Ausgabe: 2/2023
Einflusssphäre versus östliche Partnerschaft
Der Krieg in der Ukraine wird häufig auch als Ausdruck eines Systemkonflikts zwischen Russland und dem Westen, insbesondere der Europäischen Union, beschrieben. Er kann als Zuspitzung einer Systemkonkurrenz im postsowjetischen Raum verstanden werden. Diese Konkurrenz wird selten normativ und differenziert betrachtet, was aber geboten scheint, da sie sich in den insgesamt 15 Nachfolgestaaten der Sowjetunion sehr unterschiedlich manifestiert. Allein in den drei Ländern des Südkaukasus – Armenien, Georgien und Aserbaidschan – sind die Perspektiven auf Russland beziehungsweise die Europäische Union verschieden – wobei durchaus verstanden wird, dass die beiden Akteure für zwei unterschiedliche Systeme stehen, zu denen man sich positionieren kann, aber nicht muss.
Die EU wird im Südkaukasus sowohl als Wirtschaftsblock – Absatzmarkt, Investor, Förderer von Innovationen – als auch als Werteunion wahrgenommen, die für friedliches Zusammenleben, freie und faire Wahlen, die Einhaltung von Menschenrechten und für gute Regierungsführung steht. Russland wird demgegenüber vor allem als ressourcenreich gesehen, wobei Öl und Gas jederzeit auch politische Druckmittel sein können. Das hat beispielsweise Georgien bereits 2006 erfahren, lange bevor der Westen verstanden hat, dass Russland bereit ist, Energie auch als Waffe einzusetzen. In Russland gab es, zumindest seit Wladimir Putin im Jahr 2000 Präsident wurde, keine nennenswerten Versuche, ein wertegeleitetes Staatsmodell zu entwickeln. Es bildete sich sukzessive ein System heraus, das zunehmend ein Gegenmodell zur EU verkörperte: Die Außenpolitik ist aggressiv und militaristisch, Wahlen werden gefälscht, Menschenrechte verletzt und die Regierung fußt auf endemischer Korruption.
In den Ländern des Südkaukasus bestimmt der Systemgegensatz zwischen Russland und der EU den politischen und öffentlichen Diskurs. Er wird ergänzt durch sehr unterschiedliche Beziehungsmuster: Für Russland ist die Region – wie der gesamte postsowjetische Raum – seine exklusive Einflusszone, auch „nahes Ausland“. Das Engagement anderer Akteure wie der EU beobachtet Russland misstrauisch, wertet es als Einmischung in quasi innere Angelegenheiten. Demgegenüber betrachtet die EU die Region zunächst geografisch, sieht den Südkaukasus als einen Teil Europas, als östliche Nachbarschaft der EU. Dementsprechend sind die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern der Region zu gestalten. Diese haben grundsätzlich – und anders etwa als die postsowjetischen Staaten Zentralasiens – nach Artikel 49 des EU-Vertrags (Vertrag von Lissabon) das Recht, der EU beizutreten. Während Russland in Einflusssphären denkt und einen machtpolitischen Anspruch auf die Region erhebt, formuliert die EU – in der Regel konditionierte – Kooperationsangebote, und die betroffenen Staaten sind frei, selbst zu entscheiden, ob sie der EU tatsächlich beitreten beziehungsweise ob oder wie weit sie sich ihr annähern wollen.
Systembildung im Südkaukasus
Fragt man nach der Positionierung der Länder des Südkaukasus in Bezug auf die Systemkonkurrenz zwischen Russland und der EU, ist zunächst zu betrachten, welche Systeme sich in den Staaten selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion herausbildeten. Armenien, Aserbaidschan und Georgien erklärten Anfang der 1990er-Jahre ihre Unabhängigkeit. Danach brachen Kriege in der Region aus: zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach (1992 bis 1994) sowie ein Bürgerkrieg in Georgien zwischen der Zentralmacht in Tiflis und dem abtrünnigen Landesteil Abchasien (1992 bis 1993). Aus den Kriegen wurden eingefrorene Konflikte mit de facto unabhängigen Gebieten, die international nicht anerkannt waren. Es folgten vor allem in den 1990er-Jahren sehr schwierige und schmerzhafte Transformationsprozesse, die in den drei Staaten sehr unterschiedlich verliefen.
