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Michele Tantussi, Reuters.

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Immer einen Schritt hinterher?

Deutsche Sicherheitspolitik nach dem ­NATO-Gipfel von Madrid

Der Krieg gegen die Ukraine wirkt wie ein Katalysator für die seit 2014 voranschreitende Neuordnung der transatlantischen Sicherheitspolitik. Die deutsche „Zeitenwende“ legt wichtige Grundsteine, um endlich zu erfüllen, was den Verbündeten seit acht Jahren versprochen wurde. Doch noch während die Bundesregierung zu diesem Sprung ansetzt, hat die ­NATO die Latte bei ihrem Gipfel in Madrid im Juni 2022 noch einmal höher gehängt. Es werden weitere große Anstrengungen nötig sein, will Deutschland nicht erneut seine Zusagen brechen.

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Als Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Grundsatzrede am vierten Tag des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine vor dem deutschen Bundestag eine Zeitenwende proklamierte und mit Blick auf die Rückkehr eines offenen Krieges in Europa feststellte, „(d)ie Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, dürfte in den Hauptstädten deutscher Partner von Warschau bis Washington die Erleichterung und Freude über den strategischen Sinneswandel Berlins überwogen haben. Bei den Planern in den NATO-Hauptquartieren und -Kommandos in Brüssel, Mons oder Brunssum muss der vermeintliche deutsche Realitätsschock hingegen eher Verwunderung ausgelöst haben. Schließlich hatte das Bündnis bereits nach der Krim-Annexion durch Russland 2014 und dem folgenden Beginn der verdeckten russischen Kriegsführung in der Ostukraine festgestellt, dass Russland wieder ein ernstzunehmender Gegner ist, Bündnisverteidigung und Abschreckung erneut an die Spitze der NATO-Prioritätenlisten zurückkehren müssen und eine grundlegende militärische Neuaufstellung der Allianz notwendig geworden ist.

Schon auf dem NATO-Gipfeltreffen in Wales 2014 sowie dem darauffolgenden Warschau-Gipfel 2016 hatte das Bündnis angesichts eines bereits damals erkennbaren Wandels der Bedrohungslage vereinbart, dass Alliierte zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aufwenden müssen – spezifisch zum Wiederaufbau ihrer nach Ende des Kalten Krieges verlorengegangenen Fähigkeiten, militärische Großverbände in hoher Einsatzbereitschaft vorzuhalten und Fähigkeiten zur Kräfteunterstützung sowie eine funktionierende Logistik zur schnellen Verlegung von Truppen an die Ostflanke der NATO bereitzustellen. Auch Deutschland hatte auf diesen Gipfeltreffen der NATO zugesagt, seine Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung wiederaufzubauen; hatte aber bis zum 27. Februar 2022 nie ausreichend politischen Willen aufgebracht, die gemachten Versprechen tatsächlich und vollumfänglich umzusetzen. Mit den ambitionierten Plänen des Kanzlers und seiner Bundesregierung, nun „eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr“ aufzubauen, und dem gemeinsam mit der parlamentarischen Opposition ausgehandelten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro scheint die deutsche Politik nun endlich ihre fast ein Jahrzehnt zuvor bei der NATO getätigten Zusagen einlösen zu wollen.

Dem umfangreichen Maßnahmenpaket liegt jedoch ein grundlegender Fehlschluss zugrunde: Nicht 2022, sondern 2014 markiert eine Zeitenwende in der europäischen Sicherheitspolitik; mit dem Sondervermögen, der nun versprochenen Modernisierung der Bundeswehr und der Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung würde Deutschland somit lediglich den seit 2014 verschleppten Anpassungen in der Verteidigungspolitik nachkommen. Die NATO hat im Juni auf ihrem jüngsten Gipfeltreffen in Madrid in Reaktion auf den Krieg in der Ukraine aber bereits die nächsten Schritte vereinbart und unter anderem die umfassendste Neuaufstellung ihrer Streitkräfte seit Ende des Kalten Krieges beschlossen. Dies schafft neue, zusätzliche Anforderungen an die Beiträge der NATO-Mitgliedstaaten. Deutschland hinkt mit der im Februar verkündeten sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ bereits jetzt wieder einen Schritt hinterher.

