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Thaier Al-Sudani, Reuters

Auslandsinformationen

Jugendrevolte oder identitätsstiftende Bewegung?

von Gregor Jaecke, David Labude, Regina Frieser

Eine Anatomie der Massenproteste im Irak

Die Entstehung einer gemeinsamen irakischen Identität wird seit jeher durch die große Heterogenität der Bevölkerung erschwert. Nun aber vereinten sich Hunderttausende Iraker zu wiederholten Protestaktionen, den größten seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Eliten versuchen derweil, ihre Macht zu bewahren – soweit es ihnen möglich ist.

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Repression und Regierungskrise folgen auf Proteste

In einem von Krisen geplagten Land wie dem Irak sind Proteste der Bevölkerung gegen die herrschende Elite keine Seltenheit. In den letzten Jahren ging es den Demonstranten dabei vor allem um bessere staatliche Dienstleistungen (insbesondere Wasser-, Gesundheits- und Stromversorgung), aber in vielen Landesteilen besonders um Korruption. Auslöser für die am 1. Oktober 2019 begonnenen Unruhen war die Degradierung des in der Bevölkerung hoch angesehenen irakischen Generals Abdel-Wahab al-Saedi, der im Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) zum Helden geworden war. Für viele Iraker ist er eine Symbolfigur im Kampf gegen Bestechlichkeit und Nepotismus. Die staatliche Demütigung einer integren Persönlichkeit wie al-Saedi war für eine Mehrheit der Iraker sinnbildlich für die korrupte Führungsschicht des Landes, die Ressourcen rücksichtslos unter sich aufteilt und dabei längst das Gemeinwohl aus den Augen verloren hat. Zudem mutmaßten viele Iraker, dass Iran hinter dem Vorgang steht.

Sajad Jiyad, langjähriger Kooperationspartner der Konrad-Adenauer-Stiftung und renommierter irakischer Politikexperte, beschreibt den Auftakt der Protestwelle wie folgt: „Die Atmosphäre war teils karnevalistisch, teils trotzig, als sich Tausende von Jugendlichen versammelten, um Veränderungen zu fordern. Für viele, die daran teilnahmen, war es eine Gelegenheit, sich mit Gleichgesinnten zu treffen und das Gefühl zu haben, einer älteren politischen Klasse, mit der sie sich nicht identifizieren und von der sie sich nicht repräsentiert sehen, etwas Macht zu entreißen. Die Forderungen der Demonstranten umfassten anfangs überwiegend wirtschaftliche Fragen, entwickelten sich aber weiter – hin zu einem Maximalismus, der einen vollständigen Systemwechsel einschloss.“ Die Proteste sind – nach Teilnehmerzahl (täglich waren landesweit Hunderttausende auf der Straße) und Ausbreitung – die größten seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 und stehen in der Tradition vorheriger Protestbewegungen der Jahre 2015 und 2018.

Über Monate hielten Demonstranten zentrale Plätze und Verkehrswege besetzt. Im Herzen Bagdads, am Tahrir-Platz, errichteten sie eine Zeltstadt und blockierten die Brücken über den Tigris. Die Protestler versuchten wiederholt, zur sogenannten Grünen Zone, dem Regierungsviertel der Hauptstadt, vorzudringen und wurden dabei von Sicherheitskräften gewaltsam zurückgedrängt: Landesweit lieferten sich Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Tuk-Tuks wurden zu einem Symbol der Revolte und ihre Fahrer zu heimlichen Helden der Protestbewegung. Sie transportierten Material und Demonstranten in das dichte Gedränge an den Brennpunkten, oder aber halfen bei der Flucht. Auch die gemeinschaftsstiftenden Symbole der Popkultur gewannen an Beliebtheit: So wurde der Anfang Oktober 2019 erschienene US-amerikanische Kinohit „Joker“ zu einer Analogie für die aufbegehrende irakische Jugend.

Der Staatsapparat reagierte – neben einigen Reformankündigungen – vor allem repressiv: Sicherheitskräfte attackierten Teilnehmer der Massenkundgebungen und setzten dabei, neben Tränengas und Gummigeschossen, auch scharfe Munition ein. Viele Demonstranten sind der Meinung, dass es nicht alleine irakische Sicherheitskräfte waren, die sich ihnen entgegenstellt hatten, sondern auch Bewaffnete aus Iran. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (United Nations Assistance Mission for Iraq, UNAMI) zählte nach acht Monaten 490 Tote und 7.783 Verletzte. Andere Berichte sprechen sogar von etwa 600 Getöteten und rund 20.000 Verletzten.

