Ausgabe: 4/2016
Tausend Jahre alt soll japanischer Mythologie zufolge der als Glücksbringer angesehene Kranich werden. Wer keine Mühe scheut, tausend Papierkraniche zu falten, dem sei, so der japanische Volksglaube, Gesundheit und ein langes Leben beschieden.
Ganz im Sinne des sagenumwobenen Kranichs erfreut sich Japans Bevölkerung einer zusehends steigenden Lebenserwartung. 2015 lag diese bei der Geburt für Männer bei 80,79 Jahren, für Frauen bei 87,05 Jahren. Im globalen Vergleich haben Japans Frauen damit die längste Lebenserwartung, Männer die drittlängste. Spitzenreiter ist Japan beim prozentualen Anteil der Senioren an der Gesamtbevölkerung. 27,3 Prozent der Bevölkerung sind über 65 Jahre alt (dies entspricht insgesamt 34.610.000 Menschen). Diese Entwicklungen stellen die Regierung vor erhebliche finanzielle und politische Probleme. Versinnbildlicht werden diese Herausforderungen durch den Sakazuki genannten zeremoniellen Trinkbecher. Senioren erhalten im Jahr ihres 100. Geburtstages einen solchen Trinkbecher aus Silber, der umgerechnet etwa 70 Euro kostet. Zusammen mit einer vom Premierminister unterzeichneten Anerkennungsurkunde werden diese feierlichen Geschenke am „Tag des Respekts für Senioren“ (Keirō no Hi) an die Hundertjährigen in ganz Japan versendet. Als diese Tradition 1963 in Japan eingeführt wurde, lebten im ganzen Land gerade einmal 153 Hundertjährige. Heute, fünf Jahrzehnte später, liegt die Zahl der über Hundertjährigen gar bei 60.000. 2015 hat das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales knapp zwei Millionen Euro für die Herstellung und Verleihung der Sakazuki ausgegeben. Da das Ministerium aufgrund der rasant steigenden Zahl der Hundertjährigen die Produktionskosten der aus Sterlingsilber gefertigten Sakazuki längst nicht mehr rechtfertigen kann, wurde dieses Jahr erstmalig auf billigere Legierungen zurückgegriffen. In der Vergangenheit wurde der Becher bereits etwas verkleinert. So harmlos dieses Beispiel auch anmuten mag: Japan steckt in einer demografischen Krise. Aufgrund der hohen Lebenserwartung altert die Gesellschaft rasant und die niedrige Geburtenrate verursacht eine rückläufige Bevölkerungszahl. Die japanische Regierung ist fieberhaft bemüht, der sich anbahnenden demografischen Katastrophe entgegenzuwirken. Bekommt die Regierung den demografischen Wandel nicht in den Griff, stehen Japan düstere Zeiten bevor.
Ein Grund zur Panik
Soziologen und Demografen bezeichnen Gesellschaften, in denen mehr als 21 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter sind, als „überaltert“. Der Anteil der über 65-Jährigen in Japan liegt nach jüngsten Schätzungen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten bei 27,3 Prozent. Es wird prognostiziert, dass dieser Anteil bis 2060 auf bis zu 39,9 Prozent ansteigen wird. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass bereits bis 2040 auf jeden Teenager unter 15 Jahren in Japan drei Senioren im Alter über 65 kommen werden. Japans Bevölkerung ist nicht nur heute bereits überaltert, sie altert auch mit besorgniserregender Geschwindigkeit. Doch die rasante Alterung ist vielmehr ein Symptom der demografischen Krise, mit der sich Nippon konfrontiert sieht. Tatsächlich ist eine längere Lebenserwartung der Bevölkerung eines der gewünschten Ergebnisse erfolgreicher Industrienationen. Eine hohe Lebenserwartung spiegelt die Erfolge des Staates in den Bereichen Medizintechnologie und Gesundheitsfürsorge direkt wider und deutet auf eine generell hohe Lebensqualität hin. Dass die Japaner im Schnitt also älter werden, ist ein Zeichen für den Erfolg des japanischen Wohlfahrtsstaates. Japans Problem ist nicht das hohe Alter der Bevölkerung, sondern