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Bachir Moukarzel, Amazing Aerial Agency, picture alliance

Auslandsinformationen

Von Konflikt zu Konnektivität

von Philipp Dienstbier, Nicolas Reeves

Zur „Seidenstraße“ der Golfstaaten

Mit ehrgeizigen Infrastrukturprojekten etablieren sich die Golfstaaten als zentrale Brücke für Handelsströme zwischen Ost und West. Die strategische Position zwischen den ­Kontinenten Afrika, Asien und Europa wollen vor allem Saudi-­Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate nutzen, um den Sprung ins Wirtschaftszeitalter nach dem Öl zu schaffen. Doch nicht nur ökonomische Hürden stehen dem im Wege – regionale Konflikte und geopolitische Rivalitäten drohen, die „Seidenstraße“ am Golf abzuschneiden.

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„This is a real big deal!“, verkündete der US- amerikanische Präsident Joe Biden im September 2023 auf dem G20-Gipfel in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, als er gemeinsam mit den Regierungschefs Deutschlands, der EU, Frankreichs, Indiens, Italiens, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) einen Wirtschaftskorridor von Indien über die Golfstaaten bis nach Europa beschloss. Der India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC), ein Geflecht aus Schiffs- und Schienenverbindungen, Stromtrassen und Glasfaserkabeln sowie Pipelines für den Transport von Wasserstoff, soll eine transformative Integration Südasiens und des Nahen Ostens unter Einbeziehung Israels forcieren.

Wie eine Spinne im Netz befinden sich die beiden ökonomischen Kraftzentren der arabischen Welt, Saudi-Arabien und die VAE, am Knotenpunkt dieser wichtigen geplanten Handelsverbindung zwischen Asien und Europa, die gleichzeitig eine bedeutende Alternative zur chinesischen Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) bilden könnte. Das Kalkül der Golfmonarchien ist nicht weniger, als hiermit zur zentralen Brücke für Handels- und Finanzströme zwischen Ost und West zu avancieren.

 

Von Kriegen und Containerschiffen

IMEC ist Teil eines größeren Ansatzes der Golfstaaten, ihre Volkswirtschaften in ein Zeitalter nach dem Öl zu führen. Konnektivitätsprojekte bilden eine zentrale Säule der ökonomischen Transformationspläne der Golfregion – die sogenannten Visions. Längst ist die Intention nicht mehr bloß, eine Schaltstelle für den Welthandel zu werden. Besonders in Saudi-Arabien und den VAE geht es vielmehr darum, einen wachsenden Teil globaler Lieferketten in die eigenen Länder zu ziehen und damit der heimischen Wirtschaft einen Wachstumsschub zu verschaffen. Dabei setzen die Monarchien am Golf auf Wirtschaftseingriffe und Staatskapitalismus in einem nie dagewesenen Ausmaß.

Dies hat auch politische Auswirkungen. Die ökonomischen „Visions“ gehen Hand in Hand mit einer ambitionierten Vision für die Region, die Stabilität, Deeskalation und ein sicheres Wirtschaftsumfeld in den Mittelpunkt stellt. Die Abraham-Abkommen zwischen Israel, den VAE und anderen arabischen Ländern, die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran oder Riads Interesse an einer Normalisierung mit Tel Aviv – all dies sind essenzielle Bausteine der Wirtschaftsstrategien der Monarchien auf der arabischen Halbinsel.

Gleichzeitig diversifizieren die Staaten des Golfkooperationsrates (GCC) nicht nur ihre Handelsbeziehungen, sondern auch ihre Außenpolitik. Während der Westen IMEC oder die europäische Initiative Global Gateway als Konkurrenz zu Chinas Seidenstraße wahrnimmt, betrachten die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien und die VAE, diese als komplementär. Zur internationalen Wirtschaftspolitik des Golfs gehört, überall mitzumachen – ökonomische Vernetzung wird gleichzeitig als Pfad angesehen, um die eigene geopolitische Position zu stärken. So sind Saudi-Arabien und die VAE etwa parallel zu IMEC auch BRI-Unterzeichnerstaaten. Riad ist zudem nicht nur Teil der G20, sondern befindet sich mit Abu Dhabi ebenfalls im Beitrittsprozess zu einer erweiterten BRICS-Gruppe.