Zusätzlich müsste die deutsche Politik nun weitere wegweisende Entscheidungen auf den Weg bringen, um die gewichtige Rolle, die Deutschland aufgrund seiner Lage, Größe und Wirtschaftskraft in der NATO zukommt, adäquat auszufüllen. Diese grundlegende Problematik wird zusätzlich verschärft, weil sich bereits jetzt abzeichnet, dass viele der von Scholz angekündigten Maßnahmen zögerlich bis gar nicht umgesetzt werden und Deutschland erneut Gefahr läuft, seine vollmundigen Versprechen bei der NATO nicht einzulösen. Sollten die von der Grundsatzrede des Kanzlers bei deutschen Partnern geweckten Erwartungen erneut enttäuscht werden, würde Deutschland internationales Vertrauen und Glaubwürdigkeit vollends verspielen.

Hinzu kommt, dass es letztendlich die Vereinigten Staaten mit ihrem umfassenden Engagement zur Unterstützung der Ukraine und ihrer militärischen Rückversicherung osteuropäischer NATO-Partner waren, die den wichtigsten und entscheidendsten Beitrag dafür geleistet haben, dass ein russischer Sieg in der Ukraine und ein Ausgreifen des Konflikts auf europäische Nachbarn bisher verhindert wurden. Ohne die USA wäre Europa dem Worst-Case-Szenario einer Besetzung der Gesamtukraine und eines weiteren russischen Angriffs auf Georgien, die Republik Moldau oder andere Länder gefährlich nahegekommen.

Doch der europäischen Sicherheitspolitik steht eine weitere „Zeitenwende“ ins Haus, die ebenfalls schon seit Jahren absehbar ist: Dies dürfte das letzte Mal gewesen sein, dass Washington einen solchen Grad an militärischem Ressourceneinsatz und politischer Aufmerksamkeit für die europäische Sicherheit aufbringt, denn der strategische Fokus der Vereinigten Staaten liegt längst im Indopazifik. Die rasante Geschwindigkeit der militärischen Aufrüstung Pekings zwingt die USA, die Ausbalancierung Chinas immer stärker in den strategischen Fokus zu rücken, verbunden mit einem teilweisen militärischen Rückzug aus der europäischen Arena.

Dies lässt ein extrem knappes Zeitfenster – wohl gerade einmal bis Ende der 2020er-Jahre –, in dem europäische Alliierte, allen voran Deutschland, die Verantwortung für die konventionelle Verteidigung Europas größtenteils selbst übernehmen müssen. Dieser strategische Horizont lässt keine Zeit für eine schleppende „Zeitenwende“ oder eine erneute unvollständige Umsetzung der bei der NATO getätigten Zusagen. Stattdessen muss die deutsche Politik erkennen, dass die von Scholz verkündeten Maßnahmen allein nicht ausreichen werden, um die nötigen Weichenstellungen in der Sicherheitspolitik vorzunehmen und Deutschland wieder zum Rückgrat der konventionellen Verteidigung Europas zu machen.

 

Die NATO-Beschlüsse von Madrid: Mehr Verteidigung, höhere Lasten

Der russische Angriff auf die Ukraine wirkte wie ein Katalysator für den 2014 angestoßenen Wandel innerhalb der NATO zurück zu kollektiver Verteidigung und Abschreckung. Damals hat die Allianz nach Jahren der Schwerpunktsetzung auf internationalem Krisenmanagement einen Ausbau ihrer Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten vor allem an der Ostflanke der NATO, von den baltischen Staaten über Ostmitteleuropa bis hin zur Schwarzmeerregion, vorgenommen. Die Beschlüsse des NATO-Gipfels vom Juni 2022 in Madrid gehen quantitativ und qualitativ noch einmal weit über den Streitkräfteansatz und das Fähigkeitsprofil der nach 2014 bereits grundsätzlich angepassten NATO-Planung hinaus. Damit schaffen die jüngsten NATO-Beschlüsse von Madrid auch zusätzliche Anforderungen an die militärischen Beiträge, welche die Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, einbringen müssen.

