Ausgabe: 2/2020
Heldenbegräbnis
Der 22. November 2019 war ein zugig-kalter Tag in Vilnius, Litauen. Für die Menschenmenge, die sich vor der Kathedrale versammelt hatte, kam der Wind jedoch wie bestellt. Stolz hielten sie ihm ihre mitgebrachten Fahnen entgegen und ließen den Platz erstrahlen in den Farben weiß und rot – das häufigste Motiv: der altbelarussische rote Streifen auf weißem Grund. Anlass dieser besonderen Zusammenkunft war eine historische Umbettung. Im Juli 2017 waren Arbeiter bei Grabungen am sagenumwobenen Gediminas-Hügel auf menschliche Gebeine aus dem 19. Jahrhundert gestoßen und eine Untersuchung bestätigte, dass es sich um die Überreste eines Anführers des Januaraufstands und dessen engster Gefolgsleute handelte, die im Jahr 1864 für ihren verbissenen, aber glücklosen Freiheitskampf in der letzten von drei großen Erhebungen gegen die Zarenherrschaft hingerichtet worden waren. Sein Erbe beanspruchen gleich mehrere Länder, was sich auch in der Schreibweise des Namens des Aufständlers niederschlägt. Während die Litauer von „Konstantinas Kalinauskas“ und die Polen von „Konstanty Kalinowski“ sprechen, nannte sich der im heutigen Belarus geborene Revolutionär selbst auf Belarussisch „Kastuś Kalinoŭski“. Für Polen und Litauen sind die Aufstände bis heute identitätsstiftend und so nahmen beide Staatspräsidenten wie selbstverständlich an der Umbettung teil. Doch obwohl Belarus gleichermaßen von der Teilung betroffen war und die Kämpfe auf seinem Gebiet ausgetragen wurden, tut sich Minsk als Verbündeter Moskaus weiterhin schwer mit dem Gedenken an den antizaristischen (lies antirussischen) Freiheitskämpfer. Umso bemerkenswerter war, dass mit dem stellvertretenden Premierminister Ihar Pyatryshenka tatsächlich ein hoher Staatsvertreter gekommen war, aber eben demonstrativ nicht der höchste – Präsident Aljaksandr Lukaschenka hielt zeitgleich eine Beratung über regionale Landwirtschaft ab. Seine nach Vilnius angereisten Landsleute hingegen versammelten sich bewusst nicht unter der offiziellen rot-grünen Staatsflagge, sondern dem historischen Modell der frühen 1990er Jahre, das wiederum auf die kurzlebige Belarussische Volksrepublik (BNR) aus dem Jahr 1918 zurückgreift und heute in Belarus de facto verboten ist. Diese Momentaufnahme wirft ein Schlaglicht auf die Entwicklung der belarussischen nationalen Identität: Zum einen besteht weiterhin ein sichtbarer Graben zwischen dem post- bzw. neosowjetischen prorussischen Verständnis auf der einen und der sprachlich-kulturellen Sichtweise auf der anderen Seite, welche das europäische Erbe betont und eine europäische Zukunft einfordert. Obwohl der Staat lange Zeit prorussisch eingestellt war, zeigt sich aktuell eine vorsichtige Öffnung für die andere, europäische Seite der belarussischen Identität, welche nur vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen Minsk und Moskau verstanden werden kann.
Wann beginnt Belarus?
