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David Peinado, NurPhoto, picture alliance

Auslandsinformationen

Phönix aus der Asche

von Ing. Hans-Hartwig Blomeier, Maximilian Strobel

Wie ­Mexiko von globalen Handelskonflikten ­profitiert – und was daraus für Deutschland folgt

Wenn in Deutschland von Nordamerika die Rede ist, denken viele an die ­USA, vielleicht noch an Kanada. Fakt ist aber: Wirtschaftlich und geografisch ist auch Mexiko fester ­Bestandteil der Region und profitiert dadurch wie wohl kein anderes Land vom „Handelskrieg“ zwischen den ­USA und China. Die deutsche Wirtschaft hat das erkannt, die Politik sollte nun schnell nachziehen.

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In den vergangenen Jahren sah sich die Weltwirtschaft gravierenden Disruptionen ausgesetzt: Handelskonflikte, Pandemie, Kriege, etwa in der Ukraine und in Nahost, oder die Blockade von zentralen Transportwegen wie dem Suezkanal und dem Panamakanal haben die Vorstellung eines ewig freien globalen Warenverkehrs infrage gestellt und strukturelle Veränderungen in Gang gesetzt.

Insbesondere der Handelskonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China, den der damalige und womöglich zukünftige US-Präsident Donald Trump im Jahr 2018 als Reaktion auf die (als unfair wahrgenommenen) chinesischen Handelspraktiken vom Zaun brach, resultierte in einer Neujustierung von globalen Handelsströmen und Investmentstrategien und mindestens kurzfristig in erheblichen volkswirtschaftlichen Einbußen – nicht nur bei den Beteiligten selbst, sondern weit darüber hinaus. Die deutsche Wirtschaft etwa musste mit ihrem exportbasierten Ansatz herbe Verluste verkraften, obwohl die Handelsbeziehungen zu beiden Konfliktparteien tendenziell gut blieben. Global ging das Wirtschaftswachstum merklich zurück und ausländische Direktinvestitionen sanken. Inzwischen erfahren jedoch einige Länder, insbesondere Mexiko oder Vietnam, im Rahmen strategischer Neuausrichtungen einen beachtlichen Zustrom an Investitionen und ausländischem Kapital.

Durch den Ausbruch der Coronapandemie nur zwei Jahre nach Beginn des Handelskonflikts wurde der gesamte globale Handel plötzlich und nahezu vollständig in die Knie gezwungen. Kein globalisiertes Land konnte sich den Auswirkungen der Pandemie entziehen, wobei zumindest finanzstärkere Länder in der Lage waren, ihre Volkswirtschaften vorübergehend zu stützen. Global organisierte Wertschöpfungs- und Lieferketten allerdings wurden durch die teils zeitversetzten Lockdowns nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen. Der Warenverkehr speziell über den Pazifik erwies sich auf einmal als substanzielles Betriebsrisiko. Obwohl sich der globale Handel mit Gütern überraschend schnell erholte, werden einige Sektoren langfristig und unwiederbringlich von strukturellen Veränderungen betroffen sein.

Wie Phönix aus der Asche stemmt sich aus dieser ungünstigen Gemengelage Mexiko empor, ein Land mit 128 Millionen Einwohnern auf einer Fläche, die mehr als fünf Mal so groß ist wie Deutschland. Zu Jahresbeginn überraschte die Nachricht, dass der früher als „verlängerte Werkbank“ verschriene Nachbar im Süden der Vereinigten Staaten zum wichtigsten Handelspartner der USA aufgestiegen ist. Während Chinas Exporte in die Vereinigten Staaten im Jahr 2023 mit 427 Milliarden US-Dollar im Vergleich zum Vorjahr um ganze 20 Prozent fielen, wurde Mexiko mit 475 Milliarden US-Dollar, einer Steigerung von 4,6 Prozent, zum Spitzenexporteur.