Die Fähigkeit der NATO, einen Angriff tatsächlich abzuwehren, soll gestärkt werden.

Den Kern der neuesten Reform der alliierten Streitkräftestruktur bildet das neue NATO-Streitkräftemodell (NATO Force Model, NFM), welches die bisherigen Planungsstrukturen der 40.000 Mann starken NATO-Eingreifkräfte (NATO Response Force, NRF) konzeptionell ablöst. Das NFM legt zuvorderst einen gegenüber früheren Planungen deutlich erhöhten Truppenansatz von insgesamt 800.000 der NATO zugeordneten Kräften zugrunde. Davon sollen 100.000 Soldaten in zehn Tagen und weitere 200.000 Truppen innerhalb von 30 Tagen mobilisiert werden können, graduell kommen weitere 500.000 Soldaten hinzu, die in einem Zeitraum von 180 Tagen einsatzbereit sein müssen. Zusätzlich dazu soll eine neue Struktur, die alliierten Reaktionskräfte (Allied Reaction Force, ARF), entstehen, in der die bisherige NATO-Speerspitze und andere schnell verlegbare Truppen aufgehen. Die 40.000 Soldaten umfassende ARF wird künftig ständig dem Oberbefehlshaber der NATO unterstellt – ein planerischer Meilenstein, der erstmalig seit Ende des Kalten Krieges eine Eingreiftruppe dieser Größenordnung bereits vor dem Ausbruch einer Krise dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte unterstellt und damit eine schnellstmögliche Reaktion in einer sich entwickelnden Krise erlaubt.

 

Abb. 1: Neues NATO-Streitkräftemodell: Mobilisierungszeiträume und Truppenstärke

https://www.kas.de/documents/259121/21458404/DE_Ai_dienstbier_schaubild_1.svg/99a7a596-a85d-cc63-a9af-01c9e5bc787b?t=1670399664373

Quellen: NATO 2022; Major / Swistek 2022; NATO 2022: NATO’s Eastern Flank: Stronger Defence and Deterrence, 06/2022, in: https://bit.ly/3fSTs7b [07.10.2022].

 

Mit dem neuen NFM geht die NATO konzeptionell zu einer Abschreckung durch gestärkte Vorneverteidigung über. Nach 2014 fokussierte sich die Allianz zunächst darauf, mit zahlenmäßig geringen, rotierend vorwärtsstationierten Truppen einen „Stolperdraht“ zu spannen, der im Falle eines Angriffs zwar schnell überrannt, jedoch politisch wirksam den Bündnisfall nach Artikel 5 und somit eine militärische Gegenoffensive der NATO auslösen würde. Die NATO sieht dieses Konzept, an dessen Glaubhaftigkeit und Wirksamkeit bereits vor dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine Zweifel bestanden, im Lichte der gestiegenen Bedrohungslage nicht mehr als ausreichend an. Stattdessen soll mit einer substanzielleren Truppenpräsenz in potenziellen Konfliktregionen in Osteuropa und einer Vorausstationierung von Gerät, Material und Munition in den „Frontstaaten“ die Fähigkeit der NATO, einen Angriff tatsächlich abzuwehren und dadurch Abschreckungswirkung zu erzielen, gestärkt werden. Dafür sollen die NATO-Battlegroups nun aufgewertet werden und im Ernstfall mit schnell verlegbaren, zusätzlichen Streitkräften der Alliierten zu multidomänenfähigen Brigaden (Verbände mit jeweils etwa 5.000 Soldaten) aufwachsen können – also Großverbänden, die im Verbund mit See- und Luftstreitkräften sowie weiteren Unterstützungstruppen kämpfen können. Neben den bestehenden vier Battlegroups in den baltischen Staaten und Polen werden zudem die nach dem Kriegsausbruch neu geschaffenen Verbände in Bulgarien, Rumänien und der Slowakei als drei weitere Battlegroups verstetigt. Großverbände der Alliierten im rückwärtigen Raum werden in Zukunft zudem teilweise geografischen Fokusgebieten in Europa zugeordnet, für die sie im Kriegsfall zuständig wären.

