Ausgabe: 3/2017
Nach den großen Flüchtlingsströmen aus Syrien, Irak und Afghanistan wird befürchtet, dass auch aus Nordafrika und Subsahara-Afrika ähnliche Wanderungen nach Europa bevorstehen. Zur Bekämpfung der Fluchtursachen werden neue Initiativen zur wirtschaftlichen Entwicklung Subsahara-Afrikas gefordert. Trotz großer Entwicklungshilfeleistungen der internationalen Organisationen und der Industrieländer fehlen vielen Ländern die politische und wirtschaftliche Stabilität und damit Zukunftsperspektiven für die rasch wachsende Zahl junger Menschen. Allein in Libyen soll über eine Million Migranten aus Subsahara-Afrika auf Chancen zur Flucht über das Mittelmeer warten. Die Eindämmung der Migrantenströme erlangt daher zunehmend an Gewicht für die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Nur nachhaltige Reformen, die nicht bloß zu hohem Wirtschaftswachstum, sondern zu möglichst viel Beschäftigung führen, können die Anreize zur Migration nach Europa mindern.
Als Musterbeispiel effizienter Entwicklungspolitik wird von internationalen und nationalen Entwicklungsfachleuten und Politikern in Subsahara-Afrika vor allem Ruanda genannt. Einschränkungen werden allenfalls bezüglich seines autoritären Regierungssystems vorgebracht. Dies wird aber nicht als Hindernis für die weitere Entwicklung angesehen, da die Regierung realistische Ziele effizient verfolge. Ruanda gilt als vorbildliche Entwicklungsdiktatur.
Indikatoren für diese Wertschätzung sind im Wesentlichen das Wachstum des Bruttonationaleinkommens (BNE), das Pro-Kopf-Einkommen (PKE), die Veränderung der Armutsquote und zusammenfassend der Rang des Landes (163 von 186) im Human Development Index (HDI). Alle diese Indikatoren sind positiv, wie auch der für Migration, da trotz eines hohen Bevölkerungsdrucks es bisher – soweit bekannt – keine nennenswerte Auswanderung gibt.
Wiederaufbau des ruandischen Staates
Der 1994 unter der Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame aus dem Bürgerkrieg siegreich hervorgegangenen Ruandischen Patriotischen Front (RPF) ging es zunächst um die Konsolidierung ihrer Macht und den Aufbau eines neuen politischen Systems. Finanziell wurde dies ermöglicht durch eine wegen des Völkermords zu Ende des Bürgerkriegs besonders hohe wirtschaftliche Aufbauhilfe der internationalen Organisationen, der EU, Großbritanniens, der skandinavischen und deutschsprachigen Geberländer und der USA. Nach dem mit maßgeblicher Beteiligung der ruandischen Armee erfolgten Sturz des Diktators Mobutu und der Machtübernahme durch L. D. Kabila 1997 in der RDC (République Démocratique du Congo) hoffte die Führungselite Ruandas auf eine entsprechende Beteiligung ihres Landes am kongolesischen Wirtschaftspotenzial. Sie überwarf sich jedoch schon 1998 mit Kabila. In dem daraus entstehenden regionalen Konflikt blieben beträchtliche wirtschaftliche Ressourcen im Ost-Kongo unter ruandischem Einfluss. Selbst nach dem Friedensschluss in der RDC konnte sich Ruanda erhebliche Einnahmen aus dem Abbau von Kassiterit, Wolframit, Coltan, Gold etc., zuletzt auch über von ihm gesteuerte Rebellenbewegungen, sichern. Diese Interventionen stießen bei den Geberländern zunehmend auf Kritik. 2013 wurden sie durch ein erweitertes Mandat für die Mission der Vereinten Nationen im Kongo (MINUSCO) und durch Sanktionen der großen Geber gegenüber Ruanda eingestellt.