Dies ist die logische Konsequenz einer Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet. Durch die sich zuspitzende Rivalität der Großmächte sind international operierende Unternehmen zunehmend gezwungen, Risiken – etwa einen chinesischen Angriff auf die Insel Taiwan – zu antizipieren und deren Auswirkungen auf ihr Geschäft zu minimieren (De-Risking). Die Erfahrungen aus der Pandemie sind nun hilfreich und ein naheliegender Ansatz ist, Zulieferer und Lieferketten zu diversifizieren. Auch um Handelshindernissen wie Strafzöllen aus dem Weg zu gehen, werden Produktionsstätten insgesamt näher „nach Hause“, also near to shore, geholt. Diese Dynamik nach knapp vier Dekaden der ungezügelten Globalisierung, die China zur Fabrik der Welt und neuen Weltmacht machte, ist unter dem Terminus Nearshoring in aller Munde.

Mexiko ist durch seine geografische Lage der wohl größte Gewinner des Handelskrieges zwischen den Großmächten und einer zunehmend angespannten geopolitischen Weltlage. Im Rahmen des Nearshoring-Trends strömen derzeit Quartal für Quartal Investitionen in Milliardenhöhe in ein komplexes Land, das immense Sicherheits- und Entwicklungsherausforderungen zu bewältigen hat.

Die 3.000 Kilometer lange Grenze mit den USA ist gleichzeitig die gefährlichste und wirtschaftlich produktivste Grenzregion der Welt. Jährlich werden zehntausende Menschen aufgrund des ausufernden Drogenkrieges getötet oder verschwinden spurlos. Gleichzeitig ist Mexiko Mitglied der mächtigsten Freihandelszone der Welt sowie G20- und OECD-Staat und gehört speziell in der Automobilbranche zur ersten Garde. Es bleibt ein Land voller Widersprüche, geprägt von Unsicherheit und einem eklatanten Wohlstandsgefälle, das man so in keinem vergleichbar industrialisierten Staat findet.

 

Mexiko als Teil Nordamerikas

Die Geschichte der Vereinigten Mexikanischen Staaten und die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika sind engstens miteinander verwoben und reich an Konflikten, aber auch an ökonomischen und kulturellen Verflechtungen. Im Zuge des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges (1846 bis 1848) musste das seit 1821 unabhängige Mexiko circa die Hälfte seines Staatsgebietes an den Norden abtreten, während die USA ihre Südgrenze bis zum Rio Grande verschoben, wo sie bis heute verläuft. Im folgenden Jahrhundert sollte die bisweilen interventionistische Interessenpolitik der USA in der westlichen Hemisphäre dafür sorgen, dass die Neue Welt zweigeteilt wurde: im Norden die Angelsachsen und alles südlich davon als deren „lateinamerikanischer Hinterhof“.

 

Abb. 1: Ausländische Direktinvestitionen in Mexiko (in Milliarden US-Dollar)

https://www.kas.de/documents/d/auslandsinformationen/blomeier_strobel_abb_1_de_web

Quelle: eigene Darstellung nach Gobierno de México, Secretaría de Economía 2024: Inversión Extranjera Directa Cierre de 2023, 15.02.2024, in: https://ogy.de/ut5w [17.06.2024].

 

 

Die Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Eine Kooperation auf Augenhöhe war kaum vorgesehen, die spanischsprachigen Länder wurden vielmehr als notorisch instabil erachtet, nicht in der Lage, souveräne Entscheidungen zu treffen. Einzig der Reichtum an natürlichen Ressourcen erregte großes Interesse bei US-Unternehmen. Das Damoklesschwert einer möglichen Enteignung US-amerikanischer und britischer Erdölgesellschaften durch eine Nationalisierung der mexikanischen Bodenschätze sorgte häufig für Unruhe im Weißen Haus. Erst nach dem Triumph der kubanischen Revolution suchte John F. Kennedy unter großem Druck nach einem new approach in der Kooperation mit dem Amerika südlich der USA.

Wirtschaftliche und migratorische Verflechtungen der beiden Nachbarn gehen – allen politischen Unstimmigkeiten zum Trotz – über Generationen zurück. Die volkswirtschaftliche Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in mehreren Etappen. 1965 schuf die mexikanische Regierung ein industrielles Entwicklungsprogramm, das an der gemeinsamen Grenze Werke zur Montage von Teilprodukten etablierte, die maquiladoras. Der zollfreie Handel mit diesen Waren beziehungsweise das System an sich brachte Hunderttausende in strukturschwachen Grenzregionen in Arbeit und förderte in den folgenden Dekaden ein solides Wirtschaftswachstum, vor allem im Norden Mexikos. Nichtsdestotrotz hatten mexikanische Präsidenten regelmäßig mit hoher Inflation, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung zu kämpfen. Der bis dato eher protektionistische Ansatz wurde Ende der 1980er-Jahre aufgegeben, Handelsbarrieren wurden abgebaut, zudem erfolgte der Beitritt zum GATT, dem Vorgänger der Welthandelsorganisation. Mit dem kontinuierlichen Abbau von Regulierungen arbeitete man auf die Entstehung eines Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada hin, das letztlich 1994 in Kraft trat.

