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Pilar Olivares, Reuters

Auslandsinformationen

Indigene Identität in Lateinamerika

von Dr. Georg Dufner

Kultureller Reichtum und sozialer Sprengstoff

Indigene Identität in Lateinamerika unterscheidet sich fundamental von postmaterieller Identitätspolitik im Westen, sie könnte jedoch von deren Aufschwung profitieren. Aufgrund tiefsitzender Repräsentationsdefizite ist die Frage indigener Politik in quasi allen Ländern der Region präsent, jedoch in stark unterschiedlicher Ausprägung. Für die Region bedeutet indigene Identität eine weitere Manifestation der Ungleichheit ihrer Gesellschaften und eine Herausforderung an die Politik.

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Vorbemerkung

Lateinamerika ist die Weltregion mit einem der höchsten Anteile indigener Völker. Etwa 45 Millionen Personen werden zu dieser Gruppe gezählt, womit sie circa 8,3 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Auf dem Subkontinent ist die Frage, wie indigene Völker behandelt werden, politisch langfristig virulent. Sie hat auch im 21. Jahrhundert nichts an ihrer Bedeutung eingebüßt und ist ein wichtiger Faktor lateinamerikanischer Politik. Die Tatsache, dass es bis heute nur wenige Beispiele der Machtübernahme indigener Politiker gibt, sollte über diese Tatsache nicht hinwegtäuschen. Vielfach hat das Zusammenfallen sozialer Forderungen mit ethnischer (Selbst-)Zuschreibung dafür gesorgt, dass sich Bewegungen und Politiker der Linken stärker um indigene Themen und Gruppen gekümmert haben als jene der Mitte oder der Rechten.

Lateinamerikas politische Systeme haben seit der Unabhängigkeit ein immenses Repräsentationsdefizit, wenn es um die indigenen Völker des Subkontinents geht. Das Versprechen des liberalen Rechtsstaats – die Garantie gleicher Rechte und Pflichten – ist bis ins 21. Jahrhundert nur partiell eingelöst worden. Der Staat – und insbesondere der Rechtsstaat – ist in ländlichen Regionen nur spärlich bis gar nicht präsent, Infrastruktur in Gesundheit, Bildung und Verkehr kommen den indigenen Völkern in wesentlich geringerem Maße zugute als den Bewohnern urbaner Zentren. Die sozialen Indikatoren sind in nahezu jeder Hinsicht schlechter als in nichtindigenen Gebieten. Unter dem lateinamerikanischen Phänomen der tiefen sozialen Ungleichheit leiden indigene Bevölkerungsgruppen in erhöhtem Maße. Konflikte um Landrechte, teils noch aus vorkolonialen Zeiten stammend, sowie um politische und kulturelle Autonomierechte gehören zur Tagesordnung.

So kulturell divers und organisatorisch heterogen die indigenen Völker Lateinamerikas auch sein mögen, so sind sie doch durch zentrale Themen sowie durch ihre unterschiedlich stark ausgeprägte politische, kulturelle und soziale Ausgrenzung geeint: Für diese überwiegend zur ländlichen Bevölkerung zählenden Gruppen sind insbesondere die – interkulturell zu verstehenden – Themen Bildung, Gesundheit, eigene Mechanismen der Rechtsprechung und Entscheidungsfindung sowie die rechtliche Sicherheit von Landtiteln zentrale Ansprüche. Für die in zunehmender Zahl auch in Städten lebende indigene Bevölkerung ist darüber hinaus die Garantie kultureller Rechte von hoher Bedeutung. Diese Themen spiegeln sich in der klassischen Definition indigener Völker von José Martínez Cobo, Sonderberichterstatter der VN-Unterkommission zur Verhinderung der Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten, wider.