Und doch: Trotz großer Zukunftsvisionen ist der Golf den Geistern der Vergangenheit noch nicht entkommen. Der Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 und der folgende Krieg im Gazastreifen brachten die Region und mit ihr die wirtschaftlichen Integrationsprojekte der Golfstaaten ins Wanken. Keinen Monat nach Verkündung von IMEC schien der Traum vom Infrastrukturwunderprojekt im Nahen Osten bereits geplatzt. Nicht nur neue, auch alte Handelswege waren plötzlich bedroht. Mit unablässigen Angriffen auf Handelsschiffe, die eine der zentralen Arterien des Welthandels – die Meerenge Bab al-Mandab vor dem Jemen – durchqueren, brachte die radikalislamische Huthi-Miliz plötzlich 15 Prozent des globalen Handelsvolumens ins Stocken. So groß das Potenzial der Golfregion als Durchgang und Drehkreuz globaler Wirtschaftsströme ist, so sehr bedroht regionale Instabilität diesen Status.

Das Königreich Saudi-Arabien eifert seit einigen Jahren dem Erfolgsbeispiel der VAE nach.

 

Erst Dubai, dann der Rest: Die „Visions“ am Golf

Die Errichtung einer „Seidenstraße“ quer über die arabische Halbinsel folgt dem Ziel Saudi-Arabiens, der VAE und anderer Golfstaaten, den Wirtschaftsstandort Golf zu diversifizieren, nicht-rohstoffbasierte Industrien zu entwickeln und dabei die GCC-Mitgliedsländer von Öl und Gas unabhängiger zu machen. Ihren Ausgang nahm diese wirtschaftliche Diversifizierung in den VAE, wo Dubai schnell zum Vorreiter eines rasanten Wirtschaftswandels auf der arabischen Halbinsel wurde.

In den Emiraten wurde bereits im Jahr 2010 eine nationale „Vision“ verkündet. Unter ihrem Architekten Scheich Mohammed bin Raschid Al Maktum, Herrscher von Dubai und Premierminister der VAE, diversifizierte die „Vision 2021“ vor allem die Volkswirtschaft Dubais. Das Emirat etablierte sich als Zentrum für Handel und Logistik sowie als regionaler Wirtschafts- und Finanzstandort – doch längst versuchen andere nachzuziehen.

Das benachbarte Königreich Saudi-Arabien eifert seit einigen Jahren dem Erfolgsbeispiel der VAE nach. Der saudische Kronprinz Mohammad bin Salman Al Saud verkündete im Jahr 2016 seinerseits eine „Vision 2030“, die unter anderem darauf abzielt, die Volkswirtschaft des Landes für die Kräfte der Globalisierung zu öffnen und den einheimischen Tourismus- und Logistiksektor zu entwickeln, um zum Standort multinationaler Unternehmen zu werden und schließlich Hightech-Industrien anzusiedeln.

Das Ziel ist daher nicht nur, zur Drehscheibe des Welthandels zu werden, sondern vor allem auch, größere Teile der weltweiten Lieferketten ins eigene Land zu ziehen und damit einen Teil der Wertschöpfung am Golf zu halten. So sollen hochentwickelte Häfen, Schienen und Straßen mithilfe moderner Technologien einen Beitrag dazu leisten, dass künftig Zwischenprodukte in die Golfstaaten importiert, dort verarbeitet und schließlich als Hightech-Endprodukte weiterexportiert werden. Das Königreich verzeichnete in dieser Hinsicht bereits erste Erfolge und hat Teile fortgeschrittener Industrieproduktion, von elektrischen Fahrzeugen bis hin zu Rüstungsgütern, an Land gezogen.