Vision 2020
Erst als die ruandische Regierung mit ihrer Kongopolitik zunehmend auf Schwierigkeiten stieß, gewann für sie die im Zusammenhang mit den Millennium Development Goals (MDG) der UN erarbeitete Entwicklungsstrategie unter der Bezeichnung Rwanda Vision 2020 an Bedeutung. Das Programm hat eine dreifache Funktion: Es soll die tiefe Spaltung der ruandischen Gesellschaft durch neue gemeinsame Ziele und Verheißungen überwinden, die Geberländer zu großzügiger Unterstützung motivieren und für die beabsichtigten weitreichenden sozio-ökonomischen Reformen die Richtung weisen. Als Hauptziel wurde die Schaffung einer auf Wissen gründenden Gesellschaft und eines internationalen Dienstleistungszentrums proklamiert, um das Land als middle-income-country von ausländischer Entwicklungshilfe unabhängig zu machen. Tragender Pfeiler dafür soll ein starker und effizienter Staat sein mit einer produktiven und marktorientierten Landwirtschaft, einer wettbewerbsfähigen Privatwirtschaft mit einem Schwerpunkt auf Dienstleistungen, einem leistungsfähigen Erziehungs- und Gesundheitswesen und einer modernen Infrastruktur.
Das Programm wurde von internationalen Fachleuten anfangs für kaum realisierbar gehalten. Inzwischen sind diese davon beeindruckt, dass die Transformation in vielen Bereichen erfolgreich war: Die Armutsquote in der Bevölkerung ging zurück, der Besuch der Grundschule nähert sich 100 Prozent, die Zahl der Hochschulstudenten stieg auf 87.000. Eine staatliche Krankenversicherung erfasste 2013 90 Prozent der Bevölkerung, das Bevölkerungswachstum sank auf 2,6 Prozent pro Jahr. Diese Fortschritte wurden allerdings zum größten Teil durch die internationale Aufbau- und Entwicklungshilfe ermöglicht, jedoch war deren Umsetzung durch die ruandische Verwaltung im Gegensatz zu anderen Ländern Subsahara-Afrikas relativ effizient. Sie konzentrierte sich auf die von den internationalen Entwicklungsorganisationen geforderten Bedingungen, insbesondere auf die rigorose Bekämpfung der Korruption und Massenarmut, die Verbesserung der sozialen Bedingungen und die Effizienz der Verwaltung.
Agrar- und Landreform
Die neue politische Elite zeigte zunächst wenig Interesse an der Landwirtschaft, obwohl über 80 Prozent der Bevölkerung davon lebten. Nach dem Scheitern des kongolesischen Abenteuers wurde jedoch deutlich, dass die Entwicklungsziele nur mit einer Modernisierung der Landwirtschaft erreicht werden konnten. Eine höhere Produktivität war zur Ernährung der rasch wachsenden Bevölkerung und für die Deviseneinnahmen durch die Ausfuhr von cash-crops unerlässlich.
Das Hauptproblem der ruandischen Landwirtschaft ist die durch die hohe Bevölkerungsdichte bedingte Knappheit landwirtschaftlicher Flächen und ihre ungleiche Verteilung. Die 1,6 Millionen Hektar geeigneter Flächen werden durch kleine landwirtschaftliche Betriebe fast vollständig genutzt. 24 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe bebauen etwa 70 Prozent des Landes, ihre Durchschnittsgröße beträgt etwa zwei Hektar. Weitere 30 Prozent besitzen 24 Prozent des Landes mit einer Durchschnittsgröße von 0,76 Hektar. Die größte Gruppe, 36 Prozent, bewirtschaftet nur sechs Prozent der landwirtschaftlichen Fläche mit einer Durchschnittsgröße von 0,11 Hektar. 11,5 Prozent der ländlichen Haushalte besitzen kein Land mehr.