Armenien
In Armenien waren die 1990er- und frühen 2000er-Jahre von einem Demokratisierungsprozess geprägt, der nicht geradlinig verlief. Die 1995 angenommene Verfassung gab zunächst – wie überwiegend im postsowjetischen Raum – ein Präsidialsystem mit einem vergleichsweise schwachen Parlament und weitreichenden Befugnissen des Präsidenten vor. Während die Präsidialmacht von unterschiedlichen Personen ausgeübt wurde, was für einen gewissen politischen Wettbewerb spricht, waren Medien- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt, Wahlen von Unregelmäßigkeiten begleitet und von Protesten gefolgt, die zum Teil gewaltsam unterdrückt wurden. Nachdem eine erste Verfassungsreform 2005 die Einführung eines semi-parlamentarischen Systems festschrieb, vollendete eine zweite umstrittene Verfassungsreform im Dezember 2015 die Machtverschiebung vom Präsidenten zum Parlament. Sie war von der Regierungspartei vornehmlich deshalb betrieben worden, um dem damaligen Präsidenten Serzh Sargsyan, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren durfte, die politische Macht als Ministerpräsident zu erhalten. Daraufhin kam es 2018 zu friedlichen Massenprotesten und zur sogenannten Samtenen Revolution, die von Nikol Paschinjan angeführt wurde. In demokratischen Wahlen zum Ministerpräsidenten gewählt, setzte sich Paschinjan zum Ziel, rechtsstaatliche Reformen voranzutreiben, Korruption zu bekämpfen und die Beziehungen zur Europäischen Union zu vertiefen. Nach dem verlorenen Krieg gegen Aserbaidschan im Jahr 2020 stand er unter massivem innenpolitischen Druck und setzte vorgezogene Parlamentswahlen an, um eine neue Legitimation zu erhalten. Als fair und frei eingestufte Wahlen gaben Paschinjan das Mandat, seine begonnenen Reformen fortzusetzen.
Aserbaidschan
Der erste demokratisch gewählte Präsident von Aserbaidschan, Abulfas Elchibei, wurde, nachdem das Land den ersten Krieg gegen Armenien um Bergkarabach verloren hatte, durch einen Militärputsch im Jahr 1993 gestürzt. Seitdem wird Aserbaidschan autoritär geführt. Zweiter Präsident war der aus der sowjetischen Elite stammende Heydar Alijew. Nach seinem Tod im Jahr 2003 folgte sein Sohn Ilham Alijew als Amtsinhaber, der die Kontrolle seiner Familie über das ressourcenreiche Land zementierte. Die Beschränkung von zwei Amtszeiten des Präsidenten wurde 2009 per Referendum abgeschafft. Seit 2017 ist Alijews Frau, Mehriban Alijewa, Vizepräsidentin. Mehrere Demokratieindizes beschreiben das System in Aserbaidschan heute als autoritär und auf Korruption basierend. Freie Wahlen gibt es nicht, dafür zahlreiche politische Gefangene.