Trotzdem wirken die ökonomischen Ziele am Golf überaus ambitioniert. Berechnungen zufolge müssten Saudi-Arabiens ölunabhängige Wirtschaftssektoren bis 2030 jährlich um neun Prozent wachsen, um die Vision des Kronprinzen zu erfüllen – sie weisen bislang jedoch lediglich ein Jahreswachstum von durchschnittlich 2,8 Prozent auf. Auch die VAE benötigen jährliche Wachstumsraten von sieben Prozent für die Erreichung ihrer ökonomischen Pläne, werden nach Prognosen für die Jahre 2024 bis 2028 allerdings nur um gut vier Prozent pro Jahr wachsen. Die Golfstaaten investieren daher massiv – nicht zuletzt in regionale Infrastruktur für Handel, Logistik und Transport –, um ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen.

 

An der Schnittstelle zwischen drei Kontinenten

Konnektivität spielte von Anfang an eine herausgehobene Rolle bei den Wirtschaftstransformationsprojekten der Golfstaaten. Dubai mag bekannt sein für pompöse Prestigeprojekte, doch weit wichtiger waren der Aufbau des größten Tiefwasserhafens der Region, Dschabal Ali, und einer Freihandelszone, deren günstiges Investitionsklima multinationale Konzerne in das Emirat lockte. Während Emirates Airlines weltweite Berühmtheit erlangte, war es der weniger bekannte Staatskonzern DP World, der eine Perlenkette aus Häfen von Hongkong bis London unter emiratische Kontrolle brachte.

Mit ihrer Politik etablierten sich die Emirate als ein Dreh- und Angelpunkt der Handelsrouten zwischen Asien, Afrika und Europa. Neben dem Export von Öl strömen eine Vielfalt von Produkten durch Dschabal Ali, den Dubai International Airport und die zahlreichen anderen Handelsstützpunkte der VAE. Die Emirate übernehmen dabei unterschiedliche Rollen. Erstens dienen sie als zentrales Eingangstor von Waren, welche sie wiederum in die Region weiterexportieren. So ist Nachrichtenelektronik aus China, Vietnam und Indien mit jährlich mehr als 20 Milliarden US-Dollar der zweitgrößte Import des Landes. Nach ihrer Ankunft in emiratischen Häfen werden mehr als 80 Prozent der Güter reexportiert: Über den Land-, See- oder Luftweg gelangen sie in Nachbarländer wie den Irak (19,9 Prozent), Iran (16,4 Prozent) oder Saudi-Arabien (12,5 Prozent).

Trotz großer Entwicklungen bleiben die Golfstaaten noch ein ganzes Stück hinter ihren Ambitionen zurück.

Zweitens fungieren die VAE als weltweite Drehscheibe von zentralen Rohstoffen und strategischen Gütern. Beim größten emiratischen Importprodukt, Gold zur industriellen Verarbeitung, kommt die internationale Konnektivität der Emirate besonders zum Tragen. Von mehr als 55 Milliarden US-Dollar an Einfuhren – unter anderem aus den Konfliktregionen Malis und Sudans – exportieren die VAE mehr als 30 Milliarden US-Dollar weiter, unter anderem in die Schweiz, nach Hongkong oder in die Türkei. Diese Beispiele illustrieren das enge Zusammenwirken zwischen den Handelsverflechtungen der Emirate und dem strategischen Ansatz der Herrscher Abu Dhabis und Dubais, wirtschaftlich wie politisch mit internationalen Partnern jeglicher Couleur enge Beziehungen zu pflegen.

Genau hierauf zielt auch Saudi-Arabien mit der „Vision 2030“ ab. Riad bemüht sich, das Muster des regionalen Vorreiters VAE nachzuahmen und das Königreich durch Investitionen im Logistikbereich zu einem Knotenpunkt des Welthandels zu entwickeln. Das saudische Megaprojekt NEOM befindet sich nicht zufällig an einer strategischen Schnittstelle zwischen drei Kontinenten. Auch hier überschattet das internationale Aufsehen um extravagante Prestigeprojekte, wie eine geplante futuristische Linienstadt in der Wüste, die Wirtschaftstransformation in weniger glamourösen Sektoren wie Logistik und Handel. So soll in NEOM auch ein automatisierter Hafen nebst Industriestadt entstehen, welcher Saudi-Arabien in globale Lieferketten entlang der Handelsrouten, die Suezkanal und Rotes Meer durchlaufen, einbindet.