Es ließe sich ergänzen, dass die von indigenen Völkern bewohnten ländlichen Gebiete in vielen Fällen Lagerstätten für Rohstoffe wie Erdgas, Erdöl oder Mineralien sind oder eine bedeutende Rolle für die Energiegewinnung aus Wasserkraft spielen, was das Konflikt­potenzial um Landrechte insbesondere im Rahmen von Infrastruktur- und Abbauvorhaben zwischen Indigenen, Staat und Privatwirtschaft um ein Vielfaches multipliziert. Allgegenwärtige Erscheinungen in diesem Konflikt sind Frustration über fehlende staatliche Aufmerksamkeit, gewaltsamer Protest gegen den abwesenden Staat oder die unregulierte Privatwirtschaft, Kriminalisierung dieser Proteste durch den Staat sowie Landflucht, oft in Zusammenhang mit Identitätskonflikten und Armutsrisiken. Bemühungen, die Interessen indigener Völker und deren traditionelle Entscheidungsmechanismen in den Nationalstaaten einzubinden, sind über Anfänge bisher nicht herausgekommen.

Die indigenistische Politik in Lateinamerika ist in einem gänzlich anderen Entwicklungszustand als die postmaterielle Identitätspolitik in westlichen Gesellschaften.

Auch der lateinamerikanische Legalismus, der in vielen Ländern zu teilweise fortschrittlichen Gesetzgebungen geführt hat, krankt mit Blick auf die Rechte indigener Völker und Individuen fundamental an fehlender Präsenz und Unabhängigkeit staatlicher Institutionen. Oft mangelt es an politischem Willen, dem Verständnis der indigenen Bevölkerung als gleichberechtigte Staatsbürger und an Kompetenz in interkultureller Kommunikation. In der Konsequenz werden einzelne rechtliche Instrumente, wie etwa aus dem Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker (1989) der Internationalen Arbeitsorganisation oder der VN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker (2007), mit überhohen Erwartungen überfrachtet, aber kaum praktisch umgesetzt. Auch befinden sich teilweise fortschrittliche Autonomierechte in konstanter Spannung mit den Vorrechten des lateinamerikanischen Präsidentialismus, insbesondere, wenn dieser mit einer zentralistischen Staatsarchitektur einhergeht, was ihre wirksame Implementierung erschwert.

Identitätspolitik – so sollte man meinen – hat unter diesen Umständen einen fruchtbaren Nährboden. Dennoch ist die Ausgangssituation, die Reaktion der Entscheidungsträger und damit auch das Bild in einzelnen Staaten der Region, sehr unterschiedlich. Auch war die Bilanz indigener Parteien in Lateinamerika bislang wenig überzeugend. Generell ist zu sagen, dass indigenistische Politik, also Politik, die sich auf ethnische oder kulturelle Eigenschaften und Lebensbedingungen indigener Völker bezieht, in Lateinamerika in einem gänzlich anderen Entwicklungszustand ist als die postmaterielle Identitätspolitik in westlichen Gesellschaften, da sie auf fundamental andere Forderungen rekurriert, nämlich sowohl die Forderung nach Anerkennung der eigenen Kultur als auch sehr konkrete materielle Forderungen. Trotz dieser Differenzen der beiden Phänomene ist nicht auszuschließen, dass auch die Forderungen Indigener von Erfolgen der Identitätspolitik in westlichen Gesellschaften profitieren können.

 