Die Herausbildung der belarussischen Identität, die während der wechselvollen, oft von Fremdherrschaft gezeichneten Geschichte des Landes immer wieder aktiv behindert und zurückgeworfen wurde, ist von vielfachen Brüchen, aber auch wichtigen Kontinuitäten gezeichnet. Die Begriffe „belarussisch“, „Belarus“ und „Belarussen“ (veraltet auch „Weißrussen“) entstanden erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, während das Land unter der Herrschaft der russischen Zaren stand. Zuvor hatten sich die dort lebenden Menschen zu erheblichen Teilen als „Litauer“ verstanden, abgeleitet vom frühneuzeitlichen Großfürstentum. Dessen Staatsname wird im Deutschen als „Litauen“ wiedergegeben, doch ist das heutige Verständnis von Litauen als dem Nationalstaat in seinen modernen Grenzen mit gleichnamigem (baltischen) Volk und dessen baltischer Sprache eine Begriffsverengung. Das mittelalterliche Litauen, dessen namensgebende Region (slawisch „Litwa“) sich bis östlich von Minsk erstreckte, war Heimat vieler Völker, Sprachen und Religionen – die Mehrheit unter ihnen slawisch. So erfolgte für die Belarussen im 19. Jahrhundert ein Wechsel der (Selbst-)Bezeichnung für Land, Volk und Sprache. Dies erschwert heute das Anknüpfen an vorangegangene identitätsbildende historische Größen und scheint Argumentationen Plausibilität zu verleihen, die die nationale Identität allein auf den Staat der Gegenwart, die seit 28 Jahren bestehende Republik Belarus, und deren sowjetisch-russische Vorgeschichte stützt. Dabei begann die belarussische Staatlichkeit bereits im Mittelalter. Das Großfürstentum, welches ab dem 13. Jahrhundert die slawischen und baltischen Stämme der Region zusammenführte, reichte in seiner Blütezeit von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und hatte über ein halbes Jahrtausend Bestand. 1569 formierte sich der Staat im Bündnis mit Polen als Adelsrepublik neu, welche für etwa 200 Jahre zum Hort relativer Toleranz und Freiheit wurde. Sie diente aber vor allem der gemeinsamen Abwehr äußerer Gefahren – allein mit den Moskowitern führte das Land vom 14. bis 17. Jahrhundert zwölfmal Krieg. Gleichzeitig führte dies landesweit zu einer starken Polonisierung der politischen und kulturellen Eliten sowie der urbanen Zentren.
Nach den gewaltsamen Teilungen der Rzeczpospolita Ende des 18. Jahrhunderts durch Preußen, Russland und Österreich standen diejenigen, die den neuen Status quo nicht hinnehmen wollten, vor der Frage, für welchen Staat sie, zur Not mit Waffengewalt, eintreten sollten: eine Restauration der polonisierten Adelsrepublik oder moderne (zu homogenisierende) Nationalstaaten? Während vor allem in Polen und dem heutigen Litauen die Idee des Nationalstaats immer mehr an Konjunktur gewann und breite Teile der zumeist katholischen polnisch- bzw. litauischsprachigen Bevölkerung in Abgrenzung zur russischsprachigen Orthodoxie ein nationales Bewusstsein entwickelten, nahm die belarussische Nationalbewegung nur langsam an Fahrt auf. Weite Teile des Adels waren polonisiert, andere verarmt oder nach dem Januaraufstand gezielt in die innerrussische Verbannung geschickt worden. So lebte das Gros der belarussischen Bevölkerung in bäuerlich-ländlichen Strukturen und fühlte sich zwar der unmittelbaren Heimat verbunden, nicht jedoch zwangsläufig einer nationalen imagined community. Die zaristische Administration hingegen betrieb eine systematische Russifizierungspolitik ihrer neuen „Westgebiete“. Sie präsentierte sich als Befreierin vom „polnischen Joch“, erklärte die Landessprache, in der immerhin bereits Europas erste schriftliche Verfassung erschienen war, zum russischen Dialekt und zerstörte Strukturen, die an die „goldenen Zeiten“ der Eigenstaatlichkeit erinnerten, darunter alle Rathäuser des Landes. Auch die griechisch-katholische Kirche, welcher der Großteil der Belarussen angehörte, wurde verboten und die Gläubigen wurden zur „Rückkehr“ in die russisch-orthodoxe Kirche gedrängt. Die Behörden blieben mit dieser Politik nicht ohne Erfolg. Dennoch formierte sich eine belarussische Nationalbewegung, vor allem im stark durch Belarussen geprägten Gebiet Vilnius, und am 25. März 1918, noch unter deutscher Besatzung, verkündete der Allbelarussiche Kongress die Unabhängigkeit der kurz zuvor ausgerufenen Belarussischen Volksrepublik (BNR). Dieser erste Staat, der „Belarus“ explizit im Namen trug, sollte jedoch nur von kurzer Dauer sein. Bereits im Jahr 1919 wurde er durch die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) „zwangsersetzt“ und der Westen des Landes kam auf zwei Jahrzehnte zu Polen.