Auch die saudischen Seehäfen Dschidda und Dammam sowie der Flughafen Riad tragen dazu bei, dass das Königreich sich inzwischen als Drehkreuz für die Weiterausfuhr von Gütern auszeichnet. Seit 2022 betreibt zum Beispiel die Firma Apple ein Distributionszentrum am King Khaled Airport in Riad, von dem jährlich 100.000 elektronische Geräte in den saudischen Markt und andere GCC-Länder weitertransportiert werden. Der jährliche Umschlag an saudischen Häfen ist zwischen 2016 und 2023 um etwa 50 Prozent von 7,7 Millionen Containern auf 11,4 Millionen angestiegen.

Maßgeblich verantwortlich dafür ist neben teuren Investitionen in hochmodernen Logistikzonen auch der Bürokratieabbau. Seit 2017 verkürzten sich Zollverfahren im Durchschnitt von zwölf Tagen auf gerade einmal zwei Stunden. Das Königreich bekleidet inzwischen den 38. Rang auf dem Logistics Performance Index der Weltbank, eine Verbesserung um 14 Plätze im Vergleich zur Zeit vor der „Vision 2030“.

 

Konnektivität als Motor wirtschaftlicher Entwicklung?

Trotz solcher Quantensprünge bleiben die Golfstaaten aber noch ein ganzes Stück hinter ihren Ambitionen zurück. Während moderne Infrastruktur für den Luft- und Seehandel vorhanden ist, hinkt der Ausbau der Überlandverbindungen zwischen der Ost- und Westküste der arabischen Halbinsel sowie zwischen dem Golf und seinen benachbarten Regionen hinterher. Gleiches gilt für die geplanten Pipelines, die künftig grünen Wasserstoff in die Welt exportieren sollen. Diese Infrastruktur soll jedoch künftig zum Schlüssel für einen transregionalen Wirtschaftskorridor im Stil des IMEC werden.

Obwohl die Infrastrukturen Saudi-Arabiens und der VAE bereits zu den bestentwickelten im Nahen Osten gehören, gibt es also noch Nachholbedarf. Das größte Schieneninfrastrukturprojekt Saudi-Arabiens – die geplante Ergänzung des östlichen Zugkorridors zwischen Riad und Dammam durch den Bau einer Bahntrasse zwischen Riad und der westlichen Küstenstadt Dschidda – ist beispielsweise schon seit den 2000er-Jahren geplant, doch begann erst Ende 2023 die Umsetzung. Auch bei der seit Jahrzehnten diskutierten Eisenbahnverbindung zwischen den GCC-Staaten mangelt es an verlegten Gleisen außerhalb Saudi-Arabiens und der VAE (siehe Abb. 1).

 

Abb. 1: Regionale Infrastrukturprojekte und überregionale Handelskorridore

https://www.kas.de/documents/d/auslandsinformationen/de_dienstbier_reeves_abb_1_web

Eisenbahnstrecke Eisenbahnstrecke in Planung Derzeitige Hauptroute des Seehandels Handelskorridor: Iraq Development Road Handelskorridor: Überlandabschnitt der Belt and Road Initiative (BRI) Handelskorridor: Überseeabschnitt des India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) Handelskorridor: Überlandabschnitt des IMEC ο Stadt Ο Bedeutende Stadt am IMEC Quelle: eigene Zusammenstellung der Autoren. Karte: Natural Earth.

 

 

Die Positionierung des Golfs als Handelsknotenpunkt hängt vor allem von den derzeit hohen Ölpreisen ab.