Der Abschluss des richtungsweisenden North American Free Trade Agreement (NAFTA) leitete einen Prozess ein, der innerhalb von 15 Jahren Zölle zwischen den drei Volkswirtschaften abbauen und einen der größten Handelsblöcke der Welt schaffen sollte. Der Deal rief auf beiden Seiten der Grenze auch Widerstand hervor: Gewerkschaften im Norden und Bauern im Süden waren entschieden dagegen. Vor allem Mexiko diente das Abkommen allerdings langfristig dazu, sich den neuen Gegebenheiten einer globalisierten Welt anzupassen. Die Wirtschaft des Landes hat sich in den folgenden Jahren fundamental transformiert und geöffnet. Die meisten Ökonomen sind der Ansicht, dass NAFTA trotz Jobverlusten in den USA und gestiegener illegaler Migration aus Mexiko das Handelsvolumen in Nordamerika signifikant gesteigert und somit das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigungsraten gefördert hat.

Ausgerechnet Mexiko soll den großen Bruder im Norden vor den Tücken der Globalisierung schützen.

Eine aktualisierte Fassung des Handelsabkommens, das United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA) beziehungsweise Tratado entre México, Estados Unidos y Canadá (T-MEC), trat 2020 in Kraft und bedingt unter anderem, dass Automobile zu mindestens 75 Prozent in Nordamerika gefertigt werden müssen, um zollfrei gehandelt werden zu können. Hinsichtlich des Nearshoring-Trends ist diese Klausel äußerst relevant. Autobauer aus aller Welt, die ihre Produkte günstig auf dem nordamerikanischen Markt verkaufen wollen, sind gezwungen, höhere Anteile der Produktion dort zu realisieren. Dies ist ein zentraler Grund für die hohen Auslandsinvestitionen in Mexiko und betrifft selbstverständlich auch alle großen deutschen Namen wie VW, Daimler, BMW oder Audi, genau wie deren Zulieferer. Gleichzeitig versuchen chinesische Firmen, etwa Hersteller von Baumaschinen und Solarmodulen sowie zunehmend auch Autobauer, ihre Produktion nach Mexiko zu verlagern, um potenzielle US-amerikanische Strafzölle zu umgehen.

Die Neufassung des Freihandelsabkommens ist immer auch vor dem Hintergrund der Rivalität mit und des De-Couplings von China zu verstehen. Außerdem wurde während der Blockade des Welthandels durch coronabedingte Lockdowns offenkundig, dass globale Lieferketten, die den Pazifischen Ozean umfassen und gleichzeitig eine Fertigung nach Just-in-time-Prinzip erfordern, eklatante Schwächen aufweisen. So bestellte der Supermarkt-Gigant Walmart im Jahr 2022 lieber eine Million Arbeitsuniformen in Mexiko als in China, was vor kurzer Zeit noch undenkbar gewesen wäre.

Es entbehrt mit Blick auf die Historie nicht einer gewissen Ironie, dass nun ausgerechnet Mexiko den großen Bruder im Norden vor den Tücken der Globalisierung schützen soll. Der Rassismus in den USA und die Überheblichkeit gegenüber den als rückständig dargestellten Mexikanern sind so alt wie bekannt. Die verbalen Entgleisungen Trumps, der mexikanische Migranten gern pauschal diffamiert, gingen um die Welt. Er war allerdings mitnichten der erste Politiker in den USA, der den südlichen Nachbarn als Gefahr darstellte, die die US-Amerikaner um Jobs und Wohlstand bringt. Viele Politiker griffen im Laufe der Zeit auf Mexiko als Sündenbock zurück, drohten mit Invasion oder damit, alle Mexikaner (stellvertretend gemeint für Hispanics) des Landes zu verweisen. In der Regel war dies nur Theatralik, jedoch mit realen Konsequenzen für die Einwanderer im Land.