Damit schafft sich die Allianz eine Streitkräftestruktur mit beachtlichen Truppenstärken und hohen Einsatzbereitschaftsgraden, die wirksam Abschreckungswirkung erzielen könnte, wenn sie mit adäquaten Zusagen der NATO-Mitglieder hinterlegt wird – aber gleichzeitig auch hohe Anforderungen an die Quantität und Qualität der militärischen Beiträge stellt. Künftig müssen die Alliierten umfassend Truppen in Divisionsgröße mobilisieren können; dies schlägt auch auf die deutschen Aufgaben im Rahmen der NATO durch. Bisher kommt das Gros der Hochwertfähigkeiten und Großverbände von den amerikanischen Streitkräften, in Zukunft sollen europäische NATO-Staaten hingegen 50 Prozent der militärischen Beiträge selbst leisten können. Das bedeutet, dass die Zusagen europäischer NATO-Mitgliedstaaten an Brüssel deutlich angehoben werden müssen. Deutschland hatte unter der alten Streitkräftestruktur nach 2014 im Rahmen der NRF noch etwa 14.200 Soldaten sowie 34 Flugzeuge und Schiffe zugesagt; unter dem neuen NFM müssen die deutschen Beiträge ab 2025 nun aber auf mehr als das Doppelte, insgesamt 30.000 Soldaten sowie 85 Flugzeuge und Schiffe, die innerhalb von maximal 30 Tagen der NATO bereitgestellt werden müssen, anwachsen.

Die im Februar in Aussicht gestellten Maßnahmen zur Ausrüstung und Befähigung der Bundeswehr reichen bereits nicht mehr aus.

Um dies zu gewährleisten, musste Deutschland seine bisher schon ambitionierte Zusage, der NATO bis 2027 eine mechanisierte Division mit drei voll ausgestatteten Kampfbrigaden zur Verfügung zu stellen, auf das Jahr 2025 vorziehen. Die dafür vorgesehene 1. Panzerdivision verfügt bisher jedoch lediglich über einen Großverband, die Panzergrenadierbrigade 37, welche im kommenden Jahr die NATO-Speerspitze stellen wird, die voll ausgestattet und einsatzbereit wäre. Zwei weitere vorgesehene Verbände, die 12. Panzerbrigade und die deutschen Anteile der Deutsch-Französischen Brigade, müssten innerhalb von drei Jahren zusätzlich personelle und materielle Vollausstattung erreichen. Vor dem Hintergrund, dass es Deutschland seit 2014 nicht gelingt, der NATO eine einzige Brigade zu stellen, ohne dies jahrelang vorbereiten und unter anderem Material und Ausstattung aus anderen Truppenteilen zusammenziehen zu müssen, ist die Gestellung zwei weiterer Brigaden innerhalb des kurzen verbleibenden Zeithorizonts ein gewaltiger Kraftakt.

Zudem steht Deutschland, das als Rahmennation die Battlegroup in Litauen führt, vor der Herausforderung, künftig zusätzlich eine Brigade für das Baltikum permanent in höchster Einsatzbereitschaft bereitzuhalten. Dass der Großverband größtenteils in Deutschland verbleibt und nur Teile der Kampftruppen sowie Stabselemente als verstärkte Battlegroup und vorgeschobener Gefechtsstand direkt in Litauen stationiert werden, ist bereits ein von Deutschland ausgehandelter Kompromiss, da die Bundeswehr derzeit faktisch keine voll ausgerüstete Heeresbrigade vorwärts stationieren könnte. Umso mehr ist Deutschland gefordert, schnellstmöglich die restlichen Elemente der zuständigen Panzergrenadierbrigade 41 zu befähigen, damit diese künftig ständig in Abrufbereitschaft zur Verfügung stehen und regelmäßig im Einsatzgebiet üben können.