Damit Handel, Logistik und Transport zu echten Wachstumstreibern werden, müssten die Volkswirtschaften am Golf zudem nachhaltiger und ölunabhängiger finanziert sowie stärker vom Privatsektor getragen sein. Auf all diesen Feldern zeigen sich jedoch Defizite. So ruht die wirtschaftliche Diversifizierung vor allem in Saudi-Arabien auf den Schultern staatlicher Eingriffe. Im Königreich treibt fast ausschließlich der größte saudische Staatsfonds, der Public Investment Fund (PIF), die beschriebenen Entwicklungen voran und hat über das vergangene Jahrzehnt etwa 1,3 Billionen US-Dollar im Land investiert. Allein im Jahr 2023 hat der saudische Staat nach innen gerichtete Investitionssummen in Höhe von 20 Prozent des gesamten Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausgeschüttet. Sogar in China summieren sich solch staatliche Investitionen derweil auf nur etwa zwei Prozent des BIP.

Aufgrund der hohen Abhängigkeit der Staatshaushalte vom Öl – in den VAE 41,4 Prozent, in Saudi-Arabien 67,6 Prozent – bedeutet dieser ausufernde Staatskapitalismus auch, dass die Positionierung des Golfs als Handelsknotenpunkt vor allem von den derzeit hohen Ölpreisen abhängt. Im Königreich hat der staatliche Ölkonzern Saudi Aramco in den Jahren 2022 und 2023 mit insgesamt 280 Milliarden US-Dollar die höchsten Gewinne eines börsennotierten Unternehmens in der Geschichte eingefahren – und diese als Dividende direkt an den saudischen Staat weitergegeben. Doch die Jahre seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine waren eine Ausnahmephase an den Energiemärkten, und dass die Ölpreise irgendwann auch wieder sinken, ist ausgemacht – mit entsprechenden Folgen für staatlich finanzierte Infrastrukturprojekte am Golf. Die ehrgeizigen Pläne in NEOM hatte Saudi-Arabien so jüngst aufgrund ausbleibender alternativer Finanzierungsquellen bereits verschieben müssen. Es scheint zudem nicht mehr ausgeschlossen, dass das Vorhaben künftig reduziert werden muss. Um mittelfristig auch ohne Schützenhilfe der Staatsfonds oder ein Feuerwerk aus Öleinnahmen den Golf als Handels- und Industriezentrum zwischen Ost und West zu etablieren, sind daher mehr internationale und private Investitionen vonnöten. Diese hängen aber stark von verlässlichen Rahmenbedingungen ab.

Die Golfstaaten vermeiden eine klare Positionierung im Großmachtwettbewerb zwischen China und den USA.

Ob dies gelingt, bleibt unklar. 2022 beliefen sich ausländische Direktinvestitionen (FDI) in der gesamten saudischen Wirtschaft auf 28,1 Milliarden US-Dollar oder 2,5 Prozent des BIP. Laut der „Vision 2030“ müssten diese aber auf 5,7 Prozent des BIP anwachsen, um die saudischen Ziele zu erreichen. Selbst der regionale Vorreiter, die VAE, zog 2022 nur FDI in Höhe von 4,5 Prozent des BIP an. Als Notnagel bedient sich der Golf daher auch protektionistischer Maßnahmen, wie eines neuen Gesetzes in Saudi-Arabien, das internationale Unternehmen verpflichtet, ihre Regionalzentralen im Königreich anzusiedeln, wenn sie nicht von staatlichen Aufträgen ausgeschlossen werden möchten. Die Erfahrung mit solchen Experimenten anderorts hat gezeigt, dass sie sich schnell als Holzweg entpuppen könnten.

 

Politische Implikationen: Vom disruptor zum stabiliser

Während aus ökonomischer Sicht also noch nicht ausgemacht ist, ob der Vorstoß des Golfs an die Weltspitze des Handels gelingt und zu wirtschaftlicher Transformation sowie nachhaltigem Wachstum führen wird, macht sich dieser Wandel bereits andersartig bemerkbar: Er hat das außenpolitische Kalkül der Golfstaaten fundamental verändert.