Die Proteste gegen die Machthaber erzielten aus Sicht der Demonstranten einen Teilerfolg: Im November 2019 wurde der bis dahin erst seit gut einem Jahr amtierende Premierminister Adel Abdul-Mahdi zum Rücktritt gedrängt. Allerdings stürzte dieser Schritt das Land in eine sechs Monate lang andauernde Regierungskrise. Der irakische Präsident Barham Saleh beauftragte nacheinander drei Kandidaten mit der Regierungsbildung. Nachdem die beiden ersten Anwärter an der Zustimmung des irakischen Parlaments scheiterten, wählte eine Mehrheit schließlich im Mai 2020 Mustafa al-Kadhimi zum neuen Premierminister.

Auch nach der Regierungsbildung setzten sich die Proteste fort. Sie fielen allerdings durch die COVID-19-Pandemie und die bald veranlassten strikten Ausgangssperren zunächst kleiner aus. Aufgrund der Auswirkungen der Pandemie, der fallenden Ölpreise und der desaströsen staatlichen Finanzen hat sich die Lage im Irak seitdem weiter verschärft. Im Sommer 2020 flammten die Proteste wieder auf – trotz der Reformversprechungen der neuen Regierung und der weiter herrschenden Angst vor dem Virus.

Der vorliegende Bericht erklärt die Triebkräfte der Protestwelle und nennt die entscheidenden Personen und Gruppen. Zentral sind sicher Armut, fehlende Perspektiven, mangelnde staatliche Dienstleistungen und Korruption. Aber wie relevant und breit angelegt ist der Protest? Handelt es sich vor allem um eine Jugendrevolte oder ist der fast landesweite Aufruhr Ausdruck eines größeren, neuen irakischen Selbstverständnisses? Und könnte dieser Aufruhr einen nachhaltigen Wandel bewirken?

Durch die Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe entstehen Privilegien, die sich im politischen System widerspiegeln.

 

Das irakische Mosaik

Die Entstehung einer gemeinsamen irakischen Identität wird seit jeher durch die große Heterogenität der Bevölkerung erschwert. So konstatierte schon König Faisal, der erste Herrscher des Irak, 1917: „Es gibt immer noch – und ich sage das mit einem Herzen voller Trauer – kein irakisches Volk, sondern unvorstellbare Massen von Menschen, ohne jede patriotische Idee, durchdrungen von religiösen Traditionen […] und ohne einen gemeinsamen Nenner, […] anfällig für Anarchie und immer bereit, sich gegen jede Regierung zu erheben.“

Die verschiedenen ethnischen und religiösen Identitäten sind im Irak von herausragender Bedeutung. Mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gehen für den einzelnen Bürger oftmals bestimmte Privilegien einher, die sich im politischen System des Landes widerspiegeln.

Die Mehrheit der Iraker sieht sich als Araber (etwa 70 Prozent). Daneben gibt es unter anderem eine kurdische (17 Prozent) und eine turkmenische Minderheit (drei Prozent). Vielleicht noch entscheidender ist die Ausdifferenzierung nach Konfessionen. Die muslimische Mehrheit (95 Prozent) teilt sich in Schiiten (65 Prozent) und Sunniten (35 Prozent), hinzu kommen Minderheiten wie beispielsweise Christen und Jesiden. Nicht zuletzt sind weite Teile der Gesellschaft nach wie vor in Stammesstrukturen organisiert. Ein kompliziertes Mosaik.

 

Hybride Identitäten zwischen Konfession, Ethnie und Milieu

Durch die Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Konfessionen und Ethnien ergibt sich eine Vielzahl von Milieus, Gemeinschaften und hybriden Identitäten.

Die Begriffe „konfessionelle“ oder „ethnische“ Identität beschreiben nicht etwa bloß den Glauben oder die kulturellen Traditionen einer Bevölkerungsgruppe, sondern sollen vor allem der Abgrenzung dienen. Im irakischen Kontext werden diese Kategorien zur Verfolgung politischer Interessen oft instrumentalisiert und politisiert.