deren Schrumpfen; die Fertilitätsrate liegt bei 1,46 Kindern pro gebärfähiger Frau. Um ein Nachwuchsequilibrium zu erreichen, oder anders ausgedrückt, ein Schrumpfen der Bevölkerung zu verhindern, müsste eine Rate von 2,07 Kindern pro gebärfähiger Frau erreicht werden. Experten rechnen allerdings mit einer Negativentwicklung der Fertilitätsrate: Bei jetziger Entwicklung und ohne Eingreifen der Regierung wird angenommen, dass bis 2060 nur noch durchschnittlich 1,35 Kinder pro Frau geboren werden. Die Bevölkerungszahl würde entsprechend von den heutigen 127,3 Millionen auf 94,6 Millionen schrumpfen. Dies stellt einen zu erwartenden Bevölkerungsverlust von fast 33 Millionen Menschen dar. Zum Vergleich: Die Metropolregion Tokio hat rund 34 Millionen Einwohner. Es gibt noch weitere Gründe zur Sorge. Die beschriebenen Entwicklungen der Überalterung und Schrumpfung der Gesellschaft werden sich verheerend auf das Verhältnis von erwerbstätiger Bevölkerung zu Senioren auswirken. Wenn, so wird prognostiziert, die Erwerbsbevölkerung bis 2060 auf 50,9 Prozent der Gesamtbevölkerung abfällt, würde jeder japanische Rentner im Schnitt nur noch von 1,25 Erwerbstätigen unterstützt. Dies würde zu immer höheren Steuerabgaben und kleineren Privatvermögen der Bevölkerung führen. Prognosen deuten diesbezüglich an, dass das durchschnittliche Vermögen privater Haushalte bis 2024 auf das Niveau von 1997 abgefallen sein wird. Die demografische Krise, die Japan erleidet, droht zu einer Katastrophe zu werden.
Die durch den Rückgang der Geburtenquote ausgelöste Vergreisung Japans lässt sich in drei Phasen einteilen. Während der ersten Phase in der Nachkriegszeit von 1947 bis 1957 halbierte sich die Fertilitätsrate von 4,54 auf 2,04. In der zweiten Phase von 1957 bis 1973 stabilisierte sich die Rate und pendelte sich bei 2,0 Kindern pro gebärfähiger Frau ein. Diese Periode war geprägt durch Japans ökonomischen Aufschwung und einen jährlichen zehnprozentigen Einkommensanstieg pro Kopf. Die dritte Phase, von 1973 bis heute, ist gekennzeichnet durch einen steten Abfall der Fertilitätsrate, ausgelöst durch wirtschaftliche Stagnation und häufige Rezessionen. Die Fertilitätsrate liegt heute in Japan bei etwa 1,46 Kindern je Frau. Tatsächlich gab es seit 1974 nicht ein einziges Jahr, in dem die Rate über dem Reproduktionsniveau lag. Gründe für den Abfall der Fertilitätsrate und der damit verbundenen rückläufigen Geburtenzahlen sind eng an die wirtschaftlichen Verhältnisse in Japan gekoppelt. Das Land droht immer wieder in die Rezession abzurutschen. Die Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt bei über 240 Prozent und die nach dem Premierminister benannte Wirtschafts- und Geldpolitik Abenomics hat noch immer keine Gesundung der Wirtschaft eingeleitet. Für die Bürger Japans bedeutet dies kleinere Einkommen, gekürzte Sozialleistungen und letztendlich pessimistische Zukunftsaussichten. Diesem ökonomischen Pessimismus ist es vor allem geschuldet, dass Japaner, wenn überhaupt, viel später als in der Vergangenheit heiraten. Experten sagen, dass spätere Heirat und der Trend zum Singleleben für rund die Hälfte des Geburtenzahlenrückgangs verantwortlich gemacht werden könnten. Japanische Paare heiraten heute später als noch in den 1970ern. Mit rund 31 Jahren heiraten Männer heute im Durchschnitt 4,2 Jahre später als noch in den 1970er Jahren; Frauen sind sogar 5,2 Jahre älter, wenn sie mit 29 Jahren erstmals heiraten. Im japanischen Kontext bedeuten weniger oder spätere Heiraten weniger Nachwuchs, denn nur zwei Prozent aller japanischen Kinder werden außerehelich geboren; in Großbritannien und den USA liegt der Prozentsatz vergleichsweise bei 40 