Asset-Herausgeber

ASSOCIATED PRESS picture alliance

Auslandsinformationen

Viele neue Allianzen

Der Nahe Osten und Nordafrika im globalen „Systemwettbewerb“

Im Westen ist man sich einig, dass sich in der Ukraine entscheiden wird, ob es gelingt, dem Machtstreben autoritärer Staaten wie Russland und China entgegenzuwirken und die regelbasierte Ordnung zu verteidigen. Folgt man dieser Lesart, handelt es sich um einen globalen Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autokratie, bei dem der Westen auch von den Ländern des sogenannten Globalen Südens Unterstützung erwartet. Die Realität aber sieht anders aus: Der „Globale Süden“ geht eigene Wege. Dies gilt auch für die Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas. Sie verurteilen zwar fast ausnahmslos den russischen Angriff, vertreten aber eine andere Definition von „Zeitenwende“ – und entfremden sich zunehmend vom Westen.

Asset-Herausgeber

Realpolitik statt Systemkonflikt

Im gesamten Nahen Osten und in ganz Nordafrika wird Russland mit Blick auf den Krieg in der Ukraine als Aggressor betrachtet und der russische Angriff als völkerrechtswidrig eingestuft. Das Abstimmungsverhalten bei den Resolutionen zur Verurteilung der russischen Invasion in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist ein deutliches Zeichen für die klare Haltung der Länder der Region. Während bei der ersten Abstimmung am 2. März 2022 einige Länder noch aus eigenen sicherheitspolitischen Bedenken heraus zögerten und sich enthielten (so der Irak) oder nicht an der Abstimmung teilnahmen (so Marokko), stimmten sie ein Jahr später gegen Russland. Eine Ausnahme bleibt Syrien. Das Land befindet sich seit 2015 in den Fängen Russlands und hat keine andere Wahl, als den Vorgaben aus Moskau zu folgen. Algerien ist aktuell das einzige Land der Region, das sich bei den UN-Resolutionen noch enthält und damit seiner historisch-traditionellen Positionierung als „blockfreier Staat“ treu bleibt.

Das mehrheitlich gegen Russland gerichtete Abstimmungsverhalten bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass sich die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas mit der westlichen Lesart des Krieges in der Ukraine identifizieren. Die russische Sicht der Dinge mit dem Narrativ von der Bedrohung der eigenen Sicherheit durch die NATO-Erweiterung wird gerade in arabischen Gesellschaften durchaus angenommen. Darüber hinaus wird der Krieg in der Ukraine trotz der globalen Auswirkungen hinsichtlich Ernährungs- und Energiesicherheit als eine regionale europäische Angelegenheit empfunden, um die sich der Westen selbst kümmern müsse. So ist der Krieg aus Sicht dieser Länder Ausdruck einer wieder aufflammenden Machtrivalität in Europa. Die meisten Länder der Region haben andere Sorgen. Sie sind mit drängenden, größtenteils hausgemachten Problemen beschäftigt. Die größten aktuellen Herausforderungen in Tunesien, Ägypten oder im Libanon sind nicht vornehmlich durch den russischen Angriff auf die Ukraine verursacht worden, sondern auf weitreichende strukturelle Schwierigkeiten wie die verheerenden Folgen der Pandemie, staatliches Missmanagement und die Schuldenkrise zurückzuführen.

Noch weniger zeigen sich die Länder vom Narrativ des Systemkonflikts überzeugt. In dieser Region, die immer schon eine Bühne für geopolitische Machtspiele und Machtverschiebungen gewesen ist, werden die weltpolitischen Dynamiken durchaus registriert, aber mit realpolitischem Blick. Allein der relative Rückzug der USA aus der Region und die wachsende Präsenz Chinas sind unverkennbare Indikatoren für diese geopolitische Neuordnung. In den Diskursen tauchen jedoch Begriffe wie Systemwettbewerb oder -konflikt nicht auf. Vielmehr werden die aktuellen Entwicklungen als „Great Power Competition“ zwischen dem Westen und China beziehungsweise Russland im sicherheits- und geopolitischen Kontext erklärt. Nach dieser Auffassung konkurrieren unterschiedliche Mächte um regionalen oder globalen Einfluss, die spezifischen Ordnungsvorstellungen der rivalisierenden Mächte sind dabei unerheblich. Im Vordergrund stehen für die arabischen Länder daher die Konsequenzen der Schwächung der US-Macht für die Sicherheit und den Schutz kleiner Staaten und mittlerer Mächte, wie es die Staaten im Nahen, Mittleren Osten und Nordafrika allesamt sind. Es geht also um die Frage, wie man die zunehmende Konfrontation zwischen den Großmächten unter Wahrung der eigenen nationalen Interessen am besten überlebt und dabei nicht zwischen die Fronten gerät.