Dass es für ihre regionalen wirtschaftspolitischen Pläne Stabilität braucht, ist niemandem so klar wie den Herrschern in Abu Dhabi und Riad. Während gerade Saudi-Arabien noch vor einigen Jahren keinen regionalen Konflikt scheute, hat sich die Rolle der Golfstaaten nun aber vom disruptor zum stabiliser gewandelt. Vom Jemen über Katar, von Israel bis nach Iran bemühen sich die Golfmonarchien nun, stabilitätsgefährdende Rivalitäten in der Region einzuhegen und andauernde gewaltsame Konflikte zu beenden, um ein sichereres Wirtschaftsumfeld zu schaffen und die Umsetzung ihrer ökonomischen Transformationsprojekte nicht zu gefährden. Ihr Interesse an regionaler Stabilität teilen die Golfstaaten dabei mit Berlin und Brüssel.

Weniger im Sinne des Westens ist hingegen, dass der wirtschaftlichen Diversifizierung am Golf auch eine politische Diversifizierung gefolgt ist. Auch aus dem Interesse heraus, zum Drehkreuz für Wirtschaftsströme zwischen Ost und West zu werden, suchen Saudi-Arabien und die VAE die Anbindung an alle Machtblöcke, wollen gleichermaßen für die USA und Indien wie für China und Russland unverzichtbar werden und vermeiden daher eine klare Positionierung im Großmachtwettbewerb zwischen Peking und Washington.

Dies zeigt sich gerade am Beispiel IMEC. Der mit großen Fanfaren auch als Konkurrenzprojekt zu Pekings Seidenstraße verkündete Korridor ist bei näherer Betrachtung eng mit dem chinesischen Engagement in der Region verflochten. Sein Endpunkt in Europa ist der Hafen im griechischen Piräus, der seit 2016 zu zwei Dritteln dem chinesischen Staatskonzern COSCO gehört. Auch am größten saudischen Seehafen, dem Red Sea Gateway Terminal in Dschidda, besitzt China eine Minderheitsbeteiligung von 20 Prozent. Und am Aufbau einer der zentralen Achsen der neuen Überlandverbindungen, der Zugtrasse Etihad Rail, die quer durch die VAE führen soll, sind chinesische Zulieferer beteiligt. Dass an Häfen und Hauptbahnhöfen, aus denen sich IMEC zusammensetzt, das Label Made in China nicht zu übersehen ist, stellt für die Golfstaaten keinen Widerspruch dar, sondern sichert sie ab.

Die Verhandlungen über ein Normalisierungsabkommen zwischen Saudi-Arabien und Israel liegen seit Ausbruch des Gazakrieges auf Eis.

Während ein multipolarer Ansatz und wirtschaftliche Verflechtungen zu allen Seiten am Golf als Schlüssel für eine gestärkte geopolitische Position angesehen werden, versuchen die GCC-Mitglieder in ihrer Nachbarschaft von Westasien bis Nordafrika jedoch, selbst eine unangefochtene Hegemonie zu wahren. Die wirtschaftliche Schwäche anderer Regionalmächte, wie Ägypten oder Iran, spielt Abu Dhabi und Riad dabei in die Karten. Beide nutzen strategische Investitionen aus, um ihre regionale Dominanz – vor allem am Nil – noch weiter auszubauen.

Anderen Wettbewerbern versuchen sie den Rang abzulaufen. IMEC steht in direkter Konkurrenz zum türkisch-irakischen Infrastrukturprojekt Iraq Development Road, das mit dem saudisch-emiratischen Korridor umgangen werden könnte. Und dass Saudi-Arabien sowie die VAE als wirtschaftliche Zugpferde der Region ähnliche Geschäftsmodelle verfolgen und dadurch zunehmend auch untereinander im Wettbewerb stehen – etwa um Direktinvestitionen multinationaler Konzerne oder Marktzugang in ihrer Nachbarschaft –, könnte nicht zuletzt auch die Konkurrenz zwischen beiden künftig anheizen.