Als Voraussetzung für die Reform wurde mit deutscher Hilfe ab 2008 eine Registrierung des gesamten Landbesitzes begonnen. Das traditionelle Landrecht wurde ersetzt. Der Staat wurde Eigentümer des landwirtschaftlich nutzbaren Territoriums und vergab die Hanglagen entsprechend der bisherigen Nutzungsrechte in einer Art kostenloser Erbpacht auf 99 Jahre an kleinbäuerliche Betriebe. Die Titel sind handelbar, um einen Grundstücksmarkt anzuregen und Kreditvergabe zu ermöglichen. Eine Aufteilung in Betriebe unter einem Hektar ist allerdings untersagt. Die Tal- und Schwemmböden verblieben im Eigentum des Staates, der sie kommerziell verpachtet.
Die systematische Registrierung der gesamten Landnutzung war 2013 beendet. Die Regelung des Bodenrechts schuf die Voraussetzung für ein Crop Intensification Programme (CIP), mit dem die Subsistenz-Landwirtschaft in eine kommerzielle Landwirtschaft umgewandelt werden soll. Ziel ist eine substanzielle Steigerung der Produktivität. Bei den eingeleiteten Maßnahmen handelt es sich technisch um klassische Lösungsvorschläge. Die kleinbäuerlichen Betriebe werden mehr oder weniger freiwillig nach und nach in Produktionsgemeinschaften oder Genossenschaften eingebunden, in denen gemeinsam Aussaat, Bearbeitung, Düngung und Ernte der von der Agrarverwaltung bestimmten Pflanzen (außer den Exportprodukten Tee, Kaffee und Pyrethrum die Grundnahrungsmittel Mais, Weizen, Reis, Bohnen, Kartoffel, Maniok und Bananen) vorgenommen werden. Die Zusammenschlüsse erhalten verbessertes Saatgut, Pflanzenschutzmittel und Kunstdünger. Soweit angebracht, werden Terrassierungen vorgenommen und Erosionsschutzanlagen angelegt. Die Einzelhütten müssen zugunsten dörflicher Siedlungen aufgegeben werden.
Die Berichte über die bisherigen Ergebnisse der Reformbemühungen verzeichnen Fortschritte, bleiben aber in wichtigen Details vage. Bis zum Jahr 2012 verdoppelte sich die landwirtschaftliche Produktion durch die Verwendung chemischen Düngers und verbesserten Saatguts. Inzwischen wurden die Bedingungen für Produktionssteigerungen weiter verbessert. 80 Prozent der von Erosion bedrohten Felder seien geschützt, 40 Prozent der dafür geeigneten Hanglagen terrassiert und zum Teil mit Bewässerungsanlagen versehen. Die Bodenqualität der Terrassen wurde mit Kalk und organischem Dünger verbessert. Durch das „Ein-Kuh-Programm“ verfügen 47 Prozent der Bauernhaushalte über wenigstens eine Kuh und 53 Prozent über wenigstens eine Ziege. Ferner soll auch die Anbaufläche um fünf Prozent gesteigert werden, und zwar durch die Verwandlung der Sumpfgebiete in Bewässerungssysteme mit doppelten Ernten von Gemüse und Reis sowie durch die Terrassierung auch besonders steiler Hänge. Gemessen an den erzeugten Mengen war die Reform äußerst erfolgreich. Gegenwärtig dürften etwa 40 bis 50 Prozent der Bodenfläche Ruandas unter dem CIP bewirtschaftet werden, bis 2020 sollen es 70 Prozent sein. Gleichzeitig soll der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten von gegenwärtig ca. 70 Prozent auf 50 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung reduziert werden.