Die regionale Situation

Besonders hohe Organisationsgrade indigener politischer Bewegungen finden sich in den Andenländern Bolivien und Ecuador. Die Macht in Quito konnte die Regierung von Rafael Correa 2007 auch dank dem Versprechen an die indigene Bevölkerung des Landes gewinnen, eine inklusive Politik zu betreiben, die der interkulturellen Natur des Staates Rechnung tragen werde. Es gab jedoch vielerlei Hinweise, die vermuten lassen, dass diese Annäherung als rein taktisch anzusehen ist. Während in dem Äquatorstaat die indigenistische Fassade sehr bald zugunsten einer harten linkspopulistischen Machpolitik aufgegeben wurde, hielt sich die Illusion einer „indigenen“ Regierung in der 14-jährigen Regierungszeit Evo Morales’ in Bolivien (2005 bis 2019) deutlich länger. Faktisch basierte der Movimiento al Socialismo (­MAS) zu weit größeren Teilen auf einer gewerkschaftsähnlichen als auf einer an den politischen Traditionen der dominierenden Aymara fußenden Organisationsform – für die unter anderem eine regelmäßige Ämterrotation konstitutiv ist –, was auch viele der frühen Weggefährten Morales’ kritisierten. In Bolivien werden 6,2 Millionen Menschen und somit 62,2 Prozent der Bevölkerung als Indigene angesehen.

Zwar kann die Regierung Morales sich Erfolge bei der verbesserten sozialen Anerkennung der Aymara- und Quechua-Bevölkerung im strukturell stark ethnisch segregierten und von tiefsitzendem Alltagsrassismus geprägten Bolivien auf die Fahnen schreiben. Tatsächlich wurde die Regierung Morales jedoch von den Interessen der Kokabauern und weiterer gewerkschaftlich organisierter Sektoren der informellen Wirtschaft Boliviens dominiert. Als grundlegend von kulturell-politischen Praktiken der Aymara oder Quechua bestimmt konnte sie nicht angesehen werden. Darüber kann auch die erfolgreiche internationale Vermarktung der Regierung Morales, die mit seiner Ernennung zum „World Hero of Mother Earth“ durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2009 einen ersten Höhepunkt erlangte, nicht hinwegtäuschen. Von gerechter Behandlung und einem respektvollen Umgang, insbesondere mit den indigenen Gruppen des Tieflands, konnte erst recht keine Rede sein. Sowohl die Konflikte um die Ausbeutung der Regenwaldgebiete ohne die in der Verfassung garantierten Konsultationsprozesse (emblematisch steht hierfür der Konflikt um das Schutzgebiet ­TIPNIS ab 2009) als auch der Umgang der Regierung mit den Brandrodungen des Jahres 2019 werfen ein Schlaglicht auf die problematische Verwendung des Labels „indigen“ mit Blick auf die Regierung Morales. Deshalb kann auch das Versprechen eines seit 2009 offiziell plurinationalen Staates bis heute nicht als erfüllt angesehen werden. Die autoritäre Machtpolitik und insbesondere die Förderung rassistischer Stereotype und Gegenüberstellungen durch die Vertreter des ­MAS haben dem Ansehen vermeintlich „indigener Politik“ sowohl innerhalb wie außerhalb indigener Gruppen einen Bärendienst erwiesen. So erleichterte der überzogene Diskurs Morales’ es seinen Gegnern, erneut eine Position der Segregation bzw. der Assimilation indigener Gruppen in eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft einzunehmen. Liberale Reformer der Mitte haben es in diesem Klima erneut schwer, sich für indigene Rechte einzusetzen.

Wer die kulturelle Vielfalt nicht respektiert, kann in der bolivianischen Politik keinen Erfolg haben oder muss mit sozialer Konfliktivität leben.

Die nach dem Abgang Morales im November 2019 veränderte politische Lage ist instabil. Es wird sich mittelfristig noch zeigen müssen, wie viel die alten politischen Eliten aus der Vergangenheit, die sich in vielfacher Diskriminierung der indigenen Bevölkerung äußerte, gelernt haben. Zwar hat die Regierung Morales in den Augen der weißen Bevölkerung zur Diskreditierung indigener Politik geführt, faktisch ist aber die ethnische Zugehörigkeit zur Gruppe, insbesondere zu jener der Hochlandindigenen, in Bolivien noch immer ein sehr wichtiger Faktor sowohl hinsichtlich Identitätsbildungsprozessen als auch bei politischer Mobilisierung. Wer diese kulturelle Vielfalt nicht respektiert, kann in der bolivianischen Politik keinen Erfolg haben oder muss mit hoher sozialer Konfliktivität leben.