Prozent. Geschuldet sind diese Entwicklungen der schlechten Wirtschaft, dem erwähnten Lohnabfall, und, mehr denn je, der einzigartigen japanischen Unternehmenskultur. In japanischen Unternehmen herrscht striktes Senioritätsprinzip: Alter und Dauer der Betriebszugehörigkeit eines Angestellten entscheiden über die Höhe des Gehalts und die Position innerhalb der Firma. Junge Angestellte verdienen in den ersten Jahren oft nur ein relativ bescheidenes Einkommen. Das Senioritätsprinzip bringt es ebenfalls mit sich, dass japanische Angestellte extrem lange Arbeitszeiten haben; denn solange der Vorgesetzte noch im Büro ist, bleiben auch die Angestellten. Der Zusammenhang zwischen niedrigeren Löhnen bei gleichbleibend hohen Lebenshaltungskosten, einer unausgeglichenen Work-Life-Balance, die dem individuellen Arbeiter kaum Freizeit lässt, und einer sich im Sturzflug befindenden Geburtenrate liegt auf der Hand. Wer in Japan Karriere machen will, heiratet spät, hat wenige oder gar keine Kinder und so gut wie keine Freizeit. Um die Wirtschaft anzukurbeln, hat Shinzo Abes Regierung die Abenomics jüngst um die Womenomics ergänzt. Frauen sollen nun vermehrt in die Erwerbsbevölkerung eingegliedert werden. Dies bedeutet im Umkehrschluss nun aber auch, dass mehr Frauen als je zuvor unter der japanischen Unternehmenskultur leiden. Die Karrierefrauen der Womenomics haben, ebenso wie ihre männlichen Kollegen, wenig Freizeit (es klingt banal, doch Freizeit ist die Grundvoraussetzung, um potenzielle Partner kennenzulernen und Kinder zu zeugen) und wenig Geld. Dies sind zweifelsohne nicht die besten Voraussetzungen, um die Geburtenrate anzukurbeln.
Die beschriebenen Prognosen und Entwicklungen sind besorgniserregend. Doch die demografische Krise hat schon jetzt erhebliche Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und soziale Aspekte. Japanische Senioren wählen nachweislich für protektionistische Politik; sie stimmen eher für rentenpolitische Initiativen ihrer Regierung als für Bildungspolitik oder Kindergartenausbau. Rentenpolitik und die Stimmen der Senioren sind nichts Schlechtes und sie sind notwendig. Auch ist es nur zu erwarten, dass Interessengruppen wie die japanischen Senioren für Politiken stimmen, die sie selbst betreffen. Problematisch wird dieses Verhalten erst, wenn das Kräfteverhältnis zwischen „jung“ und „alt“ in der Bevölkerung so stark gekippt ist wie in Japan. Hinzu kommt, dass Nippons Senioren bei Wahlen stark überrepräsentiert sind. Dies geht zurück auf die Distrikteinteilung nach dem Zweiten Weltkrieg, als zwei Drittel der Bevölkerung in ländlichen Regionen lebten. Diese Distrikte und Präfekturen stellten entsprechend viele Abgeordnete für das Parlament. Heute lebt allerdings nur noch ein Fünftel der Bevölkerung auf dem Land; die große Mehrzahl der Japaner lebt längst in Städten. Doch das Verhältnis zwischen Abgeordneten, die aus einer Präfektur ins Parlament entsandt werden, und den tatsächlichen Präfekturbewohnern hat sich über weite Teile des Landes noch nicht an die neuen Lebensrealitäten angepasst. Die besonders „grauen“ und entvölkerten Präfekturen Japans schicken immer noch überdurchschnittlich viele Abgeordnete ins nationale Parlament (Kokkai). Das konservativ-protektionistische Wahlverhalten der bei Wahlen überproportional repräsentierten Senioren hat einen indirekten Einfluss auf den Abfall der Geburtenrate, denn Kindererziehung bleibt teuer in einem Staat, der mit einem Auge stets auf Rentenpolitik und Sozialleistungen für Senioren blicken muss. Ausgaben für Sozialleistungen, einschließlich Renten, Altenpflege und Gesundheitsvorsorge, sind für ca. 55 Prozent der unverzinslichen Gesamtregierungsausgaben verantwortlich.