Tabula rasa?
Fragt man einhundert Jahre später die Menschen in Belarus nach den aus ihrer Sicht relevantesten Ereignissen ihrer Geschichte, so tritt all dies jedoch für viele zurück hinter die späteren Geschehnisse des 20. Jahrhunderts. In einer Umfrage der Nationalen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 2016 kam der Sieg im großen Vaterländischen Krieg bei allen Altersgruppen deutlich an erster Stelle, gefolgt vom Zerfall der Sowjetunion und der Tschernobylkatastrophe. Die radikalen Umwälzungen des blutigen 20. Jahrhunderts bedeuteten prägende Einschnitte in die Mentalität, Werte und Identität der Bevölkerung. Nachdem auch Belarus zunächst von der leninschen Nationalitätenpolitik profitiert hatte, die die Sprachen und Kulturen der Völker der Sowjetunion förderte, begannen bereits 1929 Zwangskollektivierung, Terror und Massendeportationen, die auf eine faktische Auslöschung der nationalen Eliten abzielten. Die Aufteilung Polens gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt führte 1939 zwar zum Zusammenschluss der belarussischen Gebiete, doch sollte wenig später durch den deutschen Vernichtungskrieg und Holocaust ein Drittel der Bevölkerung das Leben verlieren. Gleichzeitig diskreditierten sich die verbliebenen antisowjetischen Kräfte – unter ihnen viele Opfer Stalins – durch Zusammenarbeit mit den Nazis und wurden bei Kriegsende vertrieben oder exekutiert. Andererseits wurde der Zweite Weltkrieg zum Ausgangspunkt des Partisanenmythos, in dem manche einen „allerersten Ausdruck eines kollektiven belarussischen Volkswillens“ erkennen. Der Sieg über Nazideutschland bedeutete einen Neuanfang und wurde ein zentraler Pfeiler im sowjetischen Selbstverständnis. In Belarus stand dafür symbolisch die radikale Neugestaltung von Minsk als sowjetische Idealstadt. Wiederaufbau und Industrialisierung bescherten dem Land einen wirtschaftlichen Aufschwung, eine Bildungsexpansion und einen relativ hohen Lebensstandard. In Folge der Ermordung der Juden, die vielerorts etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung gestellt hatten, und der Vertreibung vieler Polen stellten ethnische Belarussen nun die Bevölkerungsmehrheit, auch in urbanen Zentren. Andererseits traf die Russifizierung Belarus besonders – nicht zuletzt durch den Zuzug vieler Sowjetbürger aus anderen Unionsrepubliken. Alles in allem erlebten viele Belarussinnen und Belarussen die Sowjetzeit, insbesondere gegen Ende, jedoch als glücklich. Im Gegensatz zu den Nachbarländern gab es kein ausgeprägtes antirussisches Ressentiment, nur wenige Dissidenten und keine starke Widerstandsbewegung. Die Unabhängigkeit erhielt das Land 1991 „kampflos“ – gleichsam wurde die Auflösung der UdSSR auf belarussischem Boden beschlossen.
Neubeginn 1991?