Heute lässt sich feststellen, dass der Handel mit Mexiko US-amerikanische Arbeitsplätze eher schafft und schützt. Durch die nordamerikanische Freihandelszone sind Liefer- und Wertschöpfungsketten fast untrennbar miteinander verwachsen. Jedes der beteiligten Länder – Kanada, Mexiko, die USA – trägt Teile und Rohmaterialien bei, die wiederum zur Fertigung von Produkten der jeweils anderen unabdingbar sind. Automobile sind das prominenteste Beispiel: Fahrzeuge, die in Mexiko gefertigt werden, könnten ohne Teile und Vorproduktion aus den USA nicht gebaut werden. Circa 40 Prozent der mexikanischen Exporte in die USA bestehen ursprünglich aus Teilen und Komponenten Made in America. Zum Vergleich trifft dies auf circa 25 Prozent der kanadischen und auf nur 4 Prozent der chinesischen Exporte in die USA zu. Die mexikanische und die US-amerikanische Volkswirtschaft sind quasi interdependent, keine könnte ohne die andere annähernd so erfolgreich existieren. Es fehlt in Deutschland noch ein Bewusstsein für die Tragweite dieser gegenseitigen Abhängigkeit.

Joe Biden hat die Politik der Strafzölle gegen China konsequent fortgeführt.

Ob Trump oder Kamala Harris im Weißen Haus landet, ist hinsichtlich der Handelspolitik nicht allzu relevant. Die USA werden protektionistisch agieren, wenn es dem eigenen Vorteil dient oder angesichts externer Entwicklungen, zum Beispiel des als bedrohlich wahrgenommenen Aufstiegs Chinas, als notwendig erachtet wird. Mexiko fährt im Windschatten des mächtigen Nachbarn und ist unter anderem dank seiner Geografie und der gemeinsamen Freihandelszone in einer äußerst günstigen Position.

 

Mexiko als Profiteur geopolitischer Entwicklungen

Aufgrund teils voneinander unabhängiger globaler Trends und geopolitischer Konflikte rückt Mexiko also zunehmend in den Fokus der Weltwirtschaft. Hinzu kommt, dass die Lohn- und Fertigungskosten in China gestiegen sind, was dessen zentralen Wettbewerbsvorteil schwinden ließ. Seit dem Abebben der Pandemie sind die Transportkosten über den Pazifik zwar wieder gesunken, Lieferzeiten hingegen lassen sich kaum beschleunigen. So braucht ein Schiffscontainer circa einen Monat von China in die USA – der Weg aus dem Norden Mexikos ist nur ein Bruchteil davon, während der Preisvorteil einer Produktion im Reich der Mitte inzwischen weniger zu Buche schlägt.

Außerdem hat US-Präsident Joe Biden die Politik der Strafzölle zur strategischen Einhegung Chinas konsequent fortgeführt. Zugleich fügte er der wirtschaftlichen Eindämmung neue protektionistische Aspekte hinzu, etwa Maßnahmen, die chinesische Technologiefirmen vom Wettbewerb in den USA ausschließen. Debatten über derlei Schritte finden auch in Deutschland und Europa statt, zum Beispiel im Zusammenhang mit der chinesischen Firma Huawei und dem Ausbau der 5G-Netze. All dies ist Teil des geopolitischen Metakonflikts, von dem Mexiko heute profitiert.

Was global operierende Unternehmen allerdings brauchen, um Nachfragen professionell bedienen zu können, sind zuverlässige Lieferketten und weitgehende Planungssicherheit. In der Industrie geht man nicht davon aus, dass sich der strategische Wettbewerb zwischen den USA und China mit all seinen Nebenschauplätzen auflösen wird. Im Ernstfall möchte man daher nicht mehr allzu abhängig von China sein und sucht nach neuen Lösungen, Zulieferern und Produktionsstandorten. Mexiko hat das Potenzial, viele dieser neuen Anforderungen zu erfüllen. Insbesondere im industrialisierten, grenznahen Norden, aber auch in Zentralmexiko gibt es Bundesstaaten und Industriecluster, die sich der Investitionen multinationaler Giganten wie Tesla oder Microsoft erfreuen und die notwendige Infrastruktur gewährleisten können.