Inzwischen zeigt sich allerdings, dass das Programm mit technischen und ökonomischen Risiken behaftet ist. Wie die Weltbank in ihrem letzten Bericht feststellt, bestehen die strukturellen Engpässe fort. Die Tendenz zu Monokulturen und die Vergrößerung des Viehbestandes haben die Gefahr von Schädlingsbefall bzw. Krankheiten vergrößert. Kritische Stimmen weisen aber vor allem darauf hin, dass den Kleinbauern de facto jede Verfügungsgewalt darüber genommen wird, was und wann sie säen oder pflanzen, wie sie Felder bearbeiten, welche Inputs sie verwenden müssen, was sie für diese bezahlen müssen und an wen und zu welchem Preis ihre Produkte verkauft werden. All diese Entscheidungen werden de jure von der Leitung der Produktionsgemeinschaft oder Genossenschaft getroffen, diese erhält jedoch dafür Anweisungen von den technischen Diensten und der kommunalen Verwaltung, deren Mitarbeiter sich durch imihigo, d.h. persönliche Verträge zur Erreichung der Planziele gegenüber dem Präsidenten, verpflichtet haben. Die Bauern selbst können bei Verstößen gegen die Auflagen und Vorschriften durch die örtliche Verwaltung und Polizei mit Geld- und Gefängnisstrafen, letztlich auch durch Entzug ihrer Besitztitel, bestraft werden.
Das Programm ist im Ansatz – je nach Betrachtungsweise – ein staatliches land grabbing oder eine planwirtschaftlich gesteuerte Kommerzialisierung der Landwirtschaft, wobei die Bauern nur noch formal Landrechte besitzen. In den letzten Jahren hat sich in Feldstudien gezeigt, dass dieses von oben gesteuerte Zwangssystem auf Schwierigkeiten stößt. Viele Kleinbauern haben die moderne Technik nur ansatzweise übernommen. Effizienz und Wirkung der Beratungsdienste waren oft ungenügend. Die zentrale Programmvorgabe und die dezentralisierte Implementierung des Programms können auch bewirken, dass über den erzwungenen Kauf der Inputs einerseits und über den Verkauf der Ernten andererseits den Vernetzungen vor Ort zwischen Händlern, Parteibeamten und allgemeiner Verwaltung eine monopolistische Ausbeutung der Bauern ermöglicht wird. Während früher in Ruanda wie in anderen afrikanischen Staaten die Kleinbauern durch klientelistische Netzwerke ihre Beschwerden zu Gehör bringen konnten und damit auch einen gewissen Schutz ihrer Interessen hatten, steht dies jetzt, wenn überhaupt, im Belieben der jeweiligen örtlichen Vertreter des Staates und der RPF.
Warum konnte die ruandische Regierung das Programm ohne ernsthaften Widerstand der Bauern durchsetzen? Ein Teil der Antwort liegt in der ruandischen Tradition. Die Ackerbauern waren schon in der vorkolonialen Monarchie und dann im belgischen Kolonialreich „Untertanen“ und blieben dies großenteils auch im postkolonialen Staat. Die daher zum Teil vorgegebene Ergebenheit in die Machtlosigkeit wurde durch die Ereignisse der 1990er Jahre verstärkt: durch die Massenflucht ins benachbarte Ausland, die Rückkehr mit dem Stigma der Mittäterschaft am Genozid und die Sühnejustiz der neuen Regierung. Deshalb ließen die Bauern sich widerstandslos in das CIP-System eingliedern, während die Kleinstbauern, Tagelöhner und Landlosen auf staatliche Beschäftigungsprogramme, Minikreditprogramme, Krankenversicherung usw. angewiesen sind.
Arbeitsmarktpolitik
Die Kommerzialisierung der Landwirtschaft hat entsprechende Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Das Ziel, die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen auf 50 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zu senken, bedeutet nach Schätzungen der Regierung, dass jährlich 200.000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Da diese Zahl aber für die aus den starken Jahrgängen der jetzt unter 16-Jährigen stammenden Arbeitssuchenden schon nicht ausreichen dürfte und dazu noch mindestens 350.000 Arbeitssuchende, die jetzt noch in der Landwirtschaft tätig sind, sowie 430.000 städtische Arbeitslose hinzukommen, ist es unwahrscheinlich, dass die geplante Umschichtung des Arbeitsmarkts gelingt.