Hohe indigene Bevölkerungsanteile allein bedeuten nicht automatisch eine erfolgreiche Repräsentanz. Peru besitzt trotz sieben Millionen indigener Einwohner, einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 24 Prozent, derzeit keine indigene Bewegung von nennenswerter Stärke und nationaler Reichweite. Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre führte zu einer verbesserten Präsenz des Staates in den Hochlandregionen sowie durch Landflucht und Verstädterung zu Prozessen der Akkulturation. Die bedeutenden indigenen Bevölkerungsanteile des peruanischen Amazonaseinzugsgebietes leiden demgegenüber an mangelnder Organisationsstärke und an der allgegenwärtigen Korruption, die selbstverständlich auch vor indigenen Dachorganisationen nicht Halt macht. Die soziale, aber auch definitorische und im Selbstverständnis vorhandene Trennung in Hoch- und Tieflandindigene gilt in Peru, Ecuador und Bolivien. In Peru führt dies soweit, dass auch im allgemeinen Sprachgebrauch von Bauern (campesinos des Hochlandes, die zu den Ethnien Quechua und Aymara gehören) und Indigenen (indígenas des Tieflands) gesprochen wird. Die Völker der Hochlandregionen sind wesentlich besser an urbane Zentren angebunden sowie in Entscheidungsfindungsprozesse des Staates und in dessen Infrastruktur eingebunden. Die Autoidentifikation als „indigen“ ist in Peru auch aufgrund des mit der Angehörigkeit zu indigenen Gruppen assoziierten sozialen Status dementsprechend niedrig.

Mehr als eindrücklich zeigt auch das Beispiel Guatemala, dass eine indigene Bevölkerung selbst bei kultureller Homogenität und sehr hohen Bevölkerungsanteilen nicht automatisch Repräsentation erlangt. Die drängenden Probleme der indigenen Bevölkerung, die 5,9 Millionen Menschen zählt und damit einen Bevölkerungsanteil von 41 Prozent repräsentiert, bleiben in dem zentralamerikanischen Land aus mehreren Gründen unbeantwortet. Weder existiert ein Bewusstsein der sich überwiegend als „weiß“ definierenden Eliten und der traditionellen Parteien für die Nöte der indigenen Bevölkerung noch eine kohärente Bewegung der Maya-Indigenen, die den spezifischen Anliegen dieser Ethnie zum Durchbruch verhelfen könnte. Indigene Parteien konnten keine ausreichende Attraktivität für die Mehrheit der indigenen und noch weniger für nichtindigene Wähler entwickeln. Konsistente Wahlerfolge auf nationaler Ebene blieben aus. Der Kandidat der wichtigsten indigenen Partei ­WINAQ erreichte bei den Präsidentschaftswahlen nur 5,22 Prozent der Stimmen. Zugleich schreckt die aus dem Drogenhandel resultierende, allgegenwärtige Gewalt auch in ländlichen Regionen potenzielle Bewerber für politische Ämter extrem ab. Das globalisierte Drogengeschäft verhindert so eine Stabilisierung indigener Politik, die sich insbesondere um die Themen Bildung, Gesundheit und rechtliche Sicherheit von Landtiteln kümmert. Auch hier wirkt Korruption in hohem Maße zersetzend auf das politische System, da es korrupte Eliten und mit dem Drogenhandel vernetzte Sektoren strukturell bevorzugt.

Brasilien, das größte Land des Subkontinents, hat bis heute keine schlagkräftige indigene Bewegung hervorgebracht, trotz seiner insgesamt 305 indigenen Völker. Die 900.000 Indigenen Brasiliens repräsentieren nur 0,5 Prozent der brasilianischen Bevölkerung und leiden ähnlich wie die Tiefland­indigenen der andinen Nachbarstaaten Bolivien, Ecuador und Peru unter einem deutlich geringeren Organisationsgrad, weitgehender Marginalisierung und einer Ausgrenzung von den staatlichen Entscheidungsfindungsmechanismen.