All dies bedeutet nichts Geringeres, als dass Berlin nun weit umfassendere Beiträge zur Verteidigungsplanung der NATO – noch dazu weit früher als geplant – leisten muss. Nur wenige Monate nachdem die deutsche Politik mit einer Reihe von Grundsatzentscheidungen und einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro eine Modernisierung der deutschen Streitkräfte zusagte, reichen die am 27. Februar in Aussicht gestellten Maßnahmen zur Ausrüstung und Befähigung der Bundeswehr bereits nicht mehr aus. Mit dem geplanten Ausbau der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten der NATO liegt nun auch die Messlatte für eine erfolgreiche „Zeitenwende“ in der deutschen Sicherheitspolitik noch einmal deutlich höher.

 

Nachbesserungsbedarf bei der geplanten Modernisierung der Bundeswehr

Die gestiegenen Anforderungen der NATO an die deutschen Streitkräfte erfordern einen Quantensprung bei der angekündigten Modernisierung der Bundeswehr im Rahmen des Sondervermögens. Ein genauerer Blick in die avisierte Verteilung und vor allem die geplanten Verausgabungshorizonte der 100 Milliarden bringen jedoch erhebliche Defizite ans Licht. Dabei sieht das Sondervermögen durchaus richtige und sinnvolle Schritte vor, damit Deutschland seine Beiträge im Rahmen der NATO künftig erfüllen kann.

Dazu gehören die Ausgaben von etwa zwei Milliarden Euro zur Verbesserung der persönlichen Ausrüstung der Soldaten sowie Investitionen von über 20 Milliarden Euro in die Führungsfähigkeit der Bundeswehr. Beides sind wichtige Bausteine für die Wiederherstellung der Fähigkeit der deutschen Streitkräfte, mit voll ausgestatteten Großverbänden die Verteidigung an der NATO-Ostflanke zu gewährleisten. Auch in der Dimension Luft (insgesamt über 40 Milliarden Euro) umfasst das Sondervermögen dringend benötigte Beschaffungsvorhaben, wie schwere Transporthubschrauber, Seefernaufklärer, Eurofighter ECR für den elektronischen Kampf und nicht zuletzt die F-35. In der Dimension See (insgesamt knapp 20 Milliarden Euro) werden wegweisende Projekte, wie die gemeinsam mit Norwegen zu entwickelnden U-Boote U212 CD oder die neue Mehrzweckfregatte F126, mit Finanzierungszusagen abgesichert. Damit hinterlegt das Sondervermögen die getätigten Bündniszusagen Deutschlands an die NATO, sieht eine Reihe zentraler Rüstungsvorhaben vor und stellt vor allem in den Dimensionen Luft und See endlich ausreichend Mittel für die Beschaffung dringend gebrauchter Großwaffensysteme zur Verfügung.

Die Dimension Land bleibt jedoch mit gut 16 Milliarden Euro im Sondervermögen vergleichsweise knapp bemessen. Zwar hinterlegt der Sonderhaushalt auch im Bereich der Landstreitkräfte wichtige geplante Modernisierungsvorhaben, wie die Beschaffung eines noch zu entwickelnden Kampfpanzers für die Panzertruppe oder eines neuen Radpanzers für die mittelschweren Kräfte, mit ausreichender Finanzplanung. Dass die Landdomäne aber den geringsten Anteil des Sondervermögens erhält, ist vor allem deshalb bedenklich, weil es insbesondere auf das deutsche Heer ankommt, um mit einer Division ab 2025 und einer weiteren ab 2027 die dringend benötigten Großverbände und somit das Rückgrat der konventionellen Verteidigung der NATO in Nordosteuropa zu stellen. Gerade in diesem Bereich haben sich mit den Gipfelbeschlüssen aus Madrid die Anforderungen an Deutschland massiv erhöht.

Derzeit könnte der Luftwaffe in einem symmetrischen Krieg bereits am zweiten Tag die Munition ausgehen.