Georgien
Georgien erlitt nach dem Zerfall der Sowjetunion von allen Unionsrepubliken den schwersten Wirtschaftskollaps. Absatzmärkte brachen weg, große Kombinate wurden stillgelegt und das Land versank in einem Bürgerkrieg rivalisierender Parteien und mafioser Clans. Georgiens erster Präsident, Swiad Gamsachurdia, wurde Anfang 1992 ebenfalls durch einen Putsch gestürzt. Sein Nachfolger, der frühere georgische KP-Chef und sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse, festigte zwar die Staatlichkeit Georgiens und leitete demokratische Reformen ein, vermochte aber die endemische Korruption und grassierende Gewalt nicht einzudämmen. Im November 2003 wurde Schewardnadse durch die friedlich verlaufene Rosenrevolution aus dem Amt verdrängt, ihm folgte Micheil Saakaschwili, der bis 2012 das Land konsequent nach Westen ausrichtete. Gegen Ende seiner zweiten Amtszeit zunehmend autoritär agierend, war Saakaschwili gleichwohl der erste Präsident im Südkaukasus, der nach einer Wahlniederlage die Macht friedlich abgab. Durch die 2013 in Kraft getretene neue Verfassung vollzog Georgien – wie Armenien zwei Jahre später – den Übergang von einem präsidialen zu einem parlamentarischen System. Die seit 2012 regierende Partei des Georgischen Traums setzte zunächst den auf EU-Integration ausgerichteten Kurs fort. Insbesondere in den vergangenen Monaten ist jedoch zu beobachten, dass die Regierung, die von einem Oligarchen gesteuert wird, der sein Vermögen in Russland gemacht hat, eine schleichende Neupositionierung Georgiens einzuleiten versucht, die das Land enger an Russland bindet.
Das Interesse Europas und die entstehende Systemkonkurrenz mit Russland
Eine Systemkonkurrenz existierte in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren im Südkaukasus nicht, da die Europäische Union praktisch abwesend und vor allem mit ihrer Osterweiterung beschäftigt war. Konflikte der jungen Staaten mit Russland bestanden allerdings durchaus, da Russland versuchte, mit der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) ein neues, erneut von Moskau dominiertes Integrationsmodell zu schaffen, das an die Stelle der Sowjetunion treten sollte. Aserbaidschan beispielsweise trat im Oktober 1992 aus der GUS aus; nach dem Sturz des als russlandkritisch geltenden Elchibei trat es im September 1993 wieder bei. Auch der Bürgerkrieg zwischen der georgischen Zentralregierung und Abchasien sowie später in weiteren Landesteilen kann als Versuch Russlands gewertet werden, die faktische Kontrolle über das zwei Jahre zuvor unabhängig gewordene Georgien wiederzuerlangen.
Ab Mitte der 2000er-Jahre entwickelte sich in der Region schrittweise ein politisches Spannungsfeld zwischen Europa und Russland. Das war auch darauf zurückzuführen, dass nach der Osterweiterung der EU im Jahr 2004 von zehn neuen Mitgliedern acht ehemals kommunistisch, drei sogar Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren. Das Interesse an und die Aufmerksamkeit für die neuen östlichen Nachbarn der EU war unter diesen Mitgliedsländern verständlicherweise groß, und so war Polen auch die treibende Kraft hinter einem Programm, das 2009 auf einem EU-Gipfel in Prag ins Leben gerufen wurde und einen politischen Rahmen bilden sollte, um die Beziehung zu den östlichen Nachbarstaaten der EU – Belarus, Moldau und Ukraine sowie zu den Ländern des Südkaukasus – zu gestalten.
Mit der Östlichen Partnerschaft wollte die EU ursprünglich einen gemeinsamen Raum von geteilten Werten, von Demokratie, Wohlstand, Stabilität und verstärkter Zusammenarbeit schaffen. Gleichzeitig markierte das Programm den Beginn einer tiefgreifenden Systemkonkurrenz in der Region. Europa war auf einmal präsent, bekundete Interesse und formulierte Politikangebote. Russland hingegen hatte sein Denken in Einflusssphären nie aufgegeben und begann unter Putin, immer autokratischer zu werden. Für den Südkaukasus bedeutete dies, dass sich die Länder auf einmal herausgefordert sahen, sich zu verschiedenen Systemen zu positionieren. Ein Kernbestandteil der Östlichen Partnerschaft waren zu Beginn sehr weitreichende Assoziierungsabkommen, die die EU den Partnerländern anbot und mit denen sie unter anderem einen intensiveren politischen Dialog sowie eine vertiefte Zusammenarbeit etwa bei Rechtsstaats- und Sicherheitsfragen erreichen wollte. Anfänglich wurde tatsächlich überlegt, wie Russland in das Programm eingebunden werden könnte, was unterstreicht, dass die Östliche Partnerschaft auf Zusammenarbeit und nicht auf Konkurrenz zielte. Es gelang der EU jedoch nicht, dies der russischen Seite zu vermitteln, gleichzeitig wollte Russland es vermutlich auch nicht verstehen.