Das Subsidiaritätsprinzip der Bundesstaaten und Gemeinden erlaubt es, die Konfliktivität zwischen Staat, Wirtschaft und indigenen Völkern entscheidend zu reduzieren.

Die Liste der Staaten, in denen eine wirksame Repräsentanz indigener Bevölkerung zumindest auf regionaler Ebene existiert, lässt sich durch Mexiko und Panama ergänzen. In Mexiko stechen vor allem die Bundesstaaten Oaxaca (hier vor allem die hohe Zahl indigener Bürgermeister), Yucatán und Chiapas hervor. Die föderale Struktur Mexikos hat in vielerlei Hinsicht das Potenzial, indigene Forderungen besser abzubilden, als dies in anderen Staaten der Region der Fall ist. Das Subsidiaritätsprinzip der Bundesstaaten und Gemeinden erlaubt es, Konzepte wie Gemeindebesitz, kulturelle und territoriale Rechte in einem Maß zu verankern, dass die Konfliktivität zwischen Staat, Wirtschaft und indigenen Völkern entscheidend reduzieren konnte. Das zentralamerikanische Panama ist insofern erwähnenswert, als dass die gut organisierte indigene Bevölkerung in diesem relativ kleinen Land schnell wächst (aktuell beläuft sie sich auf 12,3 Prozent der Bevölkerung). Dies verstärkt ihr politisches Gewicht bedeutend und wird Forderungen nach Anpassungen oder Verzicht auf die bevorstehenden großen Infrastrukturvorhaben des Landes deutlich erhöhen. Wie auch in anderen karibischen und zentralamerikanischen Staaten sieht sich die afro-panamaische Bevölkerungsgruppe am ehesten an die Entwicklungen westlicher Identitätspolitik angebunden. Die Nähe zu beziehungsweise – im Falle der ehemals britischen Territorien – die direkte Anbindung an den englischen Sprach- und Kulturraum tut ein Übriges, um eine stärkere Rezeption postmaterieller Identitätspolitik herzustellen, als dies in weiten Teilen Lateinamerikas der Fall ist.

 

Diagnose und Schlussfolgerungen

Indigene Politik ist eine vielgestaltige lateinamerikanische Realität, auf die die Politik der Nationalstaaten Antworten finden muss. Die akademische Diskussion, ob es sich bei indigener Identität im 21. Jahrhundert um einen kulturellen Essentialismus handele, soll daher hier nicht vertieft werden. In der regional differenzierten Betrachtung wird klar, dass konkrete Grundlagen und in einigen Fällen auch gefestigte Organisationsformen für indigenistische Politik in vielen Staaten Lateinamerikas existieren. Ob und wie diese Gruppeninteressen im Einzelfall zukünftig ausfallen werden – ob als antisystemischer Protest oder als produktiver Teilnehmer des politischen Wettbewerbs mit dem Ziel einer vollendeten liberalen Demokratie – hängt stark von den politischen Systemen und den Weichenstellungen der jetzigen Entscheider ab. Für die lateinamerikanische Politik wird entscheidend sein, ob sie einen latent antisystemischen, strategischen Essentialismus indigener Völker durch die kontinuierliche Unterschätzung und Nichtbeachtung der oben genannten Themenbereiche – mit allen damit verbundenen Risiken – weiter unterfüttern wird oder ob sie durch geeignete Maßnahmen zu dessen Teilhabe als eine produktive Kraft innerhalb seiner interkulturellen Gesellschaften beitragen kann. Ebenso stellt sich die Frage, ob der – mit Ausnahme Mexikos – sehr stark ausgeprägte Zentralismus in den präsidentiellen Systemen Lateinamerikas insoweit reformiert werden kann, als dass sich bestimmte, teils bereits vorgesehene, Autonomierechte verwirklichen lassen.