Obwohl der moderne private Sektor der Wirtschaft von den Infrastrukturprojekten der Regierung profitiert, ist er immer noch zu klein, um eine derart große Nachfrage zu entwickeln. Auch der Förderung informeller Beschäftigung mit Minikrediten sind Grenzen gesetzt. Das gilt auch für die Nachfrage nach einfachen Dienstleistungen durch die Ober- und Mittelschicht. Der Aufbau moderner Informations-, Kommunikations- und Finanzdienstleistungen steht am Anfang und der Tourismus, obwohl hochwertig, hat ein beschränktes Potenzial. Auch der Bergbau kann kaum mehr Arbeitskräfte absorbieren. Lediglich in der Bauwirtschaft gibt es eine Nachfrage nach Arbeitern. Ihr Boom ist jedoch überwiegend staatsfinanziert und somit zeitlich begrenzt. Dann bleibt für den ruandischen Arbeitsmarkt nur die Option arbeitsintensiver Industrie- und Handwerksbet riebe. Dafür gibt es bisher kaum Beispiele.
Das Ziel der Vision 2020 wird deshalb nach bisherigem Stand bezüglich des Arbeitsmarktes wohl nur ansatzweise erreicht werden. Das bedeutet, dass es voraussichtlich weit über zwei Millionen nicht oder nur wenig beschäftigter junger Menschen geben wird. Die Regierung wird versuchen, die meisten in den ländlichen Gebieten und Kleinstädten zu halten, aber der Druck, in die Metropole Kigali zu ziehen oder auch illegal auszuwandern, wird zunehmen.
Finanzprobleme
Die Finanzierung der staatlichen Verwaltung und Infrastruktur war eine weitere Herausforderung. Für den Neuaufbau des Staates nach dem Genozid 1994 erhielt Ruanda bedeutende Aufbau- und Entwicklungshilfen, von den der OECD angehörigen Staaten allein über 8,5 Milliarden US-Dollar. Ruanda gehört weltweit zu den Ländern, die relativ, d.h. pro Kopf der Bevölkerung, die meiste Hilfe erhalten. Durch geschicktes Verhandeln brachte die Regierung die Geber dazu, davon einen wesentlichen Teil als Budgethilfe zu geben. Die Regierung konnte damit das große Defizit im Staatshaushalt, das durch die ambitionierten Infrastrukturvorhaben entstand, begrenzen. Doch bleibt die große Abhängigkeit von ausländischer Hilfe nach wie vor bestehen, auch bezüglich der Zahlungs- und Handelsbilanz. Hauptexportgüter sind immer noch Tee, Kaffee und Bergbauprodukte, die zusammen ca. 45 Prozent der Exporte ausmachen. Die Importe, einschließlich Nahrungsmittel, betrugen 2015 jedoch etwa das Dreifache der Ausfuhren. Dies wirkt sich entsprechend auf die Zahlungsbilanz aus. Die Transfers aus dem Ausland – im Wesentlichen Mittel der Entwicklungszusammenarbeit und zu einem kleineren Teil direkte Auslandsinvestitionen – decken weniger als die Hälfte des Zahlungsbilanzdefizits ab. Aus diesem Grund wächst die Auslandsverschuldung. Da Ruanda jedoch 2006 einen völligen Schuldenerlass erhielt, ist bis jetzt die Höhe der Staatsschuld nicht bedrohlich, beunruhigend ist nur ihr rasches Wachstum.
Entwicklungsmodell Ruanda?
Die ruandische Regierung wird in den nächsten Jahren vor immer größeren Problemen stehen. Die Weltbank befürchtet einen Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums. Dieses hängt nach wie vor von staatlichen Interventionen ab. Die Fertigstellung der verzögerten Großprojekte der Stromversorgung und des Ausbaus des Kongresszentrums Kigali sowie die weitere Ausdehnung der neuen Landwirtschaftsstruktur halten das Wirtschaftswachstum zurzeit noch in Gang. Wenn diese Phase zu Ende ist, wird sich zeigen, inwieweit sich die hohe Abhängigkeit von der ausländischen Entwicklungshilfe verringert hat, die Sozialprojekte aus eigener Kraft finanziert werden können und die Kategorie des middle-income-country erreicht worden ist.