Nicht erst durch die für Mexiko vorteilhaften Maßgaben des USMCA-Abkommens, sondern bereits seit Inkrafttreten von NAFTA hat sich Mexiko zu einem Autobauerland von Weltformat entwickelt. Dazu kommt nun die Transformation hin zur Elektromobilität, die Mexiko ebenfalls in die Karten spielt. Im Bundesstaat Sonora zum Beispiel, der an Arizona grenzt, lagern die größten Lithium-Vorkommen des Landes, deren Abbau mit der Produktion von Batterien für Elektroautos und dem Bau von Solarparks verbunden werden soll. BMW und Audi planen, Produktionsstandorte in Mexiko in ihre globalen Netzwerke für Elektromobilität zu integrieren, deutsche Zulieferer investieren ebenfalls kräftig. Darüber hinaus bieten die nördlichen Bundesstaaten viel Platz und Sonnenlicht, was für jene Konzerne besonders interessant ist, deren Klima- und Energievorgaben in europä­ischen Mutterhäusern gemacht werden.

Die Regierung kann in Teilen des Landes das Gewaltmonopol nicht durchsetzen.

Das Thema erneuerbare Energien ist nur eines der Politikfelder, in denen die Präsenz und Investitionen von Firmen aus dem Ausland die mexikanische Politik im positiven Sinne treiben könnten. Allerdings wurde dies bisher kaum sichtbar, da der noch amtierende Präsident López Obrador, der 2018 ins Amt kam, diese Energiewende mindestens ins Stocken brachte, wenn nicht gar ganz gestoppt hat. Die Relevanz einer grünen Transformation wurde im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf von den beiden wichtigsten Kandidatinnen zumindest regelmäßig betont. Wenn man die Strukturen des Energiesektors den modernen Anforderungen und Möglichkeiten anpassen könnte, wäre dies ein weiterer Standortvorteil Mexikos.

Allerdings ist das Thema saubere Energie beileibe nicht das einzige strukturelle Defizit des Landes. Mexiko ist auch geprägt von skrupellosen und extrem gewalttätigen, miteinander konkurrierenden Drogenkartellen, korrupten politischen Strukturen, einem hohen Maß an Straflosigkeit und staatlicher Ohnmacht im Angesicht der komplexen Sicherheitsherausforderungen. De facto kann die Regierung in Teilen des Landes das Gewaltmonopol nicht durchsetzen. Neben der inneren Sicherheit sind der schwach ausgeprägte Rechtsstaat und die soziale Schieflage – rund 40 Prozent der Mexikaner leben unterhalb der Armutsschwelle – weitere strukturelle Defizite. Auch der Wahlkampf 2024 war geprägt von einem hohen Maß an Gewalt: Kandidaten wurden bedroht, entführt, ermordet oder wiederum gezielt in politische Ämter manövriert. Kandidaturen wurden angesichts der Bedrohungslage hundertfach zurückgezogen. Investoren und (ausländische) Firmen lassen sich durch diese Faktoren allerdings nicht wirklich abschrecken, weil sie in tendenziell sichereren Bundesstaaten ansässig sind, wo bereits eine industrielle Infrastruktur vorhanden ist, und zudem durch private Sicherheitsfirmen die eigenen Produktionsstätten schützen lassen.

Die am 2. Juni 2024 gewählte künftige Präsidentin Claudia Sheinbaum müsste einen anderen Kurs als ihr Vorgänger fahren, wenn sie die vielfältigen Herausforderungen Mexikos in den Griff bekommen möchte. Das Potenzial des Landes ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Dies gilt auch für eine aktivere Industriepolitik, die gezielt und strategisch Investitionen anwirbt und so Arbeitsplätze und Steuereinnahmen generiert.