Die Umsetzung einer besseren Teilhabe indigener Völker muss über mehrere Wege erfolgen. Das Regionalprogramm Politische Partizipation Indigener der Konrad-Adenauer-Stiftung vertritt zusammen mit seinen indigenen Experten, Parteivertetern und Wissenschaftlern folgende Punkte:

 

  • Die politischen Parteien der Region müssen größere Anstrengungen zur Eingliederung der indigenen Bevölkerung – insbesondere im urbanen Raum – unternehmen und deren zentralen Themen ansprechen.
  • Der Staat muss die interkulturelle Realität anerkennen und die Rechte seiner Bürger indigener Abstammung durch seine Präsenz zum Schutz und zur Förderung indigener Völker auch in abgelegenen Regionen effektiv sicherstellen.
  • Die Fähigkeit zum interkulturellen Dialog und das Wissen über die Situation in indigenen Gebieten ist bei Entscheidungsträgern in Bildung, Politik, Wirtschaft und Medien zu gering, historisch gewachsene Vorurteile sind dementsprechend stark. Es werden große Anstrengungen in interkultureller Bildung und Kommunikation notwendig sein, um dies mittelfristig zu ändern. Solche Bildungsbemühungen können entscheidend zum Abbau der in Lateinamerika traditionell großen Zahl politisch und wirtschaftlich-sozial bedingter Konflikte beitragen.
  • Insbesondere für die indigenen Völker, die in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten leben, müssen Möglichkeiten zur Integration ihrer Mechanismen zur Rechtsprechung und Entscheidungsfindung in den Nationalstaat gefunden werden. Hierzu ist vor allem die praktische Umsetzung eines effektiven Rechtspluralismus und die Möglichkeit zur Wahrnehmung von Autonomierechten vonnöten sowie die Sicherung von Parteistrukturen unabhängiger indigener Kandidaturen.
  • Die effektiv und mit ehrlicher Absicht (buena fé) durchgeführte freie und transparente Vorabkonsultation ist ein rechtlich etablierter Weg zum Wiedergewinn verloren gegangenen Vertrauens und zur erfolgreichen Durchführung von Großvorhaben. Der Staat muss sinnvolle Konsultationsverfahren planen, über sie informieren und deren Einhaltung durch indigene Völker und die Wirtschaft unparteiisch überwachen.

 

Durch kulturelle Eigenart geprägte Politik, die Gruppeninteressen verfolgt, ist nicht per se als negativ abzulehnen. Allerdings kann deren konfrontatives und spaltendes Potenzial durch die Anerkennung interkultureller Gesellschaften sowie bürgerlicher Rechte und Pflichten entscheidend gemildert werden. Die Geschichte Lateinamerikas zeigt, dass ethnische Parteien selbst bei hohen Anteilen indigener Bevölkerung kein dauerhaftes Erfolgskonzept sind. Sicher scheint aber: Wenn die oben genannten Punkte nicht respektiert werden, ist ein Erstarken indigener Identitätspolitik, die sich möglicherweise auch als antisystemisch versteht, langfristig wahrscheinlich. Anders als die postmaterielle Identitätspolitik jedweder Couleur hat indigene Identitätspolitik eine solide Basis in dem verwurzelten historischen Verständnis indigener Minderheiten als eigene Völker oder Nationen. Sie ist deswegen eine politische und ideologische Herausforderung für die Stabilität lateinamerikanischer Demokratien. Ob indigene Identität zum sozialen Sprengstoff wird, sich ein Wiedererstarken ethnisch begründeter Politik anbahnt oder sich eben diese Identität als kultureller Reichtum manifestieren kann, liegt in den Händen der Politik.

 


 

Dr. Georg Dufner ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bolivien und des Regionalprogramms Politische Partizipation Indigener in Lateinamerika.


 

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