Ausgabe: 3/2020
Seit der Erfindung des Internets dringt der digitale Raum immer weiter in alle Bereiche des Lebens vor und ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Während einerseits das Internet damit zu einer vitalen Infrastruktur geworden ist, ist andererseits nicht hinlänglich bekannt, wie die politische Gestaltung des Internets als vielschichtigem digitalen Raum mit unterschiedlichen Ebenen organisiert ist.
Die Diskussion über die Struktur und Regulierung des Internets hat sich deshalb in den letzten Jahren grundlegend gewandelt: Neben der technischen Betrachtung der Infrastruktur müssen zunehmend Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Strafverfolgung und der Wahrung der Menschenrechte auch für den digitalen Raum diskutiert werden. Aufgrund der globalen Beschaffenheit des Internets kann dies nicht ausschließlich auf nationaler Ebene passieren, sondern muss global geschehen – doch Instrumente des internationalen Rechts, das primär die Beziehungen zwischen Staaten regelt, greifen für das Internet zu kurz. Als dezentrales Netzwerk macht es keinen Halt an den Grenzen des Nationalstaats. Die das Internet gestaltenden Akteursgruppen – beispielsweise Anbieter von Telekommunikationsinfrastruktur, Plattformbetreiber wie Amazon oder Alibaba sowie Gerätehersteller – sind sehr viel diverser und heterogener als die in anderen multilateralen Ordnungsregimen.
Damit das Internet auch in Zukunft ein Raum und Motor für Innovation, Austausch und Begegnung bleibt, bedarf es wachsender Abstimmung und einer Ausweitung internationaler Rechtsgrundlagen in den Bereich der Internet Governance – ein Regime bzw. ein Ordnungssystem für das Internet. Die Coronapandemie könnte diesen Trend noch verstärken, wenn Bereiche, die ad hoc ins Digitale verlagert werden mussten, wie z. B. Unterricht, große Teile des Dienstleistungssektors oder Verwaltungsvorgänge, künftig im digitalen Raum bleiben sollten. Deutschland sollte deshalb seine Anstrengungen zur Stärkung eines auf liberalen Normen und Werten basierenden Internet Governance-Regimes ausweiten.
Ein Regime für das Internet
In den letzten Jahren gab es zahlreiche Fälle, in denen durch Whistleblower auf die Gefahren von Nichtregulierung einzelner Bereiche des Internets hingewiesen wurde. Ein prominentes Beispiel war die von Edward Snowden 2013 aufgedeckte globale Überwachungs- und Spionageaffäre: In großem Umfang wurden Telekommunikation und insbesondere das Internet global und verdachtsunabhängig durch die US-amerikanische National Security Agency (NSA) und andere Geheimdienste überwacht. Trotzdem finden Diskussionen über den Aufbau, die Funktionsweisen oder die tonangebenden Akteure dieses „Netzwerks der Netzwerke“ eher in Fachkreisen und nicht in der breiten Öffentlichkeit statt.
Die Komplexität des Systems Internet führt dazu, dass sich Konflikte nicht klar auf einer (Lösungs-)Ebene einordnen lassen. Zwar handelt es sich um globale Herausforderungen, die nicht an den Grenzen von Nationalstaaten haltmachen. Deshalb werden sie vermeintlich zu Recht zunächst auf der Ebene bestehender Konfliktlösungsmechanismen internationaler Organisationen verortet. Allerdings sitzen hier nicht alle relevanten, das Internet maßgeblich gestaltenden Entscheidungsträger am sprichwörtlichen Verhandlungstisch – denn die wichtigsten sind nichtstaatliche Akteure. Lösungen für Regulationsfragen des Internets müssen deshalb mit einer breiter aufgestellten Akteursgruppe gefunden werden, als es bei anderen multilateralen und globalen Herausforderungen der analogen Welt der Fall ist.