Es lässt sich konstatieren, dass in den vergangenen Jahren eine neue Phase der Globalisierung eingeläutet wurde. Es handelt sich hierbei nicht unbedingt um einen Prozess der De-Globalisierung, was weniger internationalen Handel und weniger Investitionen im Ausland bedeuten würde. Man beobachtet vielmehr eine Art Regio­nalisierung. Durch die Freihandelszone Nordamerikas, die geografische und politische Nähe zu den Vereinigten Staaten inklusive selber Zeitzonen, durch relativ günstige klimatische Bedingungen und die notwendige Infrastruktur scheint Mexiko als Gewinner aus dieser neuen Zeit hervorzugehen. Es bleibt abzuwarten, ob das Land die Chancen nutzt, einströmendes Kapital sinnvoll zu absorbieren und für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Kombination mit einer gerechteren Verteilung von Wohlstand zu sorgen. Dies könnte auch für eine Besserung der Sicherheitsproblematik sorgen.

 

Mexiko als Partner Deutschlands oder Deutschland als Partner Mexikos?

Aus deutscher Sicht stellt sich die Frage, wie man an den Chancen teilhaben kann und inwiefern man für die Mexikaner ein interessanter Partner ist. Es reicht nämlich nicht mehr, nur den Hörer in die Hand zu nehmen – Mexiko kann sich seine Partner und Investments heute aussuchen.

Die soziokulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder sind eigentlich bestens. Deutsche Firmen genießen einen ausgezeichneten Ruf vor Ort, speziell die Automobilhersteller, aber auch die vielen Mittelständler sind beliebte Arbeitgeber. In Mexiko ist aus der deutschen Industrie vertreten, was Rang und Namen hat. Insgesamt sind es mehr als 2.100 Unternehmen, die hunderttausende Arbeitsplätze schaffen und einen beachtlichen Beitrag zur sozioökonomischen Entwicklung des Landes leisten. Neben der Autoindustrie sind zentrale Branchen unter anderem Chemie, Maschinenbau, Logistik und Pharmazie.

In Deutschland bekommt man den Eindruck, dass Mexiko unter dem Radar fliegt.

Für Deutschland ist Mexiko der wichtigste Handelspartner in Lateinamerika, Deutschland wiederum ist für Mexiko der wichtigste EU-Partner in Handelsfragen. 2023 summierte sich das Handelsvolumen auf mehr als 29 Milliarden Euro, im Jahr davor waren es noch 25,5 Milliarden und 2021 insgesamt 21 Milliarden – die Tendenz geht also klar nach oben. Für die deutsche Wirtschaft ist das Land ein interessanter Exportmarkt (2023 auf Rang 20 von 239 Ländern) und der wichtigste Investitionsstandort in Lateinamerika. Im Jahr 2023 kamen 7 Prozent oder knapp 2,4 Milliarden US-Dollar der Auslandsinvestitionen in Mexiko aus Deutschland, damit belegte man nach den USA (zum Vergleich: 38 Prozent), Spanien, Kanada und Japan Platz 5.

Kulturell sind die bilateralen Beziehungen geprägt von vielschichtigen familiären Banden durch Auswanderung in beide Richtungen, teils schon vor mehr als 150 Jahren, als deutschsprachige Familien nach Yucatán kamen, oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sie sich auf Kaffeeplantagen in Chiapas niederließen. Abgesehen davon gibt es ein großes Interesse an der deutschen Sprache, was sich anhand der fünf deutschen Begegnungsschulen mit 5.000 Schülerinnen und Schülern zeigt. Laut Auswärtigem Amt studieren derzeit etwa 3.600 Mexikaner in Deutschland.

Auf politischer Ebene sind die Beziehungen etwas kühler, was verschiedene Gründe hat, aber keine akute Neuentwicklung darstellt. Aufgrund seiner Größe – hinsichtlich Fläche, Einwohnerzahl, Wirtschaft, Kultur, Ressourcenreichtum und Biodiversität – ist Mexiko ein regionaler Player von herausragender Bedeutung. In Deutschland hingegen bekommt man oft den Eindruck, dass Mexiko wegen seiner Zwitterstellung – nicht Südamerika, nicht USA – etwas unter dem Radar fliegt. Seit Jahrzehnten macht man sich auf politischer Ebene recht wenig Mühe, den Mexikanern die notwendige Aufmerksamkeit entgegenzubringen.