Altersarmut ist schon heute ein großes Problem in Japan. Mit einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung schrumpfen zwangsläufig auch soziale Sicherheiten. Sozialleistungen für Senioren und Rentenbezüge wurden in der jüngeren Vergangenheit bereits beschnitten. Mehr japanische Rentner als je zuvor beziehen Minirenten; Arztkosten und Krankenhausbehandlungen müssen zu 30 Prozent eigenanteilig bezahlt werden. Japans Senioren werden trotz politscher Überrepräsentation ärmer. Die Altersarmut in Japan führt bisweilen zu äußerst bedauerlichen Erscheinungen wie einer steigenden Alterskriminalitätsquote. Obwohl die generelle Kriminalitätsquote in Japan sinkt, hat sich seit 2001 die Anzahl der von Senioren begangenen Straftaten versechsfacht: Japans Senioren sind verantwortlich für 16 Prozent aller polizeilichen Ermittlungen. Besonders oft handelt es sich um Fälle von Laden- oder Taschendiebstahl. Der Anteil von Gefängnisinsassen im Alter von über 60 Jahren ist mit zwölf Prozent im Vergleich zu durchschnittlich nur fünf Prozent in anderen fortgeschrittenen Industrienationen vergleichsweise hoch.
Die Herangehensweise der Regierung und freien Wirtschaft an den demografischen Wandel sollte von zwei Seiten betrachtet werden. Einerseits erhofft sich der Staat durch die Implementierung geeigneter Maßnahmen, die Geburtenrate aktiv zu erhöhen und neue Wege für eine holistischere Integration von bestimmten Bevölkerungsteilen in den Arbeitsmarkt zu finden. Andererseits ist das stetig voranschreitende Ergrauen der Gesellschaft bereits eine Realität, der politisch und wirtschaftlich ins Auge geblickt werden muss. Wie also reagieren Regierung und Wirtschaft auf diese demografische Herausforderung?
Silberstreif am Horizont?
Japans Regierung ist sich dieser Unheil verheißenden Trends sehr wohl bewusst und hat bereits Maßnahmen ergriffen, seine außer Kontrolle geratene Demografie zu retten.
Auf nicht unkreative Art versucht sich die japanische Regierung als Cupido, um auf regionaler Ebene der niedrigen Geburtenrate entgegenzuwirken. Seit wenigen Jahren bieten einige Gemeinderäte jungen Einwohnern im heiratsfähigen Alter einen Partnervermittlungsdienst an. So sammelt zum Beispiel die Präfektur Ehime auf der Insel Shikoku große Datenmengen – sogenannte Big Data – von Einwohnern, die auf der Suche nach einem passenden Ehekandidaten sind. Anhand der eingespeisten Daten sucht das System nach geeigneten Partnern in der Region und soll die Chancen auf eine schnelle und erfolgreiche Vermittlung erhöhen. Die Präfektur Yamanashi konnte innerhalb eines Jahres 700 Alleinstehende für ein ähnliches Programm begeistern – 100 Mitglieder mehr als ursprünglich von der Regierung erhofft. 200 Paare verabredeten sich, von diesen gaben sich fünf Paare sogar das Jawort.