Der Blick in die Wissenschaft kann dabei helfen, über die komplexe Thematik der Internet Governance nachzudenken: Ähnlich komplexe Probleme wie etwa die Bekämpfung des globalen Klimawandels oder Abstimmungen für einen faireren Welthandel werden in der Politikwissenschaft als „Verflechtungsproblem sektoraler Art“ betrachtet. Mit zunehmender Globalisierung hat sich in den Internationalen Beziehungen, einer politikwissenschaftlichen Teildisziplin, diese Analyse von Regimen herausgebildet, die sich mit eben jenen sektoralen Verflechtungsproblematiken beschäftigt und „also Probleme und Konflikte in bestimmten Teilbereichen der internationalen Beziehungen (Politikfelder)“bearbeitet. Regime bearbeiten Konflikte zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (z. B. multinationalen Unternehmen), wie dies etwa beim Klimawandel oder in globalen Handelsfragen der Fall ist.
Zwar scheinen die Herausforderungen in diesen Bereichen immer größer zu werden – dies liegt teilweise an der enormen Komplexität und Größe der Problemfelder, sodass Teilerfolge medial oft in den Hintergrund treten. Allerdings lässt sich im Nachhinein schlecht beweisen, dass es ohne Einigungen im Rahmen des Klima- oder Welthandelsregimes global zu ähnlich ambitionierten Klimazielen oder einer vergleichbaren wirtschaftlichen Wertschöpfung gekommen wäre.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich der steigende Bedarf an Konfliktlösungsmechanismen und Institutionen als Teil eines Internetregimes ab, welches als Ziel die Aufrechterhaltung des Systems mit allen seinen Vorteilen bei gleichzeitiger Wahrung demokratischer Strukturen und Errungenschaften hat. Eine kurze Übersicht über den Aufbau und die Grundlagen des Internets scheint für Überlegungen zur komplexen Frage der Regulierungsmöglichkeiten deshalb zunächst hilfreich.
Aufbau und Organisation des Internets – Am Anfang stand die technische Koordinierung
Das Internet, wie wir es heute kennen, entwickelte sich maßgeblich zu Beginn der 1990er Jahre. Als Begründer wird der britische Physiker und Informatiker Tim Berners-Lee genannt, der Ende der 1980er Jahre an der Schweizer Kernforschungseinrichtung CERN eine Lösung für den Informationsaustausch zwischen zwei unabhängigen Universitätsnetzwerken in der Schweiz und in Frankreich suchte. Sein Konzept für die Lösung dieses Problems eignete sich dazu, unterschiedliche bereits bestehende Netzwerke miteinander zu verbinden und so Informationen global vernetzt über elektronische Kommunikation auszutauschen. Die offene Struktur und der freie Zugang zu den geschaffenen Internetprotokollen ermöglichte es dem Netzwerk, so rapide zu wachsen und weltweit verschiedenste Netzwerke einzubinden.
Vereinfacht gesagt kann man sich das Internet als bestehend aus unterschiedlichen Schichten vorstellen, von der die unterste die physische Infrastruktur ist (Kabel und elektromagnetische Wellen zur Datenübertragung). Darüber liegt die mittlere Schicht der Internetprotokolle, die die Datenübertragung zwischen Sender und Empfänger über Schnittstellen gewährleisten. Die oberste Schicht ist die, die der Benutzer wahrnimmt: Applikationen, Webseiten oder E-Mail-Programme.
Die ersten das Internet betreffenden Regulierungsinstitutionen befassten sich im Kern mit der untersten Schicht und den technischen Standards seiner Funktionalität. In diesem Aufbau folgten sie der Entwicklung früherer Telekommunikationstechnologien wie Funk oder Telefon; sie gingen teilweise aus denselben Strukturen hervor oder wurden in diese integriert. Eine der ältesten Sonderorganisationen der Vereinten Nationen mit dem Mandat der globalen Koordinierung technischer Standards ist beispielsweise die Internationale Fernmeldeunion (International Telecommunication Union, ITU). Ursprünglich 1865 mit dem Ziel gegründet, damals existierende internationale Telegrafennetzwerke zu verbinden, gehen viele Standardisierungen im Bereich der Tele- und Funkkommunikation auf die ITU zurück. Sie hat heute 193 Mitgliedstaaten.