Die Milieus sind keineswegs hermetisch voneinander getrennt, sondern überlagern sich vielfach regional und sozial. Schließlich begegnen sich Menschen nicht nur in ihren ethnisch-konfessionellen Gemeinschaften, sondern immer und überall auch in vielen anderen Bereichen des Lebens – sei es bei der Arbeit, in Vereinen und Gewerkschaften oder im Café. Zudem sind die konfessionellen Gruppen auch intern nicht homogen, wenn es etwa um innen- und außenpolitische Fragestellungen geht.

 

Das politische System, ein Perpetuum Immobile

Das politische System des Irak basiert seit 2005 auf einem ethnisch-konfessionellen Proporz: Politische Ämter werden verfassungsgemäß anhand eines Quotensystems an bestimmte Parteien und Konfessionsgruppen vergeben. Der irakische Präsident ist laut Verfassung immer ein Kurde, der Premierminister muss ein Schiit sein und der Parlamentssprecher ein Sunnit, zudem ist Christen und Turkmenen jeweils ein Ministeramt vorbehalten. Das Quotensystem erstreckt sich über alle Ebenen der öffentlichen Ämter, vom oberen Ministerialbeamten (Director General) bis zum unteren Funktionär im Sicherheitsapparat. Die Zugehörigkeit zu einer ethnisch beziehungsweise konfessionell definierten Gruppe bildet somit das Grundprinzip der politischen Ordnung.

Das Konfessionssystem zementiert den Status quo und verhindert Konkurrenz sowie Entscheidungen im Sinne der Bevölkerungsmehrheit.

Die politische Realität im Irak unterscheidet sich von einem demokratischen Politikverständnis, demzufolge sich der Wählerwille im Parlament und damit im Regierungssystem abbilden soll. Das Konfessionssystem haben sich einzelne ethnische bzw. konfessionelle Gruppen so zunutze gemacht, dass sie die Ämter, auch bereits vor dem eigentlich vorgesehenen Auswahlprozess, unter sich aufteilen. Das zementiert den Status quo, verhindert Konkurrenz und Entscheidungen im Sinne der Bevölkerung beziehungsweise der Bevölkerungsmehrheit. Die Frustration der Iraker äußerte sich beispielsweise in einer niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 44,5 Prozent bei den Parlamentswahlen 2018.

Selbstverständlich wird nicht nur die Besetzung von Ämtern und Posten ausgekungelt, sondern damit stets auch der Zugang zu Ressourcen. Außerdem wird jegliche Rechenschaftspflicht dadurch umgangen, dass Politiker und Regierungsbeamte im Rahmen ihrer erlangten Verantwortung Stellen an politische Unterstützer oder Angehörige vergeben – nicht selten auch unabhängig von ihrer Qualifikation. Mitglieder einer bestimmten Gruppe versuchen, so viel wie möglich von dem ihrer Gemeinschaft zugedachten Teil des Systems abzubekommen (staatliche Dienstleistungen, soziale Absicherung und Arbeitsplätze usw.), anstatt sich gesamtgesellschaftlich einzubringen. Die institutionalisierte Gespaltenheit des Systems begünstigt Klientelismus, Nepotismus und Korruption. Dieses Muster setzt sich in der – ebenso nicht freien – Wirtschaft fort.

Die Mehrheit der Bevölkerung leidet, die Mitglieder der politischen Elite und ihre Unterstützer aber profitieren von den omnipräsenten Absprachen, werden sie so doch vor juristischer Aufklärung geschützt. Dadurch wird nicht nur Transparenz, sondern werden auch Reformen nachhaltig verhindert. Jungen Irakern, die sich politisch engagieren möchten, ist der Zugang zu wichtigen Positionen in der Regel verwehrt. Das Quotensystem schafft folglich ein politisch-gesellschaftliches Perpetuum immobile.

Naturgemäß führt das ethnisch-konfessionelle System zu starken zentrifugalen Kräften, die die Herausbildung einer gemeinsamen irakischen Identität entscheidend erschweren. Viele Iraker sehen nicht im Staat ihren Souverän, sondern vor allem in den Führern ihrer eigenen Community.