Ein Beispiel: Der letzte Besuch eines deutschen Wirtschaftsministers in Mexiko fand im Jahr 2002 statt. Mexikanische Präsidenten, mit Ausnahme des aktuellen Amtsinhabers, waren in den vergangenen 25 Jahren mindestens einmal, häufig zweimal während ihrer sechsjährigen Amtszeit in Deutschland zu Gast, deutsche Kanzler dagegen deutlich seltener in Mexiko.

Dazu gesellt sich nun eine geostrategische Ebene, die in den vorherigen Abschnitten ausführlich dargestellt wurde. Wenn man die so oft postulierte Suche nach Handels- und Wertepartnern im Rahmen der wachsenden Systemkonkurrenz ernst meint, ist Mexiko prädestiniert für eine engere Kooperation – allerdings sind die Bemühungen der Politik diesbezüglich unzureichend. Die Diskrepanz zwischen Ankündigungen und Taten innerhalb der deutschen Politik ist eklatant.

In den vergangenen knapp 15 Jahren wurde in Lateinamerika deutlich, was der Westen versäumt hat. Einem Land nach dem anderen konnte China erfolgreich Avancen machen, Investitionen in Infrastrukturprojekte und günstige Kredite ohne lästige Umweltschutz- oder Menschenrechtsstandards nahmen zu. Viele Länder der Region haben Peking Tür und Tor geöffnet und sich damit langfristig in finanzielle Abhängigkeiten (debt traps) begeben. Einige Regierungen kooperieren darüber hinaus eng in Sicherheitsfragen, kaufen Rüstungsgüter und Überwachungstechnologie oder lassen ihre Rohstoffvorkommen und kritische Infrastruktur von China verwalten. Speziell autoritäre Staaten wie Kuba, Nicaragua oder Venezuela sind auf die Unterstützung aus Peking (und Moskau) angewiesen. Allerdings sind auch Partner des Westens, allen voran Brasilien, Chile oder Argentinien, massiv abhängig von China als Abnehmer von Gütern und Rohstoffen oder als Kreditgeber.

Die Bundesregierung täte gut daran, Mexiko als strategischen transatlantischen Partner wahrzunehmen.

So weit wird man es in Mexiko nicht kommen lassen, zu nah und präsent sind die Vereinigten Staaten. Was die deutsche beziehungsweise europäische Politik betrifft, so gibt es durchaus Möglichkeiten, die Beziehungen mit Mexiko auf verschiedenen Ebenen sinnvoll zu vertiefen:

  • Nach den Wahlen in Europa und Mexiko könnte sich die Bundesregierung nun in Brüssel dafür stark machen, dass die Erneuerung beziehungsweise eine Neuverhandlung des EU-Mexiko-Globalabkommens wieder auf die Tagesordnung kommt. Eigentlich ausverhandelt, aber bis dato nicht ratifiziert, liegt das erneuerte Abkommen seit 2018 auf Eis. Die nun fast gleichzeitig erfolgten Wahlen auf beiden Seiten bieten politisches Momentum, aber Europa müsste seine allzu umfassende Werteagenda in Handelsfragen auf ein realistischeres Maß zurückschrauben.
  • Deutschland sollte die wirtschaftliche Kooperation mit Mexiko ausbauen und eine aktivere Außenwirtschaftspolitik konzipieren, die diesen Namen verdient. Deutsche Firmen sind ausgesprochen aktiv im Land, haben gute Kontakte und Zugänge in Wirtschaft und Politik. Die Milliardeninvestitionen der Privatwirtschaft müssen gefördert und insbesondere mit politischer Präsenz und verbesserten Rahmenbedingungen (Rechtssicherheit, innere Sicherheit, Infrastruktur) begleitet werden, was sich ausdrücklich nicht nur auf den Automobilsektor bezieht. In gleichem Maße sollten Investitionen aus Mexiko erleichtert und Marktzugänge für Unternehmen in Deutschland begünstigt werden.
  • Die Bundesregierung täte gut daran, ihre Perspektive zu erweitern und Mexiko als einen strategischen transatlantischen Partner wahrzunehmen. Es sollten neue Wege der politischen Kooperation beschritten und bestehende Formate ausgebaut werden, zum Beispiel in den folgenden Bereichen:
    • Erneuerbare Energien, aber auch LNG (Flüssigerdgas);
    • Umwelt- und Klimaschutz;
    • Bildung und Forschung (duale Berufsausbildung, DAAD etc.);
    • Außen- und Sicherheitspolitik.
  • In erster Linie sollte die Bundesregierung die Kooperation auf Regierungsebene vertiefen, insbesondere durch Treffen der Regierungschefs und wichtiger Ressorts; ein Besuch des Kanzlers in Mexiko in Verbindung mit dem Abschluss von industrie- und kulturpolitischen Abkommen wäre sinnvoll und stünde – im Gegensatz zu anderen Reisen der jüngeren Vergangenheit – im Einklang mit den von der Regierung verabschiedeten Strategien. Mittelfristig sollte man darüber nachdenken, Regierungskonsultationen mit Mexiko aufzunehmen.
  • Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik könnte ein Sicherheitsdialog mit Mexiko über Fragen der internationalen Konfliktlösung, die Beteiligung an UN-Friedensmissionen oder die Zukunft des Multilateralismus die Beziehungen der Staaten vertiefen und Mexiko wieder aktiver in die internationale Arena einbinden.
  • Auch kulturell bieten sich Anknüpfungspunkte, etwa die Buchmessen in Guadalajara, Leipzig oder Frankfurt, die Fußball-Weltmeisterschaft 2026, die (auch) in Mexiko stattfindet, oder eine verstärkte Förderung von universitären Austauschen.
 