Ferner ist die Regierung bemüht, die Kindererziehung nicht nur Japans Müttern zu überlassen, um Frauen nach der Geburt des Kindes möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. Derzeit verlassen ca. 60 Prozent aller japanischen Frauen ihren Arbeitsplatz nach der Geburt eines Kindes und widmen sich ausschließlich der Kindererziehung und Hausarbeit. Nur wenige finden wieder Anschluss an die berufliche Karriere. Vermehrt geben schwangere Frauen ihren Beruf auch als Folge von Diskriminierung am Arbeitsplatz auf. In Nippon ist dieses Phänomen bekannt als Matahara, ein Schachtelwort aus dem Englischen für maternity (Mutterschaft) und harassment (Belästigung). Eine Umfrage des Arbeitsministeriums unter schwangeren Frauen, die einer Teilzeitb eschäftigung nachgingen, ergab, dass fast die Hälfte der Befragten Diskriminierungen durch Vorgesetzte und Kollegen ausgesetzt war. Bei Vollzeitkräften lag der Anteil bei knapp 22 Prozent. Matahara äußert sich am Arbeitsplatz insbesondere durch verbalen Missbrauch, Degradierung und ungerechte Behandlung. Trotz einiger wegweisender Gerichtsentscheide, die die Benachteiligung von Schwangeren für unrecht befanden, ist es fragwürdig, ob sich die Mentalität des japanischen, männerdominierten Arbeitskollektivs ohne geeignete Fortbildungsmaßnahmen innerhalb eines Unternehmens verändern kann.
Im Kontrast dazu liegt der prozentuale Anteil an Männern, die in Vaterschaftsurlaub gehen, landesweit bei lediglich 2,3 Prozent. Ironischerweise bietet Japan laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit die großzügigsten Konditionen für Väter unter allen OECD-Staaten. Theoretisch könnten japanische Väter bis zu 52 Wochen bei Beibehaltung von fast 60 Prozent des Gehalts freigestellt werden, praktisch tun sie es aber nicht. Diese Diskrepanz rührt nicht in geringem Maße von dem sozialen Stigma, das im gesellschaftlich eher konservativ geprägten Japan mit der traditionellen Geschlechterrollenverteilung verknüpft ist. Für Shinzo Abe, der durch seine Womenomics den Anteil von Frauen an der Erwerbsbevölkerung zur Ankurbelung der stagnierenden Wirtschaft erhöhen will, sind solche Ansichten ein Dorn im Auge. Daher sollen nun Unternehmen, die es Vätern erleichtern, Vaterschaftsurlaub in Anspruch zu nehmen, vom Staat subventioniert werden. Vorreiter der Bewegung in der Politik war unter anderem Kensuke Miyazaki, ein junger Abgeordneter der Liberaldemokratischen Partei (LDP), der als erster Politiker in der Geschichte Japans Vaterschaftsurlaub in Anspruch nehmen wollte. Nur zwei Monate später allerdings, eine Woche vor der Geburt seines Kindes, trat Miyazaki aufgrund einer aufgedeckten außerehelichen Affäre von seinem Amt zurück. Dieser Skandal könnte in der Gesellschaft die ohnehin schon verbreiteten Vorurteile gegenüber Angestellten, die in Vaterschaftsurlaub gehen möchten, weiter anheizen.