 

Sozioökonomische Schieflagen

Die irakische Wirtschaft ist durch Misswirtschaft, Ineffizienz, starke Einkommensungleichheit und strukturelle Innovationsunfähigkeit gekennzeichnet. Zudem leidet sie unter einem stark aufgeblähten öffentlichen Sektor, der erheblicher staatlicher Subventionen bedarf. Der Irak wendete 2019 47,5 Prozent des Haushalts zur Zahlung der staatlichen Angestellten auf. Zum Vergleich: In der Europäischen Union waren es 2017 lediglich 9,9 Prozent. Gerade weil der privatwirtschaftliche Sektor im Irak mit 37,5 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt vergleichsweise klein ist, suchen viele Bürger eine Anstellung und ein Auskommen im öffentlichen Dienst. 60 Prozent der irakischen Arbeitskräfte sind dort beschäftigt. Das Unternehmertum wird im Irak durch hohe bürokratische und juristische Hürden ausgebremst. Im Ease of Doing Business Index zweier Weltbank-Ökonomen belegte der Irak 2019 Platz 171 von 190.

Neben der Finanzierung des öffentlichen Sektors wendet die irakische Regierung große Summen dafür auf, die Staatsschulden von etwa 125 Milliarden US-Dollar (58,5 Prozent des BIP) zu begleichen. Die grassierende Korruption verschärft das Defizit noch, da dem Staat dadurch wichtige Einnahmen entgehen. Hinzu kommt Iraks extreme Abhängigkeit vom Öl, das über 85 Prozent der Staatseinnahmen ausmacht. Anstatt zu diversifizieren und beispielsweise den Privatsektor, vor allem das Bau- und Dienstleistungsgewerbe zu fördern, hält die Regierung an der Konzentration auf die Ölwirtschaft fest.

Schulden und Misswirtschaft führen zu einem enormen Budgetdefizit: Bildungs- und Gesundheitssektor sind genauso unterfinanziert wie die Wasser- und Stromversorgung, die in weiten Landesteilen nicht mehr ausreichend gewährleistet werden kann. Mangelnde Investitionen in die Elektrizitätsinfrastruktur führen zu häufigen Stromausfällen, vielerorts ist das Trinkwasser verschmutzt oder noch nicht einmal ausreichend vorhanden.

Die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 12,8 Prozent (2019), ist aber nach Schätzungen sehr viel höher. Sicher ist, dass 33 Prozent der unter 30-Jährigen bereits 2019 ohne Arbeit waren, obwohl vergleichsweise viele junge Iraker gut ausgebildet sind und in der Lage wären, anspruchsvolle Tätigkeiten auszuführen. Es fehlen allerdings adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten für sie. Dies führt zu einem anhaltenden Braindrain und zur Erosion der Mittelschicht.

Der Druck auf den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem steigt auch durch das enorme Bevölkerungswachstum – jährlich etwa eine Million. Im Irak leben heute 40,1 Millionen Menschen – 40 Prozent sind jünger als 16 Jahre, somit nach dem Sturz Saddam Husseins zur Welt gekommen. Diese demografische Entwicklung verstärkt ebenfalls die Ressourcenknappheit: 22,5 Prozent der Iraker leben unter der Armutsgrenze. Eines der ölreichsten Länder der Welt ist somit außerstande, für weite Teile seiner Bevölkerung zu sorgen.

Mitglieder aller ethnisch-konfessionellen Gruppen leiden unter diesem Staatsversagen, was wiederum fast zu einem verbindenden Element im Irak geworden ist. Bereits seit den Massenprotesten 2015 richten sich Reformforderungen nicht mehr nur an die jeweiligen zuʿamāʾ (arab. Führer bestimmter ethnisch-konfessioneller Gruppen bzw. Parteien), sondern gegen die gesamte Herrscherklasse und das System.

 

Es geht ums Ganze

Die Massenproteste 2019/20 haben zwei entscheidende Charakteristika. Erstens handelt es sich, vor allem in den schiitischen und urbanen Ballungsgebieten des Zentral- und Südiraks, um eine echte Graswurzelbewegung, die sich politisch von keiner etablierten Gruppe vereinnahmen lässt. Zweitens ist die Mitwirkung junger Demonstrantinnen überaus groß, vor allem vor dem Hintergrund der geringen politischen Partizipation von Frauen im Irak.

Kernforderung ist eine staatliche Aufklärung und Gerechtigkeit für Opfer der Proteste.

Die Kundgebungen und Aktionen werden vor allem über soziale Medien (Twitter und Facebook) organisiert, aber auch Vereine und Gewerkschaften spielen bei der Durchführung eine wichtige Rolle. Sie helfen unter anderem bei der Lebensmittelversorgung und der Erstbehandlung von Verwundeten.

Die Forderungen der Demonstranten sind divers, lassen sich aber in folgende zwei Hauptkategorien zusammenfassen: Sicherheit und Politik.