Eine der ersten ausschließlich das Internet betreffenden Institutionen, die 1988 gegründete Internet Assigned Numbers Authority (IANA), befasste sich – vereinfacht ausgedrückt – mit der Vergabe von IP-Adressen, also der mittleren Schicht. Sie wurde in die 1998 gegründete Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) integriert, welche die Aufgabe hat, das Zentralregister für die Vergabe einmaliger Namen und Adressen im Internet zu koordinieren. Im Unterschied zur ITU mit ihren VN-Mitgliedstaaten wurde ICANN von der US-Regierung der Clinton-Administration unter Beteiligung von Führungskräften damals maßgeblicher US-Informationstechnologiefirmen wie IBM und AOL als privatwirtschaftliche Regulierungsbehörde ins Leben gerufen, um einem internationalen Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Standards und Gesetzgebungen entgegenzuwirken. Aus heutiger Sicht vielleicht ein Paradoxon, befürworteten die führenden Telekommunikationsunternehmen der 1990er Jahre ein internationales Organisationsregime außerhalb der ITU, was dem damaligen Neoliberalismus der USA und der Abneigung gegen (zwischen-)staatliche Bürokratie und lange Aushandlungsprozesse des VN-Systems entsprach.
Die ICANN war also eine von den USA dominierte Institution, die eigentlich innerhalb von zwei Jahren vollkommen privatisiert und unabhängig werden sollte. Dieser Schritt wurde allerdings aufgrund US-amerikanischer Interessen immer wieder hinausgezögert. Solange es nur wenige Akteure im Internet gab und die Organisation funktionierte, war die Position der ICANN relativ unbestritten und es gab wenig Anlass, das laufende System zu verändern. Neben IANA und ICANN entstanden eine Reihe weiterer technischer Koordinierungsinstitutionen, die dem Ansatz des freien und offenen Multistakeholder-Internets – also eines Internets gestaltet von vielen verschiedenen Beteiligten – folgten und so wenig staatliche Regulierung wie möglich befürworteten. Gerade dieser Ansatz eines freien und offenen Internets außerhalb von durch Staaten dominierten Institutionen wie den VN trug zu seiner beispiellosen globalen Entwicklung bei. Die effektive technische Koordinierung begründete die lange Erfolgsgeschichte von ICANN und ihre Legitimität wurde zunächst nicht infrage gestellt. Die meisten privaten Akteure hatten kein Interesse an einer Umstellung des Systems, solange Telefonnummern und IP-Adressen so ausgegeben wurden, dass die Zuordnung funktionierte.
Von „frei und offen für alle“ zu mehr staatlicher Beteiligung
Von Anfang an gab es jedoch bei der ICANN- Gründung Widerstand von staatlicher Seite: Aus Angst, keinen Einfluss auf die wichtigen Entscheidungen zu haben, setzten sich eine Reihe europäischer Regierungen für die Einbeziehung von Staaten und internationalen Institutionen ein. Aus diesem Grund wurde der ICANN-Struktur ein staatlicher Beirat (Governmental Advisory Committee, GAC) hinzugefügt. Beim ersten Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society, WSIS) 2003 äußerten China, Brasilien, Russland, Südafrika sowie eine Reihe Länder des Globalen Südens mit Unterstützung der ITU Kritik an der gegenwärtigen Internet Governance-Struktur. Der Streit war entbrannt zwischen zwei Lagern: Staaten und Akteuren, die die Dominanz der USA im gegenwärtigen Entscheidungssystem kritisierten und sich eine multilaterale Institution wünschten auf der einen Seite und Vertretern des Privatsektors, den USA und weiteren Organisationen, die den Status quo unterstützten und die Notwendigkeit für Governance-Strukturen im Internet negierten, auf der anderen Seite.