Die Mehrheit der Belarussinnen und Belarussen begrüßte die staatliche Eigenständigkeit und die neu gewonnene Unabhängigkeit wurde in den 1990ern zunächst von einer „nationalen Wiedergeburt“ begleitet. Das Parlament erhielt „tonnenweise“ begeisterte Zuschriften, als es 1990 darüber beriet, Belarussisch zur einzigen Amtssprache zu machen. Die weiß-rot-weiße Trikolore der Belarussischen Volksrepublik wurde zur offiziellen Staatsflagge. Mit der Wahl des ersten und bis heute einzigen Präsidenten der Republik Belarus im Jahr 1994 nahm die Entwicklung jedoch eine andere Richtung. Der in der Nähe der russischen Grenze geborene Aljaksandr Lukaschenka konnte sich nur wenig für nationales Gedankengut und die belarussische Sprache begeistern. Nach eigenen Angaben hatte er als einziger Abgeordneter des Obersten Sowjets der BSSR gegen die Unabhängigkeit votiert und bezeichnet auch im Jahr 2020 die ehemalige UdSSR als sein „Vaterland“. In einem umstrittenen Referendum führte er 1995 Russisch als zweite (und de facto erste) Amtssprache wieder ein. Lukaschenka stoppte die Privatisierung der Wirtschaft, trieb eine Union mit Moskau voran und ging angesichts seines Kurses beim Thema Demokratie und Menschenrechte mit dem Westen auf Konfrontation. Es folgte eine Rehabilitierung der Sowjetzeit, die nicht nur staatliche Symbole, die Rückverlegung von Feiertagen, die Beibehaltung eines Geheimdienstes mit dem Namen KGB oder die Bezeichnungen von Straßen und Ortschaften betraf. Sie umfasste auch die Aufrechterhaltung eines umfassenden Sozialstaats und entsprechender Geschichtsnarrative. Das Zeigen altbelarussischer Symbolik wurde als nationalistisch gebrandmarkt, die gerade erst wiedereingeführte Flagge de facto verboten und die belarussische Sprache als Ausdruck oppositioneller Haltung stigmatisiert. Für diesen Kurs wusste er einerseits einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung auf seiner Seite. Andererseits sicherte er sich die wichtige wirtschaftliche Unterstützung des Kremls, gegenüber welchem er regelmäßig betonte, er habe den antirussischen Nationalisten in seinem Land Einhalt geboten.
Statt alte Traditionen wiederzubeleben setzte Lukaschenka auf seinen eigenen Entwurf einer republikanischen Identität, die sich statt an ethnisch-nationalen bzw. sprachlich-kulturellen Grundlagen am neuen Staat und an dessen präsidentieller Machtvertikale orientieren sollte. Eine entsprechende Staatsideologie wurde ausgearbeitet und seit 2004 systematisch über Schulen, Staats- und Jugendorganisationen, in Betrieben und durch die Medien verbreitet. Als ihre Werte definiert diese den „großen Sieg“ von 1945, (gesellschaftlichen) Frieden, Unabhängigkeit und Stabilität. Die Verbreitung der belarussischen Sprache ging seither stark zurück. Nur etwa jede zehnte Schule unterrichtet heute auf Belarussisch und obwohl nach Umfragen 86 Prozent der Belarussen die Sprache für die wichtigste Komponente ihrer Kultur halten, sprechen sie nur zwei Prozent in den eigenen vier Wänden. Diese Politik zeigte einerseits Wirkung: Bei einer Umfrage danach, was die Belarussinnen und Belarussen am meisten mit ihrer Nationalität verbinden, verwiesen 72,5 Prozent im Jahr 2016 auf das „Territorium und den gemeinsamen Ort des Aufenthaltes“, gefolgt von 68,8 Prozent, die den Staat nannten. Andererseits vermochte es das Konzept nicht, bei der Bevölkerung tiefe Wurzeln zu schlagen, und Präsident Aljaksandr Lukaschenka räumte seit 2014 wiederholt ein, dass der Ansatz gescheitert sei. Dieser Zeitpunkt scheint alles andere als zufällig.
Wendepunkt Ukraine: Wandel der außenpolitischen Identität
Auch außenpolitisch hatte Belarus über viele Jahre eine postsowjetische Identität gepflegt, mit bevorzugten Kontakten nach Russland und einem unterkühlten Verhältnis zum Westen, wo es als Europas letzte Diktatur verschrien war. Der „Krim-Moment“ jedoch rüttelte nicht nur die politischen Eliten in der EU wach, sondern ließ auch in Minsk die Alarmglocken läuten. Russland, der wirtschaftliche und militärische Zentralpartner, hatte mit dem Budapester Memorandum ein Abkommen gebrochen, das auch Belarus die territoriale Unversehrtheit garantierte. Die Annexion der Halbinsel erkannte Minsk nicht an und mühte sich stattdessen um Vermittlung. Dies wurde für das Land zum Ausgangspunkt der Entwicklung eines neuen außenpolitischen Selbstverständnisses als Spender regionaler Stabilität. Lukaschenka lud die Konfliktparteien und europäische Partner zu Gesprächen und die bela-russische Hauptstadt wurde namensgebend für den bis heute gültigen Friedensplan. Zwar legt Minsk weiterhin Wert auf die besondere Bindung nach Osten und trat neben den bestehenden Mitgliedschaften in der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) im Jahr 2015 der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) bei. Doch ist das erklärte Ziel eine „multivektorale“ und „situativ neutrale“ Außenpolitik mit möglichst guten Beziehungen zu allen Seiten. Gegenüber Nordamerika und der EU wurde die Freilassung von politischen Gefangenen im Jahr 2015 zum Auftakt einer Wiederannäherung, die seither eine nie dagewesene Dynamik entfaltet.