Um die Erwerbsfähigkeit beider Elternteile zu gewährleisten, versucht die Regierung Abe seit 2013, die Anzahl an Kindertagesstätten und deren Kapazitäten zu erhöhen. Hunderttausende Kinder standen anfangs auf den Wartelisten der überlasteten Einrichtungen. Bis 2018 sollen nun 500.000 zusätzliche Betreuungsstellen angeboten werden. Die Regierung ist zwar auf bestem Wege, durch den Bau neuer Kindertagesstätten ihr Kontingent zu erreichen, doch zeichnen sich schon jetzt erhebliche Herausforderungen, herbeigeführt durch teils veraltete Regularien, teils unvorsichtige Deregulierung, ab. Knapp 760.000 qualifizierte Kinderbetreuer kündigten in den letzten Jahren wegen eines zu geringen Einkommens und unverhältnismäßiger Bürokratie. Ursächlich hierfür ist das Subventionssystem der Regierung, das nur lizenzierte Tagesstätten, ob öffentlich oder privat, bis zu 80 Prozent mitfinanziert. Unabhängige Anbieter, die den Angestellten flexiblere und wettbewerbsfähigere Konditionen anbieten könnten, haben auf diesem Markt daher nur geringe Erfolgsaussichten. Wenn sich ein Anbieter jedoch lizenzieren lässt, werden alle Aspekte vom betrieblichen Ablauf über Öffnungszeiten bis hin zu den Gehaltsstufen streng reguliert. Viele Kinderbetreuer können sich aufgrund der vielen verwaltungstechnischen Arbeiten nicht auf die Betreuung konzentrieren. Zudem werden Gehaltserhöhungen meist auf Basis der Seniorität und nicht etwa der Leistung in Aussicht gestellt. Laut Arbeitsministerium kommen nun auf jeden ausgebildeten Betreuer, der sich auf eine Stelle bewirbt, fünf freie Kinderbetreuerstellen. Der zunehmende Druck zur Aufstockung der Betreuungsstellen führt durch Überlastung der Betreuer und überfüllte Tagesstätten unterdessen häufiger zu tödlichen Vorfällen. 2015 kamen landesweit 14 Kinder, meist in inoffiziellen Einrichtungen, ums Leben.
Einen Durchbruch für die langfristige Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt könnte durchaus die momentan von der LDP angestrebte Aufhebung einer seit 1961 geltenden Steuerbegünstigung für Ehepaare darstellen. Die Regulierung legt fest, dass ein Ehepaar eine Steuererleichterung von 360.000 Yen (etwa 3.000 Euro) erhält, wenn ein Partner jährlich weniger als 1,03 Millionen Yen (etwa 9.000 Euro) verdient. 15 Millionen Steuerzahler machen diese Vergünstigung jährlich geltend. In den meisten Fällen sind es die Ehepartnerinnen, die angesichts dieser Steueranreize nur eine Teilzeitstelle belegen. Eine 2011 vom Arbeitsministerium durchgeführte Studie zeigt, dass mehr als ein Drittel verheirateter Frauen ihre Arbeitsstunden absichtlich verringerten, um in diese Steuerklasse zu gelangen. Eine Revision dieser Begünstigung könnte Frauen den beruflichen Auf- und Wiedereinstieg ermöglichen und somit zusätzliche Arbeitskräfte auf den Markt bringen.
Silver Economy
Chronischer Arbeitskräftemangel ist eines der zahlreichen Symptome einer alternden Gesellschaft. Während viele Unternehmen erbittert nach geeignetem Nachwuchs suchen oder Arbeiter aus dem Ausland anheuern, verlassen sich immer mehr japanische Unternehmen auf über 65-Jährige, die aus der Rente zurückkehren. Pola, einer der größten Kosmetikhersteller der Welt mit Sitz in Tokio, vertreibt seine Produkte innerhalb Japans mit der Hilfe von 50.000 Handelsvertreterinnen, die auf Provisionsbasis arbeiten. Diese als Beauty Director bezeichneten Vertreterinnen sind selbstständige Kleinunternehmerinnen, die oftmals über Jahre hinweg einen engvertrauten Kundenkreis aufbauen und durch regelmäßige Hausbesuche aufrechterhalten. Fast 95 Prozent der Gesamteinnahmen Polas in Japan, die sich auf umgerechnet über 870 Millionen Euro belaufen, sind solchen Vertreterinnen zu verdanken. Erstaunlicherweise sind beeindruckende 5.500 dieser „Schönheitsdirektorinnen“ in ihren Siebzigern, 2.500 in ihren Achtzigern und 250 unter ihnen sind sogar schon über 90 Jahre alt. Das Kosmetikunternehmen, das bereits seit 1937 Frauen als Handelsvertreterinnen einsetzt, kennt kein Rentenalter. Wichtig ist für das Unternehmen ein loyales und langfristiges Kundennetzwerk, welches nur über jahrelange Betreuung etabliert werden kann. Die erfolgreichste Vertreterin des Unternehmens, die mehr als 90 Verkaufsstellen leitet, ist 76 Jahre alt und hat fünf Enkelkinder.