Daran gibt es erhebliche Zweifel. Der Erfolg des Internationalen Kongresszentrums und des hochwertigen Tourismus – beides potenziell wichtige Devisenbringer – hängt wesentlich von der regionalen Stabilität ab. Diese wird jedoch in drei der vier Nachbarländer in den nächsten Jahren harten Proben unterworfen. In Burundi herrscht eine offene Verfassungskrise, eine massive Unterdrückung der Opposition, der Zivilgesellschaft und der freien Medien. Die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen kann jederzeit wieder aufflammen. In der DRC verhindert der amtierende Präsident seit Ende 2016 die verfassungsgemäß vorgeschriebenen Wahlen und es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Bevölkerung sich diesem glissement widersetzen wird. Auch in Uganda könnte das Ende der über 30-jährigen Herrschaft des Präsidenten Museveni zu politischen Turbulenzen führen.
Aber selbst wenn von außen keine Störungen kommen, ist ein selbsttragender Entwicklungsprozess unwahrscheinlich. Auf die Schwierigkeiten des CIP und der Landkonsolidierung wurde hingewiesen. Zu unterstreichen ist die wachsende Problematik der Nahrungsmittelversorgung bei weiterem, wenn auch etwas gebremstem Bevölkerungswachstum. Andere wichtige Einkommensquellen, wie die Ausfuhr von Mineralien, Kaffee und Tee, haben beschränkte Produktionsgrundlagen und leiden unter schwankenden Preisen. So wird die Dynamik der ruandischen Wirtschaft auch nach 2020 ganz wesentlich von einem weiterhin durch hohe internationale Zuschüsse oder Kredite finanzierten Staatshaushalt abhängen. Ob die ruandische Regierung die hauptsächlichen bilateralen Geber USA und Großbritannien sowie die Mitgliedstaaten der EU davon überzeugen kann, weiterhin Zuschüsse und Kredite in der erforderlichen Höhe zu geben, wird politisch entschieden. Zwar gehört Ruanda einerseits nicht zu den neuen Schwerpunktländern der Migrationsproblematik, andererseits aber dürfte bei den wichtigsten Gebern das Interesse überwiegen, ein jahrzehntelanges Vorzeigeobjekt nicht von heute auf morgen aufzugeben, selbst dann, wenn es sich offenkundig nicht als Modell eignet.
Gesellschaftsmodell Ruanda?
Die eigentliche Problematik der ruandischen Entwicklung liegt in den gesellschaftlichen Folgen der Transformation von der traditionellen landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft zur Kombination einer vom Staat gelenkten modernen Landwirtschaft mit einer urbanen Dienstleistungsgesellschaft. Ein Motiv war die Einsicht der ruandischen Regierung, dass die Beibehaltung der bisherigen Strukturen die Grundbedürfnisse eines wachsenden Teils der Bevölkerung nicht mehr befriedigen kann. Dazu kam allerdings als richtungsweisender Gesichtspunkt, dass die derzeitige Regierung ihre Legitimität weder auf die Tradition noch auf eine demokratische Legitimierung gründen kann und deshalb auf die Verheißung einer neuen wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft setzt. Die Rolle einer Wissensgesellschaft und eines internationalen Dienstleistungszentrums entspricht den Interessen einer zum Teil auch kosmopolitischen Führungsschicht, für die in der Metropole Kigali die entsprechende wirtschaftliche, technische, kulturelle und wissenschaftliche Infrastruktur sowie Bildungsmöglichkeiten entstanden. Sie setzt auf wissenschaftliche und organisatorische Lösungen im Sinne des social engineering, wie die Landkonsolidierung und das CIP.
An der Spitze der neuen Gesellschaft steht die frühere Führung der RPF und ihres militärischen Arms