Beispielsweise benötigen die aufzubauenden kaltstartfähigen und voll ausgestatteten Großverbände des Heeres, die Deutschland der NATO zugesagt hat, für ihren Auftrag, autark das Gefecht der verbundenen Waffen führen zu können, Unterstützungskräfte in großem Umfang, die bisher aber überhaupt nicht existieren. Es fehlt vor allem an weitreichender Radartillerie, welche die mechanisierte Infanterie mit indirektem Feuer unterstützt, und an einer mobilen Heeresflugabwehr, die gepanzerte Verbände gegen Bedrohungen aus der Luft schützt – beides sind für die Kriegsführung kritische Fähigkeiten, wie nicht zuletzt die Erfahrungen aus dem Krieg in der Ukraine gelehrt haben. Obwohl die Bundeswehr sowohl ihre Heeresflugabwehr als auch die Radartillerie für ihre mittelschweren Kräfte komplett neu beschaffen muss, kommen beide Posten im Sondervermögen bisher kaum vor. Eine zügige Ausplanung, Ausschreibung und Auslieferung der dafür nötigen Systeme muss eine erhöhte Priorität haben, damit Deutschland den umfassenderen Anforderungen der NATO-Beschlüsse von Madrid nachkommen kann.

Des Weiteren hat die Bundeswehr ein zweites erhebliches Defizit: die Munitionsbevorratung, welche im Sondervermögen nicht abgebildet ist. Jenseits enormer Modernisierungsvorhaben sind die größten Schwachpunkte der Bundeswehr nach wie vor ihre über Jahrzehnte ausgedünnten Munitions- und Ersatzteillager. Gegenwärtig hat die Bundeswehr derart knappe Bestände, dass in einem hochintensiven Krieg gegen einen symmetrischen Gegner einigen Teilstreitkräften wie der Luftwaffe bereits am zweiten Kriegstag die Munition ausgehen würde. Obwohl der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, im Vorfeld der Verhandlungen über das Sondervermögen den Investitionsbedarf bei der Bundeswehr für Munition und Ersatzteile mit etwa 20 Milliarden Euro bezifferte, findet sich dieser Posten nicht im Sondervermögen wieder, sondern soll künftig über den regulären Verteidigungshaushalt abgedeckt werden. Damit besteht die Gefahr, dass die dringend benötigte Wiederauffüllung der Munitions- und Ersatzteillager der Bundeswehr künftigen Haushaltsverhandlungen zum Opfer fällt und die Durchhaltefähigkeit der deutschen Streitkräfte damit weiterhin beeinträchtigt wird.

2022 wird kein einziger Cent aus dem Sondervermögen abfließen, 2023 wahrscheinlich weniger als zehn Prozent des Gesamtvolumens.

 

Erhebliche Defizite bei der Umsetzung des Sondervermögens

Neben den Planungslücken im Sondervermögen liegt die größte Gefahr für die Erfüllung deutscher Zusagen bei der NATO vor allem auch in der schleppenden Umsetzung und Verausgabung des Sondervermögens. Das schwerfällige und ineffiziente militärische Beschaffungswesen bleibt dabei der Flaschenhals einer beschleunigten Modernisierung der Bundeswehr. Um die umfassenden, teils vorgezogenen Verpflichtungen in der NATO erfüllen zu könnten, müssten Beschaffungsvorhaben entsprechend beschleunigt auf den Weg gebracht werden. Dass im Jahr 2022 aber kein einziger Cent aus dem Sondervermögen abfließt und im Jahr 2023 laut derzeitiger Haushaltsplanung weniger als ein Zehntel der verfügbaren Mittel – gerade einmal 8,5 Milliarden Euro – ausgegeben werden soll, zeigt, dass der Politik dies absehbar nicht gelingen wird. Ob die bis 2025 zu erfüllenden militärischen Beiträge an die NATO so umsetzbar sind, ist mehr als fraglich. Die von Kanzler Scholz persönlich zugesagte Zielmarke von zwei Prozent des BIP bei den Verteidigungsausgaben wird voraussichtlich bis 2024, möglicherweise sogar deutlich länger, nicht erreicht werden.