Es schien, als ob sich Russland spätestens durch die Östliche Partnerschaft herausgefordert sah, ein konkurrierendes Integrationsmodell zu schaffen. Und so stellte Putin 2011 die Idee einer Eurasischen Union vor, die zwar einen klaren ökonomischen Schwerpunkt besitzen sollte, aber auch einen freien Grenzverkehr wie im Schengenraum und sogar eine Partnerschaft mit der EU vorsah. In der Folge entwickelte sich daraus das Modell der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), die tatsächlich vor allem eine wirtschaftliche Integration ihrer Mitglieder vorantreiben wollte (Erleichterung des Austausches von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeit) und sich nicht als Wertegemeinschaft definierte. Offiziell wurde die Eurasische Wirtschaftsunion im Mai 2014 von Russland, Belarus und Kasachstan gegründet und damit fünf Jahre nach der Östlichen Partnerschaft und nur wenige Wochen nach Russlands Annexion der Krim. Armenien trat der EAWU im Januar 2015 bei.
Der Südkaukasus zwischen Europäischer und Eurasischer Union
Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, dass sich gerade die Länder des Südkaukasus heute wieder zwischen einem europäischen und einem eurasischen Integrationsmodell entscheiden können. Historisch hat sich die Region schon immer, geografisch wie kulturell, als Punkt der Konfluenz zwischen Europa und Asien gesehen. Nie aber war die geografische Ausrichtung so klar mit der Frage nach der Wahl eines Systems verbunden wie heute. Der Schriftsteller Lasha Bugadze formuliert es für Georgien: „Im Grunde hat uns die EU aufgefordert, klar zu benennen, wo wir stehen und wer wir sind, bevor wir unsere Beziehungen auf die nächste Stufe heben können. Diese Frage müssen wir nicht nur für die EU, sondern um unserer selbst willen beantworten.“
Auf die beiden Integrationsmodelle, in denen sich zugleich die Systemkonkurrenz zwischen Russland und Europa in der Region manifestiert, reagierten und reagieren die Länder des Südkaukasus unterschiedlich: Armenien ist das am stärksten verwundbare Land im Südkaukasus. Ohne nennenswerte Bodenschätze und mit zwei von vier Nachbarn (Türkei, Aserbaidschan) seit Jahrzehnten im Konflikt stehend, war es für Armenien eine existenzielle Frage, Russland als Schutzmacht zu wählen. Sicherheitspolitisch und wirtschaftlich abhängig von Russland, vermied Armenien es jedoch ansonsten, sich an dem in Russland sich herausbildenden autoritären Staatsmodell zu orientieren. Und so wurde ab 2009 das Assoziierungsabkommen mit der EU verhandelt, was als Chance gesehen wurde, beispielsweise den Rechtsstaat in Armenien zu stärken. Nach vier Jahren durchaus konstruktiver Verhandlungen ging man in Brüssel davon aus, dass Armenien das Abkommen auf dem Gipfel in Vilnius im November 2013 unterzeichnen werde. Die Regierung in Jerewan erklärte jedoch im Spätsommer zur Überraschung vieler, auch im eigenen Land, der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten zu wollen. Dieser auch als „U-Turn“ berühmt gewordenen Entscheidung war ein Besuch des damaligen armenischen Präsidenten Serzh Sargsyan in Moskau vorausgegangen, bei dem ihm vermutlich Präsident Putin unmissverständlich mitteilte, dass Armenien keine andere Wahl habe, als Mitglied der EAWU zu werden. In der Folge haftete Armenien das Stigma des „Verbündeten Russlands“ an, da das Land nicht nur der EAWU, sondern auch dem ebenfalls von Russland dominierten Militärbündnis der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) angehörte. Innenpolitisch hingegen orientierte sich Armenien unbeirrt an der EU, mit der derselbe Sargsyan ab Dezember 2015 ein neues Abkommen über eine umfassende und verstärkte Zusammenarbeit aushandelte, das seit 2021 umgesetzt wird. Dass der seit 2018 amtierende Ministerpräsident Paschinjan betont, demokratische Reformen und die Stärkung des Rechtsstaats seien die Kernstrategie seiner Regierung, ist ein weiterer Ausdruck eines Spagats zwischen wertegeleiteter Politik und geopolitischer Orientierung.