Treibender Faktor ist für Minsk das Interesse am Erhalt der staatlich-nationalen Souveränität. Diese sieht das Land derzeit mehr als alles andere durch Russland herausgefordert. Moskau stand der scheinbaren Westannäherung des Nachbarn von vornherein skeptisch gegenüber und dass Minsk die Einrichtung einer neuen russischen Luftwaffenbasis auf belarussischem Territorium verweigerte, empfand es als unfreundlichen Akt. Der damalige russische Premierminister Dimitri Medwedjew stellte Minsk im Dezember 2018 unter dem Eindruck der eigenen angeschlagenen Wirtschaftslage vor eine Wahl: Auf Grundlage des beinahe in Vergessenheit geratenen Unionsstaats-Vertrags aus dem Jahr 1999 sollte sich Belarus zu einer vertieften politischen Integration mit Russland verpflichten, wenn es weiter von dessen günstigen Energielieferungen profitieren wollte. Dies bedeutete für Belarus eine Zwickmühle. Ohne die niedrigen Rohölpreise wären nicht nur seine Exporteinnahmen aus Raffinerieprodukten in Gefahr. Auch der Sozialstaat käme ins Wanken und seine Firmen hätten innerhalb der EAWU gegenüber Russland massive Wettbewerbsnachteile. Andererseits war die Abgabe von Souveränität für Aljaksandr Lukaschenka, den längstamtierenden Staatschef Europas mit starkem Machtinstinkt, keine Option. Über das Jahr 2019 verschlechterte sich der Ton deutlich und trotz eines intensiven Verhandlungsmarathons wurden sich beide Seiten in zentralen Fragen nicht einig. Anfang 2020 spitzte sich indes die Wirtschaftslage für Belarus durch den Einbruch von Transiteinnahmen und Ölpreis, die Abwertung seiner Währung sowie die COVID-19-Pandemie weiter zu.
Identität gegen den Druck von außen?
Der Druck aus Moskau umfasst neben dem diplomatischen und wirtschaftlichen Bereich auch Medien und Soziale Netzwerke. 70 Prozent der Belarussen schauen russische Sender und vertrauen den gezeigten Informationen. Zudem deckten jüngste Analysen auf, in welch hohem Maße kremlnahe Netzwerke im Sinne der Russkij Mir (russische Welt) in Belarus unter der Oberfläche versuchen, die öffentliche Meinung zugunsten einer Vereinigung mit Russland zu beeinflussen. Der belarussische Staat ergriff mittels eines Konzepts der informationellen Sicherheit Gegenmaßnahmen und verkündete die Schaffung eines neuen Fernsehkanals. Gleichzeitig erkennen Staatsvertreter angesichts eines selbstbewussten (pro)russischen Kulturchauvinismus, der die Existenz der belarussischen Nation nicht nur rhetorisch herausfordert, in der geringen Ausprägung der belarussischen Identität und Sprache zunehmend ein existenzielles Risiko.