Die Gründe für das bürokratische Beschaffungswesen der Bundeswehr liegen zum Teil in den komplizierten rechtlichen Rahmenbedingungen, die mit der Verabschiedung eines Gesetzes zur Beschleunigung von Vergabeverfahren bereits angegangen wurden. Dass die Bundeswehr das Sondervermögen nur scheibchenweise und in vollkommen unzureichender Geschwindigkeit investiert, hat aber auch strukturelle Gründe. Das zuständige Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) kommt mit der Vergabe von Beschaffungsaufträgen an die Industrie nicht schnell genug nach und bedarf einer organisatorischen Neuaufstellung, um effizienter den Abfluss des Sondervermögens zu gewährleisten. Außerdem fehlen dem BAAINBw mit circa 1.300 unbesetzten Dienstposten etwa elf Prozent seiner Gesamtbelegschaft, weshalb die Behörde das erhöhte Auftragsvolumen mit seinen unzureichenden personellen Kapazitäten momentan nur schleppend abwickeln kann. Hier ist dringend zusätzliches Personal gefordert.

Zuletzt mangelt es insbesondere auch an der praktischen Umsetzung gemeinsamer europäischer Rüstungsvorhaben. Beispielhaft für diese Problematik steht das von Scholz in seiner Grundsatzrede am 27. Februar erwähnte deutsch-französisch-spanische Projekt zur Entwicklung eines zukünftigen Luftkampfsystems (FCAS), das vor allem ein Kampfflugzeug der neuesten Generation hervorbringen soll. FCAS ist aufgrund von Streitigkeiten der beteiligten Unternehmen über den Austausch sensibler Technologien gegenwärtig derart festgefahren, dass viele Beobachter ein komplettes Scheitern des Projekts nicht mehr ausschließen. Hier wäre die deutsche Politik, zuvorderst das Bundeskanzleramt, gefordert, nicht nur bei der Ankündigung, sondern auch der Umsetzung wegweisender gemeinsamer Rüstungsprojekte, welche die europäische Technologieführerschaft und Verteidigungsfähigkeit auf Jahrzehnte sichern würden, Verantwortung zu übernehmen und sich für die erfolgreiche Durchführung und Abwicklung solcher Projekte einzusetzen.

 

Jenseits der 100 Milliarden: Eine kulturelle „Zeitenwende“ ist gefordert

Um die deutschen Verpflichtungen gegenüber der NATO zu erfüllen, ist nicht nur eine Nachbesserung hinsichtlich Umsetzung und Gestaltung des Sondervermögens gefordert, sondern ein grundlegender Wandel in der deutschen Sicherheitspolitik und eine strategische Neuaufstellung Deutschlands vonnöten. Daher darf sich die deutsche „Zeitenwende“ nicht allein auf die finanz- und rüstungspolitischen Aspekte der Modernisierung der Bundeswehr beschränken, sondern muss nachhaltiger und umfassender gestaltet werden. Dazu gehört neben der angestoßenen materiellen Trendwende auch eine personelle Trendwende bei den deutschen Streitkräften und ein grundlegendes sicherheitspolitisches Umdenken, ein Wandel in der strategischen Kultur sowie eine engere Verzahnung zwischen Militär, Politik und Gesellschaft.

Die deutsche Politik muss erklären, dass Frieden und Stabilität wo nötig auch mit militärischer Härte verteidigt werden müssen.

Während die materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr trotz der Defizite des Sondervermögens mit dessen Umsetzung in den kommenden Jahren eine deutliche Verbesserung erleben dürfte, ändert das derzeitige Maßnahmenpaket der Bundesregierung nichts an dem eklatanten Personalmangel, mit dem die deutschen Streitkräfte seit Jahren kämpfen. An der grundlegenden Situation, dass in den deutschen Streitkräften durch die Bank etwa 20.000 Dienstposten unbesetzt sind, hat sich angesichts stagnierender Personalzahlen seit Jahren wenig geändert. Zusätzlich steuert die Bundeswehr auf eine demografische Abbruchkante Ende des Jahrzehnts hin, wenn geburtenstarke Jahrgänge aus dem Dienst ausscheiden und aus den deutlich geringeren Zahlen an Schulabgängern nicht ersetzt werden können. Der Idee eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres, die vor allem aus christ-demokratischen Kreisen eingebracht wird, steht die Bundesregierung trotzdem kritisch gegenüber.