Ergebnis des WSIS war die Gründung eine Arbeitsgruppe für Internet Governance (Working Group on Internet Governance, WGIG). Diese hatte verschiedene Aufgaben, unter anderem die Formulierung einer Arbeitsdefinition von Internet Governance, die Identifizierung von Fragen öffentlicher, das Internet betreffender Politik sowie die Auflistung der im Internet vertretenen Akteure, deren Rollen und Verantwortungen.
Die WGIG trug dazu bei, ein breiteres Verständnis von Internet Governance zu etablieren; sie definierte sie als „Entwicklung und Anwendung gemeinsamer Prinzipien, Normen, Regeln, Entscheidungsverfahren und Programme durch Regierungen, den Privatsektor und Zivilgesellschaft in ihren jeweiligen Rollen, die die Entwicklung und Nutzung des Internets prägen“.
Die Hauptempfehlung der Arbeitsgruppe war die Gründung eines neuen Multistakeholder-Forums, welches sich mit Fragen rund ums Internet auseinandersetzen sollte.
Daraus ging 2005 das Internet Governance Forum (IGF) hervor, dessen Teilnehmer in vier grobe Akteursgruppen eingeteilt werden können: Staaten, Wirtschaftsunternehmen, zivilgesellschaftliche Gruppen sowie die sogenannte Wissensgemeinschaft von technischen Experten („epistemic community“).
Hier wird der Übergang von technokratischen Kooperationsfragen zu einem breiten Internet Governance-Begriff mit immer komplexer wer-denden Koordinierungsfragen deutlich. Zu den Interessen der technischen Wissensgemeinschaft gesellen sich Vertreter wirtschaftlicher Interessen, deren Profitabilität von den Internetstandards der Zukunft abhängt. Diese technischen und wirtschaftlichen Fragen dürfen aber nicht davon ablenken, dass die Wahrung von Normen und Gesetzen im Internet sowie die Achtung der Menschenrechte und des freien Zugangs zum Netz immer wichtiger werden. Beide Sphären können deshalb nicht mehr losgelöst voneinander betrachtet werden: Einschränkungen in den technischen Voraussetzungen können zu Mono- oder Oligopolbildung und der Chancenverzerrung zulasten von kleineren Unternehmen und Start-ups führen. Darüber hinaus kann die Kontrolle technischer Knotenpunkte oder neuer Standards wie der 5G-Technologie zu Machtmissbrauch durch autoritäre Regierungen und zu Einschränkungen der demokratischen Rechte von Gesellschaften führen. All diese Fragen sollen im Rahmen des Internet Governance Forums diskutiert werden, um den größtmöglichen Konsens für die Weiterentwicklung des Internets herzustellen. Dies sind sehr hohe Erwartungen an ein einzelnes Forum, das von Kritikern als zu selbstreferenziell und zu wenig outputorientiert beschrieben wird.
Neue Herausforderungen – E-Währungen, IoT, KI und Corona
Die Geschwindigkeit des technologischen Wandels hat in einem erheblichen Maße auch das gesellschaftliche Leben beeinflusst und dazu beigetragen, dass Generationen von Digital Natives gemeinsam mit Digital Immigrants in sich rasch wandelnden mediatisierten Welten zusammenleben. Das Internet trägt zur Bildung der öffentlichen Meinung bei, beeinflusst, wie Politik gemacht wird und wie Staaten miteinander kommunizieren. Technischer Streit über Details, wie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Domains oder IP-Adressen im aktuellen Internetprotokoll oder den Übergang vom IPv4-Internetprotokoll zum IPv6-System, steht dabei Fragen nach dem Schutz von Daten und der Würde des Menschen gegenüber.