Im Angesicht des verlorenen Krieges und der fortgesetzten Bedrohung durch Aserbaidschan erklärt Paschinjan, dass die Bevölkerung von seiner Regierung wissen wolle, welche Sicherheitsgarantien ein demokratisches System beinhalte. Armenien könne es sich, so verlautet es aus außenpolitischen Kreisen, nicht leisten, in einem sicherheitspolitischen Vakuum zu existieren. Deshalb und weil die EU keine Sicherheitsgarantien zu geben vermag, sei man weiterhin von Russland abhängig. Diese seit mehr als 30 Jahren bestehende Abhängigkeit scheint sich jetzt zu verändern: Weil Russland Armenien weder während des 44-Tage-Krieges im Jahr 2020 noch beim Angriff Aserbaidschans im Herbst 2022 militärisch oder diplomatisch beistand, ist das Vertrauen in die Schutzmacht geschwunden. Dafür ist die EU seit November 2022 zunächst für zwei Monate und seit Februar 2023 längerfristig mit einer zivilen Beobachtermission an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze vertreten, die Vertrauen bilden und die Sicherheit der Menschen in der Konfliktregion verbessern soll. Russland verurteilt die Mission als eindeutig geopolitisch motiviert.
Für Aserbaidschan stellte sich die Frage der beschriebenen Systemkonkurrenz im Südkaukasus auf eine andere Art. Mit dem Putsch von Heydar Alijew und der Installierung und Konsolidierung eines autoritären Regimes hatte sich das Land frühzeitig für ein System entschieden, das in den 30 Jahren der Unabhängigkeit auch deshalb nur geringfügig modifiziert werden musste, weil Aserbaidschan aufgrund seiner reichen Gas- und Ölvorkommen wirtschaftlich unabhängig war. Aus demselben Grund wurde es für Europa ein attraktiver Geschäftspartner. Gleichzeitig besaß die Regierung in Baku kein Interesse an einer Annäherung an die EU als Werteunion und Angebote wie die Aushandlung eines Assoziierungsabkommens wurden nicht aufgegriffen. Die Beziehungen zwischen Aserbaidschan und der EU sind asymmetrisch. Während Baku vorwiegend von wirtschaftlichen Interessen geleitet ist, versucht Brüssel, auch über Themen wie gute Regierungsführung zu sprechen.
Das heißt jedoch im Umkehrschluss nicht, dass Aserbaidschan ausgesprochen gute Beziehungen zu Russland unterhält, auch wenn es offensichtliche Ähnlichkeiten der beiden Regierungssysteme gibt. Russland wird als Verbündeter des Erzfeindes Armenien wahrgenommen, die blutige Niederschlagung der aserbaidschanischen Demokratiebewegung Anfang der 1990er-Jahre durch russische Truppen steckt tief im Bewusstsein der Menschen. Auch die Anwesenheit von russischen „Friedenstruppen“ auf aserbaidschanischem Territorium, die den 2020 vereinbarten Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan sichern sollen, wird als Problem gesehen. Im Konflikt zwischen Russland und Europa beziehungsweise zwischen den beiden Integrationsmodellen ist Aserbaidschan deshalb bestrebt, eine Äquidistanz zu wahren. Die engsten Beziehungen unterhält das Land zur Türkei, die in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Akteur im Südkaukasus aufgestiegen ist, ohne dabei in einer ausgesprochenen Systemkonkurrenz zu Russland oder zur EU zu stehen.