 

Sicherheit

Die Härte des Vorgehens der Sicherheitskräfte und pro-iranischen Milizen überraschte die Demonstranten. Die Forderung nach staatlicher Aufklärung und Gerechtigkeit für die Toten und Verletzten wurde zu einer wesentlichen Forderung der Aufstandsbewegung. Daran muss sich die neue Regierung messen lassen, denn die Glaubwürdigkeit des Premierministers hängt entscheidend daran.

Ursprünglich hatten die Demonstranten – neben wirtschaftlich-politischen Forderungen – eine Reform des Sicherheitsapparats verlangt. Dabei ging es ihnen vor allem um das Gewaltmonopol des Staates sowie die Rolle der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten (engl. Popular Mobilisation Forces, PMF). Die irakische Exekutive kontrolliert die PMF nicht gänzlich. Während der Proteste agierten besonders die Iran-nahen Einheiten der PMF mit großer Gewalt gegen die Demonstranten. Sie mischten sich unter die Sicherheitskräfte und schossen teils scharf. Wer dafür verantwortlich war, also den Befehl gab, ist noch immer nicht abschließend geklärt. Die Demonstranten fordern deshalb, dass sich die PMF vollständig in die Struktur der irakischen Sicherheitskräfte einfügen und sich damit der formalen staatlichen Autorität unterordnen.

 

Politik

Wie eingangs geschildert, ist die Korruption im Irak allgegenwärtig, weil sie gleichsam im System verankert ist. Nach dem für die Demonstranten als Teilerfolg zu verbuchenden Rücktritt von Premierminister Abdul-Mahdi im November 2019 konzentrierten sich die Forderungen auf eine Reform der Provinzregierungen. In der Wahrnehmung vieler Iraker wirken die regionalen Strukturen der Macht des Zentralsystems nicht positiv entgegen, sondern bilden vielmehr eine weitere Ebene der Misswirtschaft und Korruption.

Die Demonstranten fordern eine Neuordnung des gesamten politischen Systems: Sie verlangen rasche Neuwahlen und eine Reform des Wahlrechts, damit in Zukunft unabhängige Kandidaten bessere Wahlchancen bekommen. In einem ersten Schritt wurde dieser Forderung Ende Dezember 2019 vom irakischen Parlament entsprochen. Zum einen soll von einer Listen- auf eine Personenwahl umgestellt werden, was dem Wähler die gezieltere Auswahl bestimmter Kandidaten ermöglichen würde. Zum anderen soll es zu einer Neustrukturierung der Wahlkreise kommen. Allerdings wird auch über ein halbes Jahr nach der Parlamentsentscheidung unter den politischen Parteien noch immer über deren konkreten Zuschnitt und die genaue Anzahl der Wahlkreise verhandelt.

Die Demonstranten verlangen die Einschränkung der politischen und wirtschaftlichen Einflussnahme durch die USA und Iran.

Ende Juli 2020 setzte der Premierminister in einer öffentlichen Erklärung den Termin für vorgezogene Wahlen auf den 6. Juni 2021 fest. Damit sind nun die politischen Parteien gefordert, bezüglich der oben genannten ungeklärten Punkte rasch Einigung zu erzielen sowie ein Datum für die Selbstauflösung des Parlaments zu bestimmen. Darüber hinaus muss eine Wahlkommission eingerichtet werden, die die Durchführung freier, fairer und transparenter Wahlen gewährleistet. Es ist aber noch ein langer Weg dahin, denn zuvor müssen rechtliche, logistisch-technische sowie finanzielle Rahmenbedingungen geklärt beziehungsweise geschaffen werden.

Schließlich verlangen die Demonstranten, die politische und wirtschaftliche Einflussnahme der USA und Irans im Land deutlich zu verringern. Ihre Forderung ist die nach „einem Irak der Iraker für Iraker“.

Die Wucht der Protestwelle führte zur Umsetzung einiger Ansinnen. Voraussetzung für die Erfüllung weiterer Forderungen dürfte neben dem Druck der Straße die Überwindung des konfessionell-ethnischen Proporzsystems sein. Es geht ums Ganze.

 

Mittelweg im Zweistromland?