Ein paar Beispiele zeigen, wie neue Technologien bestehende Governance-Systeme möglicherweise grundlegend verändern werden:
E-Währungen
Von kommerziellen Unternehmen entwickelte digitale Zahlungsmittel stellen das gegenwärtige, auf staatlichen Akteuren und Zentralbanken basierende System infrage. Potenzielle Vorteile wie Transparenz, Schutz und Effizienz aufgrund von Blockchain-Technologie stehen Fragen der Normsetzung, Sicherheit und Stabilität gegenüber. Im Bereich der Terrorismusbekämpfung und organisierten Kriminalität spielen Kryptowährungen bereits jetzt eine entscheidende Rolle: Uneinheitliche internationale Standards mit Blick auf das Einfrieren oder Beschlagnahmen von Mitteln zur Finanzierung illegaler Aktivitäten machen die Regulierung schwer. Um nutzbar gemacht zu werden, müssen Kryptowährungen in ein bestehendes Zahlungsmittel konvertiert werden. Hier kann Strafverfolgung ansetzen. Bei zunehmenden Möglichkeiten, E-Geld außerhalb des staatlich regulierten Bankensystems einzusetzen, könnte dies zu einem Problem der Strafverfolgung und damit einem wichtigen Pfeiler in demokratischen Systemen kommen.
Autonomes Fahren
Selbstfahrende Autos sind sozusagen „Datenzentren auf Rädern“ mit Hardware, Software, Sensoren usw. Auch hier stehen die Vorteile automatisierter Fahrzeuge den Gefahren durch Hackerangriffe gegenüber: Nicht nur könnte durch einen Hackerangriff direkter Einfluss auf den Straßenverkehr und damit auf Menschenleben genommen werden, es könnte auch über beeinträchtigte Fahrzeuge Zugriff auf Firmennetzwerke von Autoherstellern erlangt werden.
Schutz der Privatsphäre – Internet der Dinge und KI
Das massenhafte Sammeln von persönlichen Daten ist in sogenannten Smarthome-Hubs nicht das Resultat von Hacking, sondern Daseinszweck dieser Systeme: Es soll die Funktionalität des Systems erhöhen. Viele von diesen smarten Haushaltsgeräten kommunizieren nicht nur mit ihrem Hersteller, sondern auch mit Dritten und in manchen Fällen ohne das Wissen oder die Einwilligung der Nutzer. Aufgrund des transnationalen Agierens der Gerätehersteller sind unterschiedliche nationale Rechtskontexte berührt. Die nationalen Unterschiede zum Beispiel im Beweisrecht machen eine Einigung darüber, wie Daten von Geräten aus dem Internet der Dinge (Internet of Things) gesammelt von Herstellern und Informationsvermittlern gespeichert werden sollen, nicht einfacher.
Die Coronapandemie hat darüber hinaus – zumindest temporär – zu einer weiteren Beschleunigung dieser Entwicklung weltweit gesorgt: Physische Abstandsgebote rücken die Pflege sozialer Kontakte über digitale Netzwerke noch weiter als bisher in den Vordergrund; internetbasierte Dienstleistungen über Plattformen wie Amazon oder Netflix erreichen nie dagewesene Zuwachsraten. Anbieter von Videotechnologie wie Zoom oder Microsoft erleben rasanten Absatz – und selbst Teile von Gerichtsverhandlungen können in Zeiten von Corona in einigen Ländern per Videokonferenz durchgeführt werden. Große Teile der nationalen und internationalen parlamentarischen Arbeit werden ins Internet verlegt: Um arbeitsfähig zu bleiben und gleichzeitig die gebotenen Mindestabstände für den Gesundheitsschutz einzuhalten, verlagerten beispielsweise der Bundestag oder das Europäische Parlament viele Sitzungen ins Internet. Damit sind zentrale Prozesse unserer Demokratie noch unmittelbarer digitalen Angriffen, von Störattacken zur Behinderung der Arbeit bis hin zum Diebstahl vertraulicher Dokumente durch Hacker, ausgesetzt als zuvor.
Klimaregime, Weltwirtschaftsregime, Internetregime?