So kam es in den vergangenen Jahren zu einigen bemerkenswerten, zuvor schier undenkbaren Zugeständnissen des Staates an die andere Seite der nationalen Identität. Ein symbolträchtiger Moment war die Feier zum 100. Jubiläum der Gründung der BNR im März 2018. Unterlagen Versammlungen an diesem „Jahrestag der Opposition“ sonst strengen Einschränkungen, gestattete der Staat zum Jubiläum überraschenderweise – innerhalb eines abgegrenzten Geländes – eine Großveranstaltung im Herzen von Minsk. Die Eröffnungszeremonie der Europäischen Spiele 2019 im Beisein des russischen Premiers wurde gar zum staatlich organisierten Feuerwerk nationaler und folkloristischer Symbolik, Persönlichkeiten, Architektur und Kunst. Die Geschichtspolitik hingegen bleibt, wie im eingangs geschilderten Fall in Vilnius, vorsichtig und mitunter widersprüchlich. Während dem ebenfalls in Belarus geborenen Anführer des nach ihm benannten Kościuszko-Aufstands (1794) zwar ein Denkmal gesetzt wurde, rät die Akademie der Wissenschaften davon ab, Straßen nach ihm zu benennen. Aljaksandr Lukaschenka nennt das Großfürstentum Litauen inzwischen einen „belarussischen Staat“, verzichtet aber darauf, dessen Siege als belarussische anzuerkennen und sieht für die heutige Armee ausschließlich die sowjetische Geschichte als traditionsstiftend.
Doch auch die Einstellungen der Bevölkerung blieben von den außenpolitischen Entwicklungen und der Berichterstattung über den Disput mit Russland nicht unberührt. Eine soziologische Studie des Belarusian Analytical Workroom aus dem Jahr 2019 stellte die hypothetische Frage, ob die Belarussen lieber in einer Union mit Russland leben oder zur EU gehören wollten. Zwischen Januar 2018 und August 2019 war der Anteil für Russland von 64 auf 54 Prozent gesunken, während die Stimmen für die EU von 20 auf 25 Prozent kletterten. Bei einer Nacherhebung im Dezember, auf dem Höhepunkt der russisch-belarussischen Auseinandersetzung, lagen die Werte auf einmal fast gleichauf mit einem Verhältnis von 32 zu 40. Ein besonders deutliches Gefälle zeigten die Altersgruppen: Während Personen ab 55 Jahren zu mehr als zwei Dritteln eine Union mit Russland bevorzugen, überwiegt die Orientierung zugunsten der EU bei Personen unter 34 zum Teil deutlich, bleibt aber unter 50 Prozent.
Können die Narrative versöhnt werden?
Die beschriebenen Daten legen den Eindruck eines geopolitisch gespaltenen Landes nahe – doch eine solche Sicht griffe zu kurz. Den meisten Belarussen – das zeigt dieselbe Umfrage – geht es nicht um eine prinzipielle Haltung für oder gegen Russland, denn trotz jüngster Differenzen zum großen Nachbarn sprechen sich drei Viertel für gutnachbarschaftliche Beziehungen aus. Auch zeigen die Daten, dass geopolitische Orientierungen einer höheren tagespolitischen Fluktuation unterliegen als dies im Fall der nationalen Identität möglich schiene. Aufschlussreicher ist der Blick in den qualitativen Teil jener Untersuchung: Personen, die für Russland gestimmt hatten, nannten als wichtigste Gründe eine ähnliche Mentalität, slawische Werte sowie die gemeinsame Sprache und Geschichte. Für diejenigen, die für die EU votierten, standen materielle Aspekte, Visafreiheit und Berufschancen im Vordergrund. Argumente wie gemeinsame europäische Werte und Kultur erreichten zwar immerhin einen Mittelwert von sechs auf der Skala von eins bis neun, rangierten aber auf den Plätzen zwölf bis 14. In einer Frage sind sich die Belarussen jedoch einig: Über 95 Prozent lehnen die Option ab, eine russische Provinz zu werden. Ob jemand seine belarussische Identität aus dem sowjetischen Erbe ableitet oder sich auf die BNR beruft, ob er eine emotionale Nähe zu Russland empfindet oder sein Land lieber in der EU sähe, beeinflusst offenbar nicht, dass beide Seiten klar zur belarussischen Unabhängigkeit stehen.
Damit gehören beide Pole der belarussischen Nationalidentität, so sehr sie einander in inhaltlichen Fragen ausschließen, nüchtern betrachtet zu Belarus in seiner heutigen Form dazu. Allerdings stößt jene durch den Staat lange ausschließlich geförderte postsowjetisch-etatistische Variante heute an ihre Grenzen. Die Autorin Maryna Rakhlei verweist darauf, dass sich die meisten Belarussen schlichtweg kaum in ihrer nationalen Geschichte und Kultur auskennen und nicht wissen „worauf [sie] stolz sein können“. Anknüpfungspunkte zum Stolz sein – wenn man dies für erstrebenswert erachtet – gäbe es sowohl in der Geschichte als auch Gegenwart viele, doch wäre es nötig, den kulturellen Reichtum des Landes sowohl tiefer im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern als auch nach außen zu zeigen.