Auch die fertigende Industrie, einst Motor der japanischen Wirtschaft, stellt betagte Arbeiter zunehmend wieder in den Dienst. Vor knapp einem Jahrzehnt beschloss der 1905 gegründete Lagerhersteller Isoda Metal, auch Facharbeiter über 65 Jahre weiterhin zu beschäftigen. Diese erhalten Einjahresverträge und übernehmen neben ihrer Haupttätigkeit auch meist noch die Ausbildung von Berufseinsteigern. Der Vorsitzende des Unternehmens, das unter anderem die japanischen Meeresselbstverteidigungsstreitkräfte mit U-Bootkomponenten beliefert, empfindet die Ausscheidung qualifizierter und erfahrener Mitarbeiter als Betriebsrisiko und unterstützt die Rolle der Veteranen als Vorbild für Berufsanfänger. Mittlerweile sind 25 Prozent aller Angestellten des Herstellers zwischen 60 und 80 Jahre alt. Ein weiteres Unternehmen in der Metallindustrie stellt seit 2001 sogar nur noch Bewerber über 60 Jahren ein, da diese willens sind, auch an Wochenenden und Feiertagen zu arbeiten und somit der Fertigungsprozess nahtlos aufrechterhalten werden kann.
Diese Beispiele zeigen, dass Menschen im Rentenalter durchaus erfolgreich in den japanischen Arbeitsmarkt integriert werden können. Der Arbeitsmarkt ist jedoch nicht der einzige Bereich, der sich zusehends wandelt; auch Produkte und Dienstleistungen des Absatzmarktes müssen der alternden Gesellschaft gerecht werden und sich neu ausrichten. Die sogenannte Silver Economy verspricht zahlreiche neue Geschäftsmöglichkeiten. So bieten viele der in Japan allgegenwärtigen Mini-Märkte bereits ganze, für Senioren ausgelegte Produktpaletten wie Nahrungsmittel und Hygieneartikel an. Besonderen Wert legt die japanische Regierung auf Unternehmen, die sich auf Medizintechnologien spezialisieren, um zukünftig die rasant steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung zu bändigen. Als eine der führenden Nationen in der Robotertechnik entwickeln und erproben Nippons Forscher nun auch Technologien wie zum Beispiel Exoskelette und Roboter für Rehabilitation und Unterstützung in der Altenpflege. Einige Forschungsprogramme werden sogar vom Ministerium für Wirtschaft und Industrie (METI) finanziert. Eine von dem Forscher Takanori Shibata entwickelte und auf den Namen Paro getaufte Roboterrobbe, die Senioren psychischen Beistand bei Depressionen, Demenz und anderen Leiden leisten soll, wurde bereits 3.500 Mal in 30 Ländern verkauft. In Dänemark soll der Robo-Seehund sogar in über 80 Prozent der von lokalen Regierungen betriebenen Pflegeheimen im Einsatz sein. Die größte Herausforderung stellen jedoch nach wie vor die Kosten für eine Serienproduktion und die künftige Kommerzialisierung der Roboter dar. Allein die Handsensoren eines von dem Wissenschaftler Shigeki Sugano entwickelten Pflegeroboters, der Senioren aus dem Bett helfen und ihnen Speisen und Getränke servieren kann, kosten umgerechnet fast 150.000 Euro.