All diese Beispiele zeigen, dass der Bedarf an Kooperation im Bereich Internet Governance steigt und dass intensiv über neue Konfliktlösungsmechanismen nachgedacht werden muss. Die Verflechtung unterschiedlicher Sektoren im Bereich des Internets wird zusätzlich durch die Vielzahl an Akteuren erschwert. Ähnlich wie zuvor bei der Entwicklung von Regimen der Weltwirtschaftsbeziehungen (Weltwährungsregime mit IWF etc., Welthandelsregime mit GATT und dann WTO etc., Entwicklungsregime mit der Weltbankgruppe usw.) oder des Klimaregimes wird deutlich, dass ohne ein solches Regime Akteure im Internetbereich, die sich kooperativ verhalten, von anderen Akteuren möglicherweise ausgebeutet werden. Zugespitzt gesagt: Wenn es zu keiner Einigung darüber kommt, wie das Internet weiterentwickelt werden soll, ist das System als Ganzes in Gefahr.
Bisherige internationale Regime ließen sich in irgendeiner Form eingrenzen: Die Regime der Weltwirtschaftsbeziehungen basieren momentan maßgeblich auf den Entscheidungen von Nationalstaaten und Zentralbanken. Das Klimaregime wird zwar global betrachtet, aber – bis auf wenige Ausnahmen wie dem Emissionshandel – regional bis lokal geregelt und umgesetzt. Das Menschenrechtsregime ist verankert im internationalen Recht, wird aber durchgesetzt von nationalen Exekutiven. Dem Internet sind keine solchen Grenzen gesetzt.
Hinzu kommt beim Thema Internet Governance, dass es sich, wie oben dargestellt, um einen Komplex mit einer wachsenden Anzahl unterschiedlicher Politikbereiche handelt, die mitgedacht werden müssen. Die Komplexität der unterschiedlichen Politikfelder und deren Verflechtungsgrad bei gleichzeitiger organisatorischer und personeller Vielfältigkeit der beteiligten Akteure, die nicht alle in bestehenden Regimen organisiert sind, macht die Verhandlungen über Internet Governance zu einer sehr schwierigen Angelegenheit. Dieser Komplexität ist man sich durchaus bewusst – weshalb das Internet Governance Forum dementsprechend angepasst und weiterentwickelt werden soll.
Multistakeholder-Initiativen vs. Multilateralismus im Internet
Mit der Unterzeichnung des Contract for the Web von Tim Berners-Lee, der im Rahmen des Internet Governance Forums 2019 in Berlin vorgestellt wurde, unterstützt die deutsche Bundesregierung eine ehrgeizige Initiative, die einem Internet Governance-Regime einen Schritt näher kommen würde. Der Contract for the Web ist eine Verpflichtung, die von Regierungen, Unternehmen und der Zivilgesellschaft entworfen und unterschrieben wurde, um die Grundideen des Internets für die Zukunft sicherzustellen. Jede der unterzeichnenden Gruppen dieser Multistakeholder-Initiative soll unterschiedlichen Pflichten nachkommen: Staaten sollen sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zum Internet haben, Netzsperren verhindern und sich für Datenschutz und digitale Grundrechte einsetzen. Unternehmen werden verpflichtet, das Netz bezahlbar und zugänglich zu machen, die Privatsphäre und Menschenrechte zu respektieren und offene Technologien zu entwickeln, die Nutzer statt Profit in den Vordergrund stellen. Die Zivilgesellschaft soll für die Weiterentwicklung des Netzwerks zusammenarbeiten, einen starken, menschenwürdigen Diskurs unterstützen sowie sich für ein freies, offenes und liberales Internet einsetzen.
Damit greift die Initiative die viergliedrige Struktur auf, die laut Harald Müller, einem Politikwissenschaftler und führenden Regime-Theoretiker, für die Etablierung eines Regimes notwendig ist: Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsprozeduren. Außerdem bringt sie alle oben als relevant identifizierten Akteursgruppen in einen gemeinsamen Beratungsprozess. Sie berücksichtigt sowohl die technische Kooperationskomponente als auch die fundamentalen Grundrechte, die Menschen in der analogen Welt genießen.
