolitik eine tragende Rolle spielen.
Eine Handelspolitik aus einem Guss bedeutet auch eine verlässlichere Verhandlungsbasis für europäische Unternehmen. Ein panafrikanischer Markt sorgt für einen verlässlicheren Austausch zwischen afrikanischem und europäischem Mittelstand. Derzeit lohnt es sich für europäische Unternehmen kaum, in Afrika Fuß zu fassen – die verwaltungstechnischen Hürden sind schlichtweg zu hoch. Auf der anderen Seite können sich auch afrikanische Mittelständler bislang selten in Europa etablieren. Viele von ihnen müssen derzeit noch auf bilaterale Abkommen hoffen und leiden, wie beispielsweise in der Kaffeeindustrie, unter den europäischen Richtlinien zu Lieferketten. Dass, um wettbewerbsfähiger zu werden (afrikanische Firmen) und es zu bleiben (europäische Firmen), ein Kompromiss gefunden werden muss, liegt auf der Hand. Eine stärkere wirtschaftliche Integration zwischen der Europäischen Union und der Afrikanischen Union würde deren Entscheidungsträger zwingen, solche Debatten zu führen.
Ein wirtschaftlich prosperierender afrikanischer Kontinent würde zwar die prognostizierten demografischen Entwicklungen nicht verändern, jedoch neue Chancen schaffen. Durch dynamische Arbeitsmärkte und Personenfreizügigkeit wären neue Möglichkeiten geschaffen, reguläre Migration zwischen afrikanischen Ländern zu ermöglichen, irreguläre Migrationsbewegungen innerhalb des Kontinents, aber auch darüber hinaus jedoch einzudämmen.
Der sogenannte vorpolitische Raum existiert bislang wenig auf dem afrikanischen Kontinent. Verbände sind sich ihrer politischen Verantwortung selten bewusst und einen Austausch zwischen Politik und Wirtschaft gibt es nur vereinzelt. Dies ist vor allem problematisch, wenn Mammutprojekte wie Freihandelszonen und Marktöffnungen kaum in Konsultation mit Firmen geschehen. Aus diesem Grund sollte die Entstehung eines aktiven Privatsektors, aber vor allem eines vorpolitischen Raumes gefördert werden, um innovative Lösungen für regionale, kontinentale, aber auch internationale Herausforderungen zu finden. So können gemeinsame Positionen entworfen, die „afrikanische Stimme“ in wirtschaftspolitischen Fragestellungen gestärkt und die neuen Konzepte gegebenenfalls auch als Anstoß für andere Regionen der Welt genutzt werden.
Wie können wir die Implementierung der AfCFTA mitgestalten und was passiert bereits?
Eine Freihandelszone ist immer sowohl von multilateraler als auch von nationaler Seite zu betrachten und Deutschland kann in beiderlei Hinsicht Unterstützung leisten, obgleich ein Großteil der personellen und finanziellen Aufwendungen von den AU-Mitgliedstaaten kommen muss. Auf multilateraler Ebene gilt es, die Afrikanische Union und ihre Organe weiterhin zu unterstützen und ihre Handlungsfähigkeit zu stärken. Hier sollte ein europäischer Ansatz verfolgt werden, um auch im eigenen Interesse Kanäle für zukünftige Verhandlungen zwischen beiden Institutionen zu eröffnen. In Zeiten einer allgemeinen Fragmentierung multilateraler Organeund damit auch von Handelsinstitutionen wie der Welthandelsorganisation ist der Wille der Afrikanischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, zumindest auf handelspolitischer Ebene eine kontinentale Integration voranzutreiben, eine Entwicklung, die unterstützt werden sollte. So kann Europa, aber vor allem Deutschland langfristig eine tragende Rolle spielen und potenzielle neue Partner zur Diversifizierung der eigenen Handelsbeziehungen finden.
Darüber hinaus spielt der afrikanische Kontinent auch in der globalen Systemkonkurrenz eine tragende Rolle. Geo- und handelspolitisch ist Afrika momentan ein Kontinent, der sich sucht und über viele Optionen verfügt. Neben Europa sind es die arabischen Golfstaaten, China und Russland, welche Absatzmärkte, strategische Partnerschaften und Einflussnahme suchen. Sicherheitspolitisch wird Europa auf absehbare Zeit eine untergeordnete Rolle spielen. Handelspolitisch ist es jedoch vor allem Deutschland, das nach wie vor in vielen Ländern und auch bei der Afrikanischen Union hoch angesehen ist. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass das Projekt AfCFTA, obgleich es ein rein afrikanisches ist, viele Parallelen zum Binnenmarkt der Europäischen Union aufweist und Europa und die Bundesrepublik dementsprechend natürliche Partner darstellen. Deshalb sollte ein stärkeres Engagement Europas auch dazu führen, dass die Institution AU noch enger an Europa gebunden wird und – entgegen den bilateralen Beziehungen der afrikanischen Staaten speziell zu Frankreich – die AU selbst eine stärkere Verortung als Partner und Freund der Europäischen Union erfährt.
Vor allem bei großen Infrastrukturprojekten werden weder Deutschland noch die Europäische Union und ihre Firmen in Afrika in Zukunft eine Rolle spielen. Europäische Unternehmen können selten mit Preisen aus dem Nahen Osten, der Türkei oder China konkurrieren und komplizierte Vergabeverfahren lähmen Projekte, die schnell umgesetzt werden müssen. Daher ist es sinnvoll, frühzeitig Partnerschaften mit Akteuren einzugehen, die auf dem afrikanischen Kontinent dominant sind. Hier sind sowohl die Vereinigten Arabischen Emirate zu nennen, die sich mit einem engmaschigen Netz von Häfen an der afrikanischen Ostküste in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Infrastrukturpartner afrikanischer Staaten aufgeschwungen haben, als auch die Türkei, die inzwischen eine wichtige Rolle spielt – durch das gut ausgebaute Streckennetz von Turkish Airlines und Turkish Airlines Cargo sowie durch Angebote, die den Märkten auf dem Kontinent preis-leistungstechnisch mehr entsprechen als jene der Konkurrenz aus Mitteleuropa. Es ist eine kluge Handelsdiplomatie gefragt, um von den Strukturen der Mitbewerber und Partner zu profitieren.