In der jetzigen Lage, in der viele Fragen der Vergangenheit unbearbeitet und alte Wunden mehr überdeckt als geheilt scheinen, täte dem Land ein umfassender Dialogprozess zwischen Staat und verschiedenen Akteuren der Gesellschaft gut. Momentan sind es vor allem NGOs, Parteien oder Bürgerinitiativen, die sich für die Pflege der Sprache und des Kulturguts einsetzen, während staatlicherseits solche Aktivitäten oft eher geduldet als gefördert werden. Doch ein solcher Prozess könnte im besten Fall dazu beitragen, die vorhandenen Narrative zusammenzuführen. Die sowjetische Erfahrung hat viele Lebenswege geprägt, sodass dies nicht einfach über Bord geworfen, sondern nach Möglichkeit mit der historisch-kulturellen Variante der Identität integriert werden sollte. Belarus’ Wiederaufstieg zu Sowjetzeiten und seine von relativer Stabilität geprägte Entwicklung nach dem Zerfall der UdSSR können – bei allen berechtigten Nachfragen zu Demokratie und Menschenrechten – ebenfalls positive Anknüpfungspunkte bilden.
Die neue Außenpolitik böte sogar einen äußeren Bezugsrahmen: Das Land legt großen Wert darauf, sich nicht geopolitisch für eine Seite entscheiden zu müssen, was oft gedeutet wird, als stehe es zwischen Ost und West. Aus historisch-kultureller, soziologischer und geografischer, aber auch wirtschaftlicher Sicht scheint naheliegender, dass das Land in der geografischen Mitte Europas vielmehr Elemente aus Ost und West in sich vereint. Identitätspolitisch böte diese Sichtweise eine Chance, nicht nur die inneren Narrative zu versöhnen und damit die Resilienz der Gesellschaft zu stärken, sondern auch auf internationalem Parkett das Profil zu schärfen – auch gegenüber dem Westen, wo Belarus aufgrund seiner langjährigen Selbstverortung weiterhin oft schlicht als Anhängsel Russlands wahrgenommen wird. Die Selbstverortung als Brückenbauer, als ein „situativ neutrales“ Land, das „beide Seiten“ kennt, sind ein Identitätsangebot, das auch mit der Selbstsicht vieler Belarussen vereinbar wäre. Denn laut der oben zitierten Studie würde etwa die Hälfte der Bevölkerung lieber gleichzeitig mit Russland und der EU oder mit keinem von beiden in einer Union leben, als sich zu entscheiden. Gleichzeitig liefe eine solche integrative und auf Versöhnung bedachte Sichtweise kaum Gefahr, in einen neuen Nationalismus abzugleiten.
Inwieweit sich die belarussische Führung jenseits der beschriebenen Schritte auf einen Dialog einlassen wird, bleibt abzuwarten. Aus ihrer Sicht bleibt es eine Gratwanderung, da sie stark von Russland abhängt, welches wiederum mit Argusaugen verfolgt, wenn sich das Nachbarland von den „gemeinsamen Narrativen“ entfernt. Auch deshalb will der Staat wohl um jeden Preis die Kontrolle über die politischen und gesellschaftlichen Prozesse im Land behalten – inklusive der sensiblen Frage der nationalen Identität. Doch wenn es tatsächlich um die nationale Selbstbehauptung geht, kann der Staat die Bevölkerung auf seiner Seite wissen. Nicht zuletzt angesichts der massiven Herausforderung der Coronakrise haben die Belarussinnen und Belarussen ein hohes Maß an Zusammenhalt, Engagement und Organisationstalent bewiesen. Dies sollte den Staat ermutigen, sie auch in anderen Fragen viel mehr einzubinden und ihnen stärker zu vertrauen.
Jakob Wöllenstein ist Leiter des Auslandsbüros Belarus der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Vilnius.
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