Theoretisch scheint damit ein guter Ausgangspunkt für die erfolgreiche Etablierung des Internetregimes gegeben. Für den Erfolg benötigt es laut Müller eine Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum hinweg, um das nötige Vertrauen und die Zuversicht der Akteure in die Wirksamkeit des Regimes zu schaffen.
Für eine Unterstützung von staatlicher Seite setzt sich die deutsche Bundesregierung beispielsweise im Rahmen der Allianz für den Multilateralismus ein. Dieses informelle Bündnis hat sich im April 2019 gegründet aus Ländern, „die davon überzeugt sind, dass nur eine multilaterale Ordnung, die auf der Achtung des Völkerrechts basiert, ein glaubwürdiger Garant für internationale Stabilität und Frieden sein kann, und dass die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, nur in Zusammenarbeit angegangen werden können“. Eine der Initiativen dieser Allianz ist der Paris Call for Trust and Security in Cyberspace. Gleichzeitig muss im Rahmen dieser multilateralen Aufrufe für ein Internet Governance-Regime aufgepasst werden, dass nicht dieselbe Sprache für unterschiedliche Forderungen genutzt wird. China und andere Staaten setzten sich beispielsweise beim Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation 2014 für ein Internet Governance-System des „Multilateralismus, der Demokratie und der Transparenz“ und einen „Cyberspace des Friedens, der Sicherheit, der Offenheit und der Kooperation“ ein. Dieses Lippenbekenntnis zu multilateralen Grundsätzen darf nicht davon ablenken, dass Staaten wie Russland oder China die Forderung nach mehr staatlicher Souveränität im Bereich des Internets nutzen, um zu Gatekeepern für den Zugang ihrer Bevölkerungen zu eingeschränkten Teilen des Internets zu werden. Durch das Abtrennen nationaler Netze tragen sie darüber hinaus zur Fragmentierung des Internets bei.
Chancen auf ein Internet Governance -Regime
Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Akteure und der schon bestehenden Fragmentierung des Internets scheint es naiv, nach globalen Initiativen zur Regulierung dieses komplexen Raums zu rufen. Andere Regime zur Durchsetzung globaler Umwelt-, Wirtschafts- oder Menschenrechtsstandards zeigen trotz ihrer langen Geschichte nur gemischte Erfolge in der Bearbeitung komplexer Probleme. Trotzdem scheint es angesichts der Omnipräsenz digitaler Veränderungen notwendig, über vielversprechende Initiativen für ein Internet Governance-Regime nachzudenken. Mit zunehmender Digitalisierung der Kommunikation müssen Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte im Internet genauso geschützt werden wie im analogen Leben. Sie sind essenziell für das Funktionieren von Demokratien und geraten unter Druck durch autoritäre Staaten, die immer mehr Grundrechte im digitalen Raum einschränken.
Die tiefgreifenden Auswirkungen auf unser tägliches Leben machen es umso dringlicher, Initiativen wie das Internet Governance Forum zu unterstützen und im Zusammenhang mit allen Bereichen der Politik zu denken. Wichtig ist dabei, einen möglichst breiten Konsens gleichgesinnter Staaten, Unternehmen, zivilgesellschaftlicher Gruppen und Wissenschaftlern zu finden, um sich autoritären Tendenzen entgegenzustellen. Diskussionen über vermeintlich technische Fragen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Weiterentwicklung des Internets um Entscheidungen mit weitreichenden politischen Auswirkungen handelt. Multilaterale Strukturen und Institutionen müssen der Multistakeholder-Struktur des Internets Rechnung tragen, um eine Balance herzustellen zwischen einem offenen, freien Raum für Innovation und der Wahrung von Grundrechten.
Christina Bellmann ist Referentin für Europapolitik / Multilateralen Dialog der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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