 

Handelstransformation vor politischen Herausforderungen

Das größte Risiko für emiratische und saudische Versuche, ihre Nachbarschaft zu stabilisieren und regionale Integration zu fördern, sind jedoch der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und seine Folgen. Die Verhandlungen über ein mögliches Normalisierungsabkommen zwischen Saudi-Arabien und Israel liegen seit Ausbruch des Krieges im Gazastreifen auf Eis. Seit der militärischen Gegenoffensive Israels droht die Konfliktspirale ständig, über einen Eintritt Irans und seiner Stellvertreter auch die Golfregion mit in den Krieg zu ziehen. Dieses katastrophale Wirtschaftsumfeld hat intraregionalem Handel und Infrastrukturinvestitionen einen drastischen Dämpfer verpasst.

Pläne für einen Wirtschaftskorridor von Indien bis Europa wurden durch den Krieg in Gaza obsolet. Wenig überraschend fiel das geplante Treffen der IMEC-Mitgliedstaaten, um einen Aktionsplan für die Umsetzung des Handelskorridors zu entwerfen, ersatzlos aus. Das größte für IMEC vorgesehene Investitionsvehikel – die Partnerschaft für Globale Infrastruktur und Investitionen der G7, die aus einem 600 Milliarden US-Dollar schweren Kapitalpool dringend benötigte Privatinvestitionen in die Region bringen könnte – wurde bislang ebenfalls nicht aktiviert. Lediglich ein einzelner Rahmenvertrag zwischen Indien und den VAE konnte auf den Weg gebracht werden.

Besonders Saudi-Arabien bekommt die wirtschaftlichen und politischen Folgen der erneuten Instabilität zu spüren. Die Attacken der jemenitischen Huthi-Miliz auf den Schiffsverkehr im Roten Meer seit November 2023 hinterlassen tiefe ökonomische Spuren: Einen Monat vor Beginn der Angriffe war der Rotmeerhafen Dschidda noch mit einem Rekordumsatz von 511.384 Containern und einem Importanteil von 28,2 Prozent der wichtigste Eintrittspunkt ins Königreich. Seitdem fiel der Beitrag des Hafens auf 20,5 Prozent im Januar 2024 zurück. Über denselben Zeitraum sanken die monatlichen Gesamteinfuhren des Königreichs von 19,7 auf 17,8 Milliarden US-Dollar. Diese Zahlen verdeutlichen, wie schnell regionale Instabilität die Anziehungskraft Saudi-Arabiens als Eingang zu den Märkten der arabischen Halbinsel beeinträchtigt.

Obwohl – oder gerade weil – der Gazakrieg und dessen regionale Schockwellen die „Seidenstraße“ der Golfstaaten somit fundamental bedrohen, reagierten Abu Dhabi und Riad auf diese Ereignisse mit einer bemerkenswerten Doppelstrategie: einer Landbrücke bis nach Israel bei fortgesetzter Annäherung an Iran.

Die Golfmächte geben ihre Strategie, durch Annäherung zu allen Seiten Stabilität zu stiften, auch in angespannten Zeiten nicht auf.

Einerseits beschleunigte der Konflikt paradoxerweise die Aktivierung des bislang unterentwickelten Überlandhandels quer durch die Arabische Halbinsel als Notalternative zum Seehandel. Seit Dezember 2023 existiert eine Art „Mini-IMEC“ zwischen den Golfstaaten, Jordanien und sogar Israel. Der Korridor beginnt in Dschabal Ali in Dubai, Mina Salman in Bahrain und dem saudischen Ostküstenhafen Dammam, der im Januar dieses Jahres Dschidda als Haupteingangstor ins Königreich ablöste. Von dort umfahren Lkws die Huthi-Blockade, indem sie über saudische und jordanische Straßen Importgüter aus Asien per Land weiterverteilen – zum Teil bis hinter die israelische Grenze. Berichten aus der Wirtschaft zufolge benutzen Dutzende Lkws täglich die Überlandroute von Dubai und Bahrain nach Israel, dessen Hafen in Eilat ebenfalls durch die Angriffe im Roten Meer abgeschnitten wurde, und sparen dadurch 20 Tage gegenüber dem Seeweg. Diese Landbrücke zeigt symbolisch, dass Saudi-Arabien und die VAE trotz angespannter Lage in ihrer Nachbarschaft ihre Pläne für regionale Integration mit Einbeziehung Israels nicht aufgegeben haben.