Die erheblichen Kosten lassen die Frage aufkommen, ob es auf finanzieller, aber auch menschlicher Ebene vielleicht nicht doch plausibler wäre, junge Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuheuern. Die Altenpflege ist dabei der Sektor mit dem dringlichsten Personalbedarf. Das Problem wird von der Regierung durchaus erkannt, doch haben es ausländische, meist südostasiatische Pfleger unverhältnismäßig schwer, die von der Regierung festgelegten Lizenzierungsvoraussetzungen zu erfüllen. 2009, dem ersten Jahr, in dem ausländische Bewerber die Lizenzierungsprüfung ablegen durften, bestand kein einziger Pfleger die Zulassungsprüfung. Ein Jahr später konnten sich nur drei der 254 Bewerber bei der jährlichen Prüfung bewähren. Die größte Hürde stellte hierbei die unbegründet schwierige Sprachprüfung dar. Nachdem diese 2011 vereinfacht wurde, erhielten 47 von 415 Anwärtern ihre Pflegelizenz. Zum Vergleich: Unlängst erwarben in den Vereinigten Staaten über 5.700 ausländische Pfleger ihre Akkreditierung. Das Beispiel der Zulassungsvoraussetzungen der ausländischen Pfleger ist ein Sinnbild japanischer Politik: Einerseits werden Probleme wie der Arbeitskräftemangel richtig erkannt, andererseits aber nur halbherzig Maßnahmen zu deren Bewältigung ergriffen.
Grundlegender Paradigmenwechsel ein Muss
Japan braucht einen wirtschaftlichen Aufschwung. Es braucht ihn, um jungen Paaren positive ökonomische Aussichten für die Zukunft und ihr Privatleben zu verschaffen, damit diese wieder Kinder bekommen. Doch dies wird ein Projekt für die nächsten Jahrzehnte sein. Was Nippon vor allem braucht, sind Arbeitskräfte. Diese neuen Erwerbstätigen müssen helfen, die Steuerkassen aufzufüllen, um der grauen Bevölkerung die nötigen Sozialleistungen und Renten zu ermöglichen. Das Land wird in Zukunft nicht darum herumkommen, seine Pforten für Einwanderer zu öffnen. Kulturell und historisch war Japan immer äußerst skeptisch und ablehnend gegenüber einer Öffnung für Immigranten. Selbst heute, auf dem Höchststand der Globalisierung, leben und arbeiten in Japan nur etwa zwei Millionen Ausländer. Vergleichsweise leben in der Schweiz, einem Land mit äußerst restriktiven Einbürgerungsgesetzen und nur etwa sechs Prozent der Bevölkerung Japans, ähnlich viele Ausländer. Japans Regierung und Gesellschaft müssen ihre Vorbehalte gegenüber Einwanderung überdenken. Die Ängste vor dissonanten westlichen Einflüssen und der Destabilisierung der „homogenen“ japanischen Gesellschaft sind überholt und längst nicht mehr kompatibel mit dem modernen Zeitgeist und globalen Arbeitsmarktentwicklungen. Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen hat errechnet, dass Nippon zwischen 2000 und 2050 rund 17 Millionen Einwanderer bräuchte, um den Entvölkerungstrend zu stoppen. Um diesen gar umzukehren und somit auch der zunehmenden Vergreisung der Bevölkerung entgegenzuwirken, müsste Japan sich noch weit mehr öffnen.
Der sagenumwobene Kranich, Bringer von Gesundheit und Langlebigkeit, hat sich längst zu einem Vorboten der Krise entwickelt. Nicht länger Glücksbringer, sondern Inbegriff der demografischen Katastrophe – die Schwingen des Kranichs schlagen unaufhörlich. Für die japanische Regierung scheint es bereits zu spät, dem demografischen Wandel Einhalt zu gebieten. Sie muss sich jetzt in Krisenmanagement üben und versuchen, Schadensbegrenzung zu betreiben. Ein komplettes Umdenken der Gesellschaft – nicht nur bezüglich der Einwanderungspolitik und der Geschlechtergleichstellung – sowie ein Gesunden der Wirtschaft sind die einzigen Wege, die Japan vor der kompletten Vergrauung und Entvölkerung retten können.
-----
Akim Enomotoist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tokio, Japan.
Hannes Bublitzist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tokio, Japan.
Für eine vollständige Version diese Beitrags inkl. Quellenverweise wählen Sie bitte das PDF-Format.