Was sich in der Region abzeichnet, ist die Entstehung von „Entwicklungsautokratien“.

Insofern ist das, was im Westen als Systemwettbewerb wahrgenommen wird, im Nahen Osten klassisches geopolitisches Ringen um Macht. Es geht nicht um Demokratie versus Autokratie. Die Länder der Region richten sich nach handfesten eigenen Interessen aus. Die normative Aufladung des Themas wird nicht geteilt. Die Erfahrungen hinsichtlich des moralischen Anspruchs des Westens in der Region befeuern diese Haltung. Der Umgang des Westens mit der völkerrechtswidrigen US-Invasion des Irak, mit der palästinensischen Frage beziehungsweise der Israel-Politik, aber auch mit Afghanistan sind Beispiele, die immer wieder angeführt werden. In der arabischen Welt hat sich die Wahrnehmung verbreitet, dass der Westen nur dann auf die Einhaltung des Völkerrechts und einer regelbasierten Ordnung pocht, wenn er selbst betroffen ist oder seine Interessen berührt werden. Diese Positionen können sicherlich nicht unwidersprochen bleiben, müssen aber zugleich ernst genommen werden.

Der fehlende Werteaspekt im Verständnis der neuen Weltordnung ist andererseits auch wenig überraschend, da es innenpolitisch in der gesamten Region nicht mehr um einen Systemwettbewerb im Sinne von Demokratie versus Autokratie geht. Die politischen Transformationsprozesse – auch im einstigen Hoffnungsland Tunesien – sind längst zum Erliegen gekommen. Das Konzept der Stabilität hat den Wunsch nach Veränderung geschlagen. Die wirtschaftliche Regression und die sozialen Verwerfungen in Ländern wie Tunesien, Ägypten oder Algerien haben ein autokratisches beziehungsweise anti-pluralistisches Moment unter den Bürgern und Eliten entstehen lassen, weil es Stabilität, Effizienz und Modernisierung verspricht. Was sich in der Region abzeichnet, ist die Entstehung von „Entwicklungsautokratien“. Die Länder entwickeln ihre eigenen Modelle und schauen dabei, wie es in anderen Teilen der Welt funktioniert. Es sind nicht unbedingt China oder Russland, die als Staatsmodelle gelten, sondern lokale Hegemonen, wie beispielsweise die arabischen Golfstaaten, welche sich als Mittelmächte positionieren und ein neues System des funktionierenden Wohlfahrtsstaates repräsentieren, das Wohlstand und Fortschritt verspricht. Ein gutes Beispiel hierfür ist auch Marokko. Das Königreich hat eine neue Entwicklungsstrategie auf den Weg gebracht, einen detaillierten Reformplan in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Digitalisierung und Energiewende. Die Außenbeziehungen werden unter anderem an diesen Zielen und Prioritäten ausgerichtet.

 

Interessen- statt Wertepartnerschaft

Die aktuellen geopolitischen und geoökonomischen Verhaltensmuster im Nahen Osten und in Nordafrika lassen auf ein grundlegendes Unbehagen ob der Vorstellung schließen, sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine für eine Seite entscheiden zu müssen. Selbst Länder am Golf oder im Maghreb, die mit dem Westen eng verbündet sind, haben Aufforderungen abgewehrt, sich dem westlichen Vorgehen gegen Russland anzuschließen. Kein Land der Region nimmt an den Wirtschaftssanktionen teil. Vielmehr sind alle bestrebt, ihre Beziehungen zu Russland und asiatischen Mächten wie China und Indien genauso aufrechtzuerhalten wie ihre Beziehungen zu Europa und den USA. Das bedeutet aber keinesfalls eine Annäherung an die russischen oder chinesischen Positionen. Vielmehr widerspricht die Vorstellung eines neuen Kalten Krieges oder einer neuen globalen Polarisierung den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen der meisten Länder der Region.