Die ethnisch-konfessionellen Eliten sind freilich gegen zu weitreichende Veränderungen, denn diese könnten – wie beschrieben – ihren Status, ihre Macht und ihre Einnahmequellen gefährden. Die massive Gewalt gegen die Demonstranten war wohl bereits Ausdruck der Abwehrbereitschaft der Systemvertreter. Erkennen lässt sich dies ferner an der Einschränkung der Arbeit von Akteuren der Zivilgesellschaft und von Journalisten. So sorgte beispielsweise die Entführung der Menschenrechtsaktivistin Saba al-Mahdawi im November 2019 für großes Aufsehen. Al-Mahdawi kam einige Tage später wieder frei, dutzende Protestler wurden jedoch von Vermummten – vermutlich Angehörige Iran-naher Milizen – ermordet. Die gezielte Tötung des Politikanalysten Hisham al-Hashemi am 6. Juli 2020 in Bagdad ist ein weiterer Beleg für die Brutalität, mit der diese Milizen kritische Stimmen zum Schweigen bringen wollen. Weiterhin wurde insbesondere zu Anfang der Proteste eine freie Berichterstattung massiv behindert: Die Schließung von Nachrichten- und Fernsehsendern sowie zeitweise Internetblackouts im ganzen Land zeigen dies.

Einige politische Kräfte könnten allerdings langfristig, aus strategischem Kalkül, schrittweise den Weg für Reformen freimachen. Irakische Experten betonen, dass die Ereignisse der letzten Monate die politischen Eliten zweifellos erschüttert haben und die Resilienz der Protestbewegung den Status quo möglicherweise langfristig verändern könnte.

Dass auch Vertreter der traditionellen Eliten ambivalent handeln können, zeigt der einflussreiche Kleriker und Politiker Muqtada al-Sadr, der auch die Sairoon-Bewegung (Iraks größter politischer Block) anführt: Die seiner Bewegung angehörige unbewaffnete Eingreiftruppe Blaumützen stand zunächst zum Schutz der Demonstranten an vorderster Front, doch Sadr selbst zog diese dann Ende Januar 2020 ab und forderte seine Anhänger auf, die Protestcamps zu verlassen. Die Blaumützen wendeten sich nun teils gegen die Demonstranten – andere Anhänger der Bewegung blieben jedoch entgegen den Anweisungen in den Reihen des Protests. Schließlich orderte Sadr die Blaumützen sogar wieder zurück auf die Seite der Demonstranten.

 

Der neue Premier als Mittler

Premierminister Al-Kadhimi selbst erhob Ende Juni 2020 die irakische Staatsbürgerschaft zum neuen Standard und betonte, dass die Zugehörigkeit zu einer ethnisch-konfessionellen Gruppe kein Kriterium mehr sei. Damit solidarisiert er sich zumindest verbal mit der Protestbewegung. Ob seinen Worten Taten folgen, werden die nächsten Monate zeigen. Der neue Premier umgibt sich außerdem mit Beratern, die der Protestbewegung nahestehen. Seine Regierung hat bei ihrem Antritt einige ehrgeizige Vorhaben angekündigt, insbesondere die Aufklärung der Gewaltexzesse gegen die Demonstranten sowie die finanzielle Entschädigung von Familien der Opfer. Zudem wurden seit Mai 2020 bereits zahlreiche Protestler aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Als symbolische Geste setzte Al-Kadhimi des Weiteren den beliebten General Abdel-Wahab al-Saedi zurück auf seinen Posten. Inwieweit dies Al-Kadhimis Ansehen in den Protestzelten geholfen hat, ist noch nicht genau einzuschätzen. Große Teile der Protestbewegung sehen ihn dennoch als Teil der herrschenden Elite und lehnen seine Wahl ab. Auch als parteiloser Regierungschef ist er wie sein erfolgloser Vorgänger von der Unterstützung der politischen Blöcke abhängig.

Allen Beteiligten dürfte klar sein, dass ein Aufflammen der Massenproteste und im Zuge dessen ein weiteres Blutvergießen nur verhindert werden kann, wenn sich die verschiedenen Seiten kompromissbereit zeigen. Einen Mittelweg deutete Muqtada al-Sadr in einem Tweet vom Februar 2020 an. Bezugnehmend auf eine Forderung vergangener Proteste, bei denen die Demonstranten eine liberale irakische Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild forderten, erwiderte der Prediger, der Irak werde „weder zu einem Kandahar noch zu einem Chicago“. Die Eliten werden versuchen, ihre Macht, soweit es ihnen möglich ist, zu bewahren und dazu gegebenenfalls einen irakischen Weg zwischen westlichem Liberalismus und religiösem Autoritarismus einschlagen.