Dass der Aufbau eines Binnenmarktes Zeit benötigt, sollte klar sein. Auch Mitgliedstaaten und deren Privatsektoren, die dem EU-Binnenmarkt erst später beigetreten sind, können und sollten ihre Erfahrungen mit den AU-Mitgliedstaaten teilen und Foren entwickeln, um diese bei Markteintritten zu beraten. So könnten EU-Staaten ohne Kolonialvergangenheit eine aktivere Rolle im Prozess einnehmen und der Vorwurf von „Neokolonialismus durch die Hintertür“ würde entfallen.
Auf bilateraler Ebene kann Deutschland einen Beitrag leisten, nationale AfCFTA-Komitees zu beraten und die Mitgliedstaaten dahingehend vorzubereiten, ihre Zölle sukzessive abzubauen. Da die Bundesrepublik über die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit bereits intensiv die Implementierung der AfCFTA institutionell begleitet und global gesehen der größte Geber ist, sollten andere Akteure, vor allem Thinktanks und Verbände, aber auch Firmen die afrikanischen Partner mit Beratungen und Diskussionsplattformen unterstützen.
Vom deutschen Mittelstand eine aktive Unterstützung in Form von Investitionen zu erwarten, scheint aktuell wenig realistisch. Da der deutsche Privatsektor grundsätzlich als wenig risikobereit gilt, müssten wahrscheinlich alle oben genannten Probleme ausgeräumt sein, bevor es zu größeren Investitionen käme. Nichtsdestotrotz kann vor allem der Mittelstand als beratender Akteur dienen und gegebenenfalls mit Joint Ventures in einem geschützten Rahmen die wirtschaftliche Brücke zwischen Afrika und Deutschland schlagen.
Worauf man hoffen kann
Die AfCFTA ist und bleibt ein Flaggschiffprojekt der Afrikanischen Union und bestimmt in großem Maße über Erfolg oder Misserfolg der Agenda 2063. Dieser Tragweite sind sich die Entscheidungsträger in Addis Abeba und den Mitgliedstaaten bewusst. Derzeit steht man noch am Anfang eines Projektes, welches vor allem durch die Coronapandemie zurückgeworfen wurde, jedoch durch die sogenannte Guided Trade Initiative erste Erfolge aufweisen konnte. Mit der Idee, in ausgewählten Ländern und in ausgewählten Sektoren Zölle abzubauen, hat die AU durchaus bewiesen, dass sie trotz gelegentlicher Behäbigkeit auch handlungsfähig sein kann. Eine kürzlich erschienene Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Äthiopien zeigt, dass die Initiative sich nach einem holprigen Start immer mehr zu einem Erfolgsprojekt entwickelt. Nachdem ursprünglich mit Kamerun, Ghana, Ägypten, Mauritius, Kenia, Ruanda, Tunesien und Tansania acht Staaten Zölle auf 96 Produkte, wie Keramikutensilien, Tee, Kaffee oder Trockenfrüchte, zurückfuhren, wird erwartet, dass Ende 2024 insgesamt 31 Staaten Teil der Guided Trade Initiative sein werden.
Darüber hinaus helfen nationale Komitees, die einzelnen Volkswirtschaften und Unternehmen auf einen freien Markt und damit ein härteres Konkurrenzgeschäft vorzubereiten, während sich gleichzeitig neue Absatzmärkte auftun. Gemeinsam mit dem AfCFTA-Sekretariat in Accra, der AU-Kommission in Addis Abeba und globalen Gebern werden Strategien entworfen, Fortschrittsanalysen getätigt und Daten erhoben, um sich adäquat auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.
Mit Beginn der Implementierung erster Schritte im Jahr 2021 ist man noch am Anfang eines langen Weges der Liberalisierung. Nichtsdestotrotz wurden bereits wichtige Themen wie Schiedsgerichtsbarkeitswesen, Regularien zur Herkunftskennzeichnungen der meisten Produkte und 45 Tarifreduktionen beschlossen. Bis 2034 sollen die meisten Regeln implementiert sein und Brookings zufolge wird erst dann ein merklicher Effekt beobachtet werden können.
Der Weg hin zu einer erfolgreichen Freihandelszone unter Einbeziehung aller AU-Mitgliedstaaten scheint derzeit steinig – zahlreiche Konflikte, die Handlungsunfähigkeit einiger RECs, schwache regionale Integration und andere Themen, die scheinbar wichtiger sind als Freihandel, bestimmen die Berichterstattung über den afrikanischen Kontinent und die Afrikanische Union. Doch die Erfolge der Guided Trade Initiative, der Wille der Mitgliedstaaten, sich am Gestaltungsprozess der Freihandelszone zu beteiligen, und die Notwendigkeit, die Schranken des Isolationismus vieler afrikanischer Staaten zu durchbrechen, lassen auf einen Erfolg hoffen. Aus diesem Grund täte man gut daran, mit Besonnenheit und Geduld dieses Projekt, das sowohl ordnungs- als auch handelspolitisch ein globaler Erfolg werden kann, weiterhin zu unterstützen.
Lukas Kupfernagel ist Leiter des Auslandsbüros Äthiopien und Afrikanische Union der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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