Fazit

Keine Analyse Mexikos kommt ohne das Bonmot aus, das dem ehemaligen Präsidenten Porfirio Díaz Mori (1830 bis 1915) zugeschrieben wird: „Armes Mexiko, so fern von Gott und so nah an den Vereinigten Staaten.“ Sollte sich die Geografie des Landes nun endlich als Segen erweisen?

Eine außerordentliche, in Teilen gar glückliche Kombination aus globalen Entwicklungen und geopolitischen Konflikten spielt Mexiko handelspolitisch in die Karten. Das Land hat viele Trümpfe auf seiner Seite und durch kluge Investitionen infrastruktureller und politischer Natur könnte die Lage weiter verbessert werden. Mexiko ist schon lange kein Entwicklungsland mehr, sondern eine aufstrebende industrialisierte Regionalmacht im Herzen des amerikanischen Kontinents, die in Zeiten von Nearshoring für viele Industrien von großem Interesse ist.

Die politischen Akteure in Deutschland und in der EU haben die Zeichen der Zeit, entgegen allen Beteuerungen, noch nicht hinreichend erkannt. Mit der klassischen Zuordnung Mexikos als Teil Lateinamerikas wird die Realität nicht ausreichend erfasst, es kommt unweigerlich zu Fehleinschätzungen. Dafür muss man sich nur die Geografie vor Augen führen: Zwischen Mexiko-Stadt und São Paulo liegen 7.500 Kilometer. Das ist mehr als doppelt so viel wie zwischen Helsinki und Lissabon. Mit Besuchen im brasilianischen Regenwald oder in Buenos Aires erreicht man zwar die großen Player in Südamerika, lässt Mexiko aber sträflich außen vor. Weder die mexikanische Politik noch die Bevölkerung fühlen sich so von Europa und seiner Politik sonderlich ernst genommen.

Die Amtsträger in Berlin oder Brüssel müssen lernen zu verstehen, dass Mexiko nicht nur geografisch, sondern auch volkswirtschaftlich, sozial und was politische Interessen angeht, durch das Freihandelsabkommen USMCA de facto ein Bestandteil des wirtschaftlichen Riesen Nordamerika ist. Zum Vergleich: 2023 betrug der Anteil des europäischen Wirtschaftsraums EEA nur 18,14 Prozent am weltweiten Bruttoinlandsprodukt – das Dreieck USA-Mexiko-Kanada erwirtschaftete 29,59 Prozent.

Wenn der Westen, die EU und die Bundesregierung tatsächlich Verbündete suchen, die ähnlichen Werten folgen und die im Kontext globaler Systemkonkurrenz strategisch enger gebunden werden sollen, muss dies auch mit belastbaren Taten und politischen wie wirtschaftlichen Investitionen untermauert werden. Mexiko stünde bereit, wird aber nicht ewig auf Europa warten.

 


 

Hans-Hartwig Blomeier ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko.

 



Maximilian Strobel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko.

 


 

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