Andererseits bringen die Golfstaaten ihr politisches Gewicht auch ein, um ihre prekären Beziehungen mit den regionalen Feinden Israels zu stabilisieren. Dazu gehört, dass Saudi-Arabien seine Annäherung an Iran und seine Entspannungspolitik gegenüber der von Teheran unterstützten Huthi-Miliz im Jemen weiter fortsetzt. Ereignisse wie die Einladung des dann Mitte Mai verstorbenen iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi nach Riad, um an einem Krisengipfel der Arabischen Liga und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit zur Lage in den palästinensischen Gebieten teilzunehmen, nutzt die saudische Regierung als Gelegenheit, sich gegen die Kriegsführung Tel Avivs im Gazastreifen zu stellen. Damit verdeutlichen die Golfmächte, dass sie ihre Strategie, durch Annäherung zu allen Seiten Stabilität zu stiften, auch in angespannten Zeiten nicht aufgeben wollen.

 

Eine stabilere Zukunft: Zum Greifen nah?

Die Äquidistanz Saudi-Arabiens und der VAE zwischen Teheran und Tel Aviv weist darauf hin, dass Bemühungen in Richtung regionaler Deeskalation und Stabilität die Disruption seit dem 7. Oktober 2023 überstehen können. Die Golfstaaten setzen nach wie vor darauf, dass eine Mischung aus wirtschaftlicher Diversifizierung, regionaler Integration und einer stabilitätsstiftenden Nachbarschaftspolitik den Weg in eine bessere Zukunft bereitet. Auch der 7. Oktober hat dies nicht grundlegend geändert.

Nichtsdestotrotz unterstreichen die Entwicklungen der vergangenen Monate, dass robuste wirtschaftliche Konnektivität im Nahen Osten nur bei nachhaltiger Lösung der Konflikte in der Region, allen voran des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern, möglich ist. Hier spielt Europa nicht nur als Endempfänger der Warenströme, die durch den Wirtschaftskorridor IMEC fließen, eine Rolle. Vielmehr können Deutschland und seine europäischen Nachbarn den regionalpolitischen Ansatz der Golfstaaten ergänzen, indem sie durch konstruktiven Druck und Diplomatie ihre engen Partner im Nahen Osten weg von Konflikten und hin zu Integration lenken. Anders als zuvor hat Europa nun Sparringspartner am Golf, die mit europäischen Staaten das Interesse an einer stabilen, integrierten Region teilen – und bereit sind, dahingehend politisch wie finanziell zu investieren.

Dazu ist erforderlich, dass die Führungsmächte am Golf in ihrer Nachbarschaft nach wie vor eine aktive Rolle übernehmen, die sie zur Annäherung sowie Stabilisierung nutzen. Sie sollten ebenfalls Verantwortung übernehmen, um gerade bei den schwerwiegendsten und kompliziertesten Konflikten – wie im Gazastreifen – proaktiv wie pragmatisch Lösungsansätze zu erarbeiten. Deutschland und Europa sollten sie dabei unterstützen. Wenn dies gelingt, ist es auch vorstellbar, dass der Handelsverkehr der Zukunft nicht nur wieder ungestört per Schiff durch Bab al-Mandab läuft, sondern auch auf dem Landweg über Dammam nach Haifa strömt und von dort seinen Weg durchs Mittelmeer nach Europa fortsetzt.

 


 

Philipp Dienstbier ist Leiter des Regionalprogramms Golf-Staaten der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Amman, Jordanien.

 



Nicolas Reeves ist Projektmanager im Regionalprogramm Golf-Staaten der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 



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