 

Fazit: Die irakische Gesellschaft in Bewegung

Die Proteste gehen ohne Zweifel weit über eine bloße Jugendbewegung hinaus. Die Nachdrücklichkeit und Verzweiflung der jungen Generation, die das Gros der Protestbewegung ausmacht, sind zwar eine entscheidende Triebkraft für deren Stärke und Resilienz. Fakt ist aber auch: Mit den grundlegenden Forderungen der Bewegung kann sich eine Mehrheit aller Bevölkerungsschichten, Konfessionen und Ethnien identifizieren. Auch viele Menschen, die aus Furcht vor Repressalien politischer Führungspersönlichkeiten – also etwa aus Angst um ihre Jobs und Privilegien oder aus Furcht vor Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte und pro-iranischer Milizen – den Protesten fernbleiben, stimmen im Grundsatz den Zielen mehrheitlich zu.

Richtig ist, dass sich die überwiegend jungen Demonstranten von den politischen Eliten entfremdet haben. Nicht zuletzt aber fühlen sich auch wesentlich breitere Teile der Bevölkerung nicht mehr von diesen repräsentiert. Eine Mehrheit ist desillusioniert und hat das Vertrauen in die Politiker, deren Reformwillen und Problemlösungskompetenz verloren. Deswegen ist davon auszugehen, dass die Protestbewegung von Dauer ist. Es könnte solange Demonstrationen geben, bis Reformen der Regierung erste positive Wirkungen zeigen, sich also die Lebenssituation der Menschen merklich verbessert oder zumindest glaubhafte Schritte der Systemveränderung erfolgen. Bis es einen Wandel gibt, von dem die Masse der Iraker profitiert, ist demnach mit Aufruhr zu rechnen.

Die Proteste haben bereits zur Umsetzung erster Reformen beigetragen und weitere angestoßen. Ob alle Forderungen verwirklicht werden, hängt auch von Faktoren ab, die der Irak nicht unmittelbar beeinflussen kann: Die anhaltende Wirtschaftskrise verstärkt sich etwa durch den drastischen Verfall des Ölpreises und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Dazu kommt der größtenteils auf irakischem Boden ausgetragene Konflikt zwischen den USA und Iran. Die sich überlappenden regionalen und globalen Krisen kann man nicht isoliert voneinander betrachten. Wie sich diese vielfältigen Problemlagen daher auf die Protestbewegung und ihre Forderungen auswirken, bleibt abzuwarten.

Dagegen dürfte der demografische Faktor sicher ein Vorteil für die Protestbewegung sein. Denn die Rebellion ist auch ein Jugendprotest. Die meisten jungen Iraker identifizieren sich mit dem Aufstand und dürften dessen Ziele auch zukünftig einfordern. Der Einfluss der älteren Generation und Eliten wird umgekehrt graduell abnehmen.

Zweifellos haben die Proteste das Gefühl einer gemeinsamen nationalen Identität gestärkt und damit zur Entwicklung eines irakischen Selbstverständnisses beigetragen, welches herrschende ethnisch-konfessionelle Trennlinien überwinden möchte. Deshalb sind sie mehr als eine bloße Jugendrevolte. Zwar ist die Mehrheit der Protestler auf den Straßen unter 30 Jahre alt, doch die formulierten Forderungen dürften die Gesellschaft insgesamt nachhaltig und über alle Altersgrenzen sowie ethnisch-konfessionelle Gegensätze hinweg verändern. Allerdings hat dieser Wandel gerade erst begonnen und verschiedene Interessen und politische Akteure können bisher Errungenes wieder rückgängig machen.

Der Irak ist noch keine wirklich geeinte Nation und die nationale Identität ist noch nicht vollständig ausgebildet. Die Protestbewegung zeigt jedoch, dass die Summe der einzelnen Forderungen eine mögliche identitätsstiftende Grundlage dafür schafft, auf die sich in Zukunft weiter aufbauen lässt. Sicher ist: Die irakische Zivilgesellschaft steht erst am Anfang eines schweren und langen Weges.

 


 

Gregor Jaecke ist Leiter des Auslandsbüros Syrien / Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Beirut, Libanon.

 


 

David Labude ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro Syrien / Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

Regina Frieser war bis Ende Juli 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Auslandsbüro Syrien / Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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