Am entschiedensten hat sich Georgien im Südkaukasus positioniert. Das zentrale Ziel der Präsidentschaft von Micheil Saakaschwilli (2004 bis 2012) war die nachhaltige Abkoppelung des Landes vom russischen Einflussbereich und die konsequente euroatlantische Ausrichtung Georgiens. 2008 beantragte das Land gemeinsam mit der Ukraine den Beitritt zur NATO, ab 2009 wurde mit der EU über ein Assoziierungsabkommen verhandelt, das 2014 zusammen mit der Moldau und der Ukraine unterzeichnet wurde und bei dessen Umsetzung Georgien lange Zeit die größten Fortschritte machte. Seit 2016 ist die euroatlantische Integration in der georgischen Verfassung verankert. Wie die Ukraine und Moldau beantragte Georgien im März 2022 den Beitritt zur EU.
Wie zugespitzt die Systemkonkurrenz zwischen Russland und der EU in Georgien wahrgenommen wird, zeigen die Ereignisse im März 2023: Die Regierung hatte in den Monaten zuvor zahlreiche Entscheidungen getroffen, die – trotz anderslautender Bekundungen – ernsthafte Zweifel aufkommen ließen, ob sie an der EU-Integration des Landes festhalten wolle. Dann versuchte sie, ein „Agentengesetz“ durch das Parlament zu peitschen, das offensichtlich von einer russischen Regelung inspiriert war, mit welcher ab 2012 sämtliche regierungskritischen Stimmen in Russland mundtot gemacht wurden. Nach massiven Protesten in der Hauptstadt, die von Slogans wie „No to Russian law“, „No more Russia“ und „We are Europe“ bestimmt waren, musste die Regierung das Gesetz zurückziehen. Während die europäischen Institutionen das Einbringen des Gesetzes kritisiert hatten, kritisierte die russische Regierung seine Rücknahme.
Fazit
Seitdem die EU mit dem Programm der Östlichen Partnerschaft und den darin eingebetteten Assoziierungs- oder Partnerschaftsabkommen ihr Interesse am Südkaukasus bekundet hat, besteht in der Region eine Systemkonkurrenz mit Russland, das den postsowjetischen Raum als seine exklusive Einflusszone betrachtet. Die Staaten der Region positionieren sich unterschiedlich zu den beiden Integrationsmodellen, die von der Eurasischen Wirtschaftsunion beziehungsweise der Europäischen Union formuliert werden, aber gerade unter jungen Menschen – das haben die Proteste gegen das „Agentengesetz“ in Georgien gezeigt, das belegen aber auch Umfragen in Armenien oder Aserbaidschan – besitzt das europäische Modell eine wesentlich größere Anziehungskraft. Während Russland vor allem als Bedrohung gesehen wird, verbinden die meisten Menschen mit Europa gute Ausbildung, wirtschaftliche Chancen und das Recht auf Selbstbestimmung. Die EU versucht, mit zahlreichen Kooperationsangeboten – von Erasmus+ bis hin zu umfangreichen Freihandelsabkommen – diesen Erwartungen gerecht zu werden. Es bleibt aber offen, ob Europa auch in sicherheitspolitischer Hinsicht, was vor allem von Georgien und Armenien erwünscht ist, ein ernstzunehmender Akteur werden kann. Die Entwicklung im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wird unter anderem zeigen, wie weitreichend Europas Einfluss im Südkaukasus tatsächlich sein kann.
Stephan Malerius ist Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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