Dabei ginge es bei der Einführung eines Dienstes junger Menschen in der Bundeswehr weniger darum, die unbesetzten Posten für gut ausgebildete Spezialisten mit Wehrdienstleistenden zu füllen. Dennoch könnte ein Gesellschaftsjahr ein Transmissionsriemen sein, der größere Teile kommender Geburtenjahrgänge mit der Bundeswehr in Kontakt bringt und eine neue Berufswelt erschließen lässt. Die Wehrpflicht hat gezeigt, dass sich größere Anteile der jungen Bevölkerung ausgehend von den Erfahrungen und Perspektiven danach für einen längeren Dienst als Zeit- oder Berufssoldaten in der Bundeswehr weiterverpflichten. Hierin liegt die Chance für die personelle Trendwende der Bundeswehr – das Gesellschaftsjahr könnte somit auch dazu beitragen, die gesuchten Spezialisten für die deutschen Streitkräfte zu gewinnen. Zudem könnte durch den verpflichtenden Dienst auch die Reserve aufwachsen. Diese muss angesichts der erhöhten Zusagen Deutschlands an die NATO künftig tief in die aktiven Verbände integriert werden, um beim Einsatz der für die NATO vorgemerkten Großverbände in potenziellen Konfliktgebieten beispielsweise Sicherungsaufgaben im rückwärtigen Raum zu übernehmen.

Zudem könnte ein Gesellschaftsjahr der Nukleus für eine engere Verzahnung zwischen der Bundeswehr und der deutschen Gesellschaft und die Etablierung einer strategischen Kultur sein. Nach Jahren der Entfremdung der deutschen Öffentlichkeit von sicherheitspolitischen Realitäten bedarf es einer breiten Auseinandersetzung der Gesellschaft mit den Streitkräften und Fragen der Verteidigungspolitik. Dies müsste flankiert werden durch politische Führung, die der Öffentlichkeit auch unbequeme Wahrheiten vermittelt und mit der Kultur der extremen militärischen Zurückhaltung aufräumt. Stattdessen muss die deutsche Politik kommunizieren, dass die weltweite Bedrohungslage durch zunehmende globale Großmachtrivalitäten massiv gestiegen ist, Frieden, Stabilität und die internationale Ordnung durch autokratische Systeme herausgefordert werden und nicht nur durch Deeskalation und Diplomatie, sondern wo nötig auch mit militärischer Härte verteidigt werden müssen. Eine strategische Kultur muss daher Abschreckung und Verteidigung als politische Grundaufgabe begreifen und darin auch den Daseinszweck von Streitkräften in demokratischen Staaten erkennen. Nur wenn diese Erkenntnis wieder verfängt, kann die deutsche „Zeitenwende“ auch nachhaltig gelingen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine und die folgende Neuaufstellung in der NATO erfordern von der deutschen Politik einen großen Wurf in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das Sondervermögen und die angestoßenen Maßnahmen zur Modernisierung der Bundeswehr stellen dafür lediglich den ersten Schritt dar. Zwar löst Deutschland mit den am 27. Februar angekündigten Vorhaben seine Zusagen von 2014 endlich ein – gleichzeitig sind die Anforderungen an europäische NATO-Mitglieder, zuvorderst Deutschland, mit der im Juni 2022 beschlossenen Neuaufstellung der NATO zur Stärkung von Verteidigung und Abschreckung aber gestiegen. Dies erfordert neben Nachbesserungen beim Sondervermögen und bei seiner bisher schleppenden Umsetzung auch eine personelle und kulturelle „Zeitenwende“. Nur so wird es gelingen, die nötigen Weichenstellungen in der Sicherheitspolitik einzuleiten und der deutschen Rolle als Rückgrat der konventionellen Verteidigung an der NATO-Ostflanke gerecht zu werden.

 


 

Philipp Dienstbier war bis Oktober 2022 Referent für Transatlantische Beziehungen in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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