Die Golfmonarchien – allen voran Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – sind globale Energie-Supermächte. Katar ist einer der größten Erdgasproduzenten und -exporteure der Welt. Doha arbeitet derzeit an einem Ausbau der Produktionskapazitäten um rund 60 Prozent, was das Land spätestens 2027 zum weltweit größten Exporteur von Flüssigerdgas (LNG) machen wird. Zu den zehn größten Erdölproduzenten der Welt gehören Saudi-Arabien, die VAE und Kuwait. Die Einnahmen haben es diesen Staaten ermöglicht, massiv in Infrastruktur, Bildung und Gesundheit zu investieren, was zu einer raschen wirtschaftlichen Entwicklung und einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität in diesen Ländern geführt hat. Zu den wichtigsten Abnehmern der Region zählt allerdings nicht der Westen, sondern es sind China und Indien. Im Zuge der Energiewende wird der europäische Bedarf an fossilen Energien in etwa in dem Maße zurückgehen, wie die Nachfrage aus China und Indien steigen wird. Vor diesem Hintergrund sind enge Beziehungen nach Asien für die Golfstaaten überlebenswichtig.

Die Länder der Region wollen nicht alles auf eine Karte setzen.

Für Algerien sieht die Situation anders aus. Das Land ist vom europäischen Markt abhängig. Algeriens Gasreserven belaufen sich auf fast 2,3 Billionen Kubikmeter, das Land ist größter Gasexporteur Afrikas und siebtgrößter weltweit. 83 Prozent der algerischen Gasexporte gehen nach Europa, hauptsächlich nach Spanien und Italien, mit denen langjährige Verträge laufen. Inzwischen haben der italienische Energiekonzern ENI und das algerische Staatsunternehmen Sonatrach ein Abkommen zur Steigerung von Gasexporten abgeschlossen. Italien präsentiert sich somit gegenüber Algerien als neuer Absatzmarkt und für die EU als Zwischenlieferant in der Gasversorgung Mitteleuropas. Die neue Kooperation soll keine Notlösung bleiben, sondern vielmehr langfristig Italiens und Europas Erdgasversorgung diversifizieren.

Ressourcenarme Länder wie Tunesien, Libanon, Jordanien oder Ägypten sind hingegen mit existenziellen Krisen konfrontiert. Es handelt sich um teilweise hausgemachte strukturelle wirtschaftliche Herausforderungen wie hohe Arbeitslosigkeit, unzureichende Diversifizierung der Wirtschaft, hohe Staatsverschuldung und instabile Währungen. Diese Länder haben mit die höchsten Inflationsraten weltweit, kämpfen mit sozialen Spannungen und können ihre Schuldenprobleme ohne IWF-Programme nicht bewältigen. Insofern sind sie auf wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit den westlich dominierten internationalen Geberorganisationen angewiesen.

Vor diesem Hintergrund ist „non- oder multi-alignment“ das neue Mantra in der Region. Alle Länder streben eine Diversifizierung ihrer außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Beziehungen an. Sie wollen nicht alles auf eine Karte setzen, zumal sie sich im Klaren darüber sind, dass die Weltordnung im Wandel begriffen ist und sie sich an die neuen Gegebenheiten einer multipolaren Welt mit einer Vielzahl von Akteuren anpassen müssen. So gehen die arabischen Länder den Weg einer unabhängigeren, einer viel selbstbewussteren Außenpolitik, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Sie versuchen, Abhängigkeiten zu reduzieren und das Netzwerk von Partnerschaften neu auszurichten beziehungsweise zu erweitern. Ausnahmslos alle Länder haben Partnerschaftsabkommen mit China im Rahmen von dessen Belt and Road Initiative (BRI) unterzeichnet. Peking ist heute für die meisten Länder der Region der größte Handelspartner und Investor. Die Länder der Region investieren in Subsahara-Afrika und öffnen ihre Märkte für andere. Die enge wirtschafts- und entwicklungspolitische Partnerschaft zur EU bleibt allerdings ebenso wichtig.

Der Maghreb ist seit dem Krieg in der Ukraine aus dem Fokus Europas gerückt.

Marokko beispielsweise hat in den vergangenen Jahren sein geopolitisches Profil in Afrika geschärft, ist Allianzen mit Ländern in anderen Teilen der Welt eingegangen, um seine außenpolitische Agenda zu verfolgen, insbesondere mit Israel und einigen Golfstaaten, und kooperiert eng mit Europa, aber im Rahmen der BRI auch mit China. Tunesien ist ein weiteres interessantes Beispiel. Das Land ist nicht nur ein traditioneller Partner Europas, sondern stark abhängig von der europäischen Unterstützung. Mit zunehmendem Euroskeptizismus verfolgt das Land aber inzwischen eine nationalistischere Außenpolitik und versucht gleichzeitig, nicht zwischen den großen Nachbarn Marokko und Algerien zerrieben zu werden.

Algerien bildet in Nordafrika die einzige Ausnahme hinsichtlich Diversifizierung. Die algerische Außenpolitik ist stark von der Westsahara-Frage geprägt und die Beziehungen zum Westen haben sich deutlich verschlechtert, seit die USA beschlossen, die Souveränität Marokkos über die Westsahara anzuerkennen. Dieser Tiefpunkt, gepaart mit dem jüngsten Zerwürfnis mit Frankreich wegen der kolonialen Vergangenheit und dem gleichzeitigen Bruch mit Spanien wegen dessen neuer Herangehensweise an die Westsahara-Frage, hat Algier in eine noch nie dagewesene politische Isolation von der westlichen Welt geführt. Diese Isolation wiederum hat zur Folge, dass Algerien seine politischen Beziehungen zu den revisionistischen Mächten verstärkt und die zum Westen abgebaut hat.

Im Gegensatz zum Mittleren Osten herrscht im Maghreb ein geopolitisches Machtvakuum. Für die USA war der Maghreb nie von vorrangigem Interesse. Die Region ist seit dem Krieg in der Ukraine auch fast vollständig aus dem Fokus Europas gerückt, das aktuell weder eine Vision noch eine Strategie für seine direkte Nachbarschaft im Süden zu haben scheint. Frankreich als traditionelle Macht im Maghreb kämpft um seinen Einfluss und seine Privilegien. China ist die einzige Macht mit einer großen Strategie, die den Maghreb einschließt, aber auch für China steht die Region nicht im Zentrum seiner Belt and Road Initiative. Russland profitiert zwar von der Isolation Algeriens, hat den Ländern aber wenig anzubieten. Das Machtvakuum wird vielmehr von mittleren Mächten wie der Türkei und den Golfstaaten, insbesondere Saudi-Arabien und den VAE, ausgefüllt. Sie umwerben die Länder der Region mit Kooperationsangeboten und nutzen ihre finanziellen Ressourcen, um sich politischen Einfluss zu sichern. Während sich Europa also aus Nordafrika zurückzieht, haben regionale Mächte die Region für ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen entdeckt.

 

Neue Allianzen statt alter Loyalitäten

Die geopolitische Machthierarchie im Nahen Osten und in Nordafrika befindet sich seit Längerem in einem Wandel, in dem der Westen bereits an Attraktivität, Einfluss und Handlungsspielraum verloren hat und möglicherweise weiter verlieren wird. Der Rückzug der USA aus der Region ist keine Neuerscheinung, hat sich aber mit dem Krieg in der Ukraine beschleunigt und die Marginalisierung des Westens und westlicher Institutionen weiter verschärft. Immer weniger trauen die Eliten im Nahen Osten dem Westen den Willen oder die Fähigkeit zu, den Verlauf von Konflikten wie in Syrien oder Libyen zu beeinflussen, dem wirtschaftlichen Niedergang in der Region entgegenzuwirken oder aber mächtigen Akteuren wie Russland oder dem Iran mit seinen nuklearen Ambitionen und destabilisierenden Aktivitäten in der Region Einhalt zu gebieten. Sie distanzieren sich von den traditionellen Machtstrukturen und suchen nach eigenständigen Lösungen für ihre eigenen Herausforderungen.

In den vergangenen Jahren hat sich in der Region eine aktive Nachbarschaftspolitik in Form von Dialog- und Kooperationsbemühungen zwischen rivalisierenden Staaten herausgebildet. Die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran; die Normalisierung der Beziehungen einiger arabischer Länder mit Israel; die Deeskalation zwischen Ägypten und der Türkei; Bemühungen, Syrien mit dem Assad-Regime wieder in die arabische Welt einzugliedern oder die diplomatische Offensive des Irak, eine Anbindung an seine arabischen Nachbarn zu finden, ohne einen Bruch mit dem Iran auszulösen, sind Beispiele für diese aktuelle Politik der Entspannung. Dabei handelt es sich um teilweise überlappende, aber auch divergierende Bemühungen. Sie dokumentieren auf eine unverkennbare Weise die außen- und sicherheitspolitische Neuorientierung außerhalb der bisherigen westlich dominierten Formate.

Noch deutlicher schlägt sich dieser Trend in dem saudisch-iranischen Abkommen nieder, das Anfang 2023 in Peking verhandelt wurde. Saudi-Arabien und der Iran haben sich unter chinesischer Vermittlung geeinigt, die 2016 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wiederzuaufnehmen. Mehr noch: Es wurden Einzelverabredungen getroffen, die sich mit den jeweiligen Sicherheitsinteressen und Bedrohungsperzeptionen befassen. Die saudisch-iranische Annäherung ist aus mehrfacher Hinsicht ein Gamechanger. Zum ersten Mal kommt im Nahen Osten ein Deal zwischen regionalen Rivalen ohne die Beteiligung des Westens zustande. Die USA und Europa sind mit ihrer bisherigen Iran-Politik gescheitert. Weder konnte das Atomprogramm neu verhandelt, noch konnten die iranischen Proxy-Aktivitäten unterbunden werden, weil der Westen über keinerlei Hebelwirkung auf den Iran verfügte und den besorgten Golf-Staaten keine Sicherheitsgarantien anbieten konnte. Die Entspannung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran wird die Machtverhältnisse im Nahen Osten möglicherweise grundlegend verschieben, weil damit auch eine Deeskalation im schiitisch-sunnitischen Gegensatz verbunden ist, der die Region im vergangenen Jahrzehnt geprägt hat.

Das Abkommen setzt ebenfalls dem Narrativ ein Ende, dass China nichts mit den komplizierten Konflikten im Nahen Osten zu tun haben wolle. China hegt strategische Ambitionen in der Region und ist offensichtlich bereit, eine aktivere Gestaltungsrolle zu übernehmen. Auch hinsichtlich der nuklearen Bestrebungen des Irans scheint China der einzige Akteur zu sein, der durch das Angebot von Anreizen auf das Mullah-Regime einwirken kann. China will definitiv keinen atomwaffenfähigen Iran, der möglicherweise einen israelischen Militärschlag provozieren und die für China wichtigen stabilen Verhältnisse am Golf gefährden könnte.

Wirtschaftlich ist China bereits heute ein wichtiger Partner der Golfländer. Mit einem bilateralen Handelsvolumen von 161,4 Milliarden US-Dollar hat das Land 2020 die Europäische Union als größten Handelspartner abgelöst und in den vergangenen 15 Jahren fast 25 Milliarden US-Dollar in die Region investiert. Weitere milliardenschwere Investitionen wurden im Rahmen des ersten Gipfeltreffen Chinas mit den Monarchien des Golfkooperationsrates im Dezember 2022 vereinbart. Es geht aber nicht nur um Wirtschaft. Zumindest rhetorisch teilen China und die Golfmonarchien die Vision einer multipolaren Weltordnung, in der die Bewahrung und Ausweitung von Globalisierung und Konnektivität Priorität haben. Es ist eine klare Positionierung, wenn Riad und Peking die Möglichkeiten eruieren, den Energiehandel in anderen Währungen als dem US-Dollar zu betreiben. Die VAE und China haben bereits Pilotprojekte gestartet, um den Energiehandel direkt in digitalen Währungen abzuwickeln. Diese Entwicklungen dürften endgültig mit der Interpretation aufräumen, dass es bei den Beziehungen zwischen China und den Golfstaaten ausschließlich um wirtschaftliche Kooperation gehe.

Es ist offensichtlich, dass die Golfstaaten zu einem neuen, nicht vom Westen geprägten weltpolitischen Rahmen beitragen wollen.

Während sich China als neuer strategischer Partner am Golf etabliert, blieben westliche Annäherungsoffensiven gegenüber den Golfmonarchien im Zuge der Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erfolglos. Mit demonstrativen Besuchen versuchten US-Präsident Joe Biden, aber auch der französische Präsident Emmanuel Macron, der damalige britische Premierminister Boris Johnson und Bundeskanzler Olaf Scholz einen Neustart mit Saudi-Arabien, vor allem um die Ölmonarchien auf die eigene Seite zu ziehen. Doch die OPEC Plus brüskierte den Westen mit dem Beschluss, die Ölfördermengen ganz im eigenen wirtschaftlichen Interesse zu drosseln und die Ölpreise zu erhöhen. In den Medien wurde diese Entscheidung als Unabhängigkeitserklärung Saudi-Arabiens kommentiert. Tatsächlich zeigt die Entscheidung, dass die Zeiten, in denen nationale Interessen der USA in den Golfmonarchien handlungsbestimmend waren, vorbei sind.

Es ist offensichtlich, dass die Golfstaaten – orientiert an ihren eigenen Interessen – zu einem neuen, nicht vom Westen geprägten weltpolitischen Rahmen beitragen wollen. Die jüngste Entscheidung Saudi-Arabiens, als „Dialogpartner“ der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) beizutreten, der neben Russland, China, Indien und Pakistan auch die zentralasiatischen Staaten und der Iran angehören, bestätigt diese Bereitschaft. Saudi-Arabien beteiligt sich erstmals an einem östlichen multilateralen Format mit Ländern, die ein Gegenmodell zur westlichen Ordnung propagieren.

Europa muss Schlüsselpartner identifizieren, mit denen es seine Interessen durchsetzen kann.

 

Europa: Pragmatismus statt Rhetorik

Die geopolitischen Veränderungen und Positionsverluste des Westens machen heute eine Neuausrichtung der bisherigen Nahost- und Nordafrikapolitik dringend notwendig. Europa tut sich jedoch schwer, sich den neuen Realitäten in der Region anzupassen und hält an einem Status quo in den Beziehungen fest, den es so schon seit einiger Zeit nicht mehr gibt. Die dynamischen Entwicklungen in der unmittelbaren Nachbarschaft scheinen an Europa entweder vorbeigegangen zu sein oder werden nicht ernst genommen, obwohl jede Veränderung im Nahen Osten und in Nordafrika immer auch Auswirkungen auf Europa hat und die Europäer über die besten Zugänge zu dieser Region verfügen.

Zudem ist die Region in den vergangenen Jahren und verstärkt durch den Krieg in der Ukraine aus dem Fokus Europas gerückt. Auch die deutsche Bundesregierung zeigt wenig Interesse an der südlichen Nachbarschaft. Der Umgang ist relativ uninspiriert und beschränkt sich auf die Fortführung der Zusammenarbeit in der Migrationsfrage und den Ausbau der Kooperation in den Bereichen Klimawandel und Energiewende. Dabei sind weder Strategie noch Ziele im Hinblick auf die sich verändernden geopolitischen Rahmenbedingungen erkennbar, obwohl die Abhängigkeiten von dieser Region zunehmen. Besonders deutlich wird dies in der Migrationsfrage, ein ähnlicher Trend zeigt sich in der Frage der Energiesicherheit.

Wenn Europa langfristige und nachhaltige Wege finden will, um in der eigenen Nachbarschaft relevant zu bleiben und die Zukunft mitzugestalten, dann braucht es nicht nur finanzielle Anreize, umfangreiche Programme und vielfältige Initiativen, sondern auch eine Definition der eigenen Interessen. Europa braucht vor allem eine klare Agenda, eine Priorisierung seiner Ziele und die Bereitschaft, diese mit Nachdruck zu verfolgen. Dazu gehört in erster Linie die Erkenntnis, dass ein „One-size-fits-all“-Ansatz, also der Versuch, allen südlichen Nachbarländern unabhängig von ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten das gleiche Kooperationsangebot zu machen, kein strategischer Ansatz ist. Vielmehr muss es darum gehen, Schlüsselpartner zu identifizieren, mit denen Europa seine Interessen gemeinsam und gegebenenfalls auch gegen andere Akteure durchsetzen kann.

Der normative Politikansatz im Umgang mit den südlichen Nachbarn ist zwar wichtig, doch sollte auf eine moralische Überhöhung des westlichen Werteverständnisses und eine als respektlos empfundene Kritik an gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Werten und Moralvorstellungen verzichtet werden. Dies gilt auch für das Narrativ einer globalen Polarisierung im Sinne von Demokratien versus Autokratien. In einer hochgradig geopolitisierten Region, in der es nicht um Werte-, sondern um Interessenpartnerschaften geht, erweckt die Rede von einer vermeintlichen globalen Systemkonkurrenz den Eindruck, als ginge es vor allem darum, den Einfluss Russlands und Chinas einzudämmen, und nicht um ein echtes Interesse an Partnerschaft.

Vor diesem Hintergrund sollte sich Europa ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, wie es in seiner Nachbarschaft wieder attraktiver werden und seine Partnerschaften ausbauen kann. Ein vielversprechender Ansatz könnte der Austausch über gemeinsame Interessen sein, die auch jenseits geteilter Werte gemeinsam verfolgt werden können. Ein solches gemeinsames Interesse ist die Verteidigung der internationalen regelbasierten Ordnung, auf deren Stärke und Schutz gerade die kleinen und weniger mächtigen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas angewiesen sind.

Ebenso ist es wichtig, die Entwicklungszusammenarbeit strategischer auszurichten und dabei die Bedürfnisse der Region zu berücksichtigen, ohne die eigenen wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen aus den Augen zu verlieren. Für die Gesellschaften der arabischen Welt sind Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Transparenz und ein menschenwürdiger Umgang der Behörden mit den Bürgern Werte, die nach wie vor als europäische Stärken geschätzt werden. Insofern bleibt der europäische Lebens- und Wirtschaftsstil attraktiv. Gerade der Maghreb ist eine Region, die hinsichtlich der Werte, der politischen Systeme und der außenpolitischen Orientierung nach wie vor ein großes Partnerschaftspotenzial für Europa bietet. Hier hat Europa die besten Chancen, sich als außenpolitischer Partner zu behaupten und mehr außen- und sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen.

Natürlich gibt es auch Kritik an der aktuellen Interpretation des europäischen beziehungsweise westlichen Modells, das Freiheit, Demokratie und Wohlstand kombiniert, was nicht bedeutet, dass die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas automatisch zu Wertepartnern Russlands oder Chinas würden. Aber sie ist ein deutliches Signal dafür, dass das neue Selbstbewusstsein der Staaten der Region in Europa ernst genommen und in die eigenen Strategien eingepreist werden sollte. Etwas mehr Sensibilität, etwas mehr Offenheit im Dialog und ein ehrliches Interesse an den Einschätzungen und Interessen der Länder der Region würden Europa neue Zugänge eröffnen. Die Positionen dieser Länder ernst zu nehmen, heißt nicht, sie zu übernehmen, sondern die Basis zu stärken, um die eigene europäische Sicht der Dinge mit mehr Glaubwürdigkeit zu vertreten.

Der Krieg in der Ukraine und die wachsende Rivalität zwischen China und den USA haben zu einer geopolitischen Unübersichtlichkeit im Nahen Osten und Nordafrika geführt. Für einige mächtigere Mittelmächte wie die rohstoffreichen Golfstaaten bietet diese Phase der globalen Neuordnung neue Chancen. Sie können mit ihren Nachbarn kooperieren, an der Neugestaltung der Regeln des internationalen Systems mitwirken, wirtschaftlich zu den dynamischen Volkswirtschaften Asiens aufschließen und so ihre eigene Transformation vorantreiben. Aber viele kleine Staaten sind verwundbarer denn je. Ihre Fähigkeit, wirtschaftliche und soziale Krisen zu bewältigen oder Konflikte einzudämmen, ist begrenzt. In der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen dem Westen und Russland können sie sich keinem Lager anschließen. Sie distanzieren sich von der bisherigen Weltordnung und suchen nach eigenständigen Lösungen. Dabei sind sie auch auf Europa angewiesen.

 


 

Dr. Canan Atilgan ist Leiterin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.

Asset-Herausgeber

Kontakt

Dr. Sören Soika

Dr

Chefredakteur Auslandsinformationen (Ai)

soeren.soika@kas.de +49 30 26996 3388
Kontakt

Fabian Wagener

Fabian Wagener

Multimediareferent

fabian.wagener@kas.de +49 30-26996-3943

comment-portlet

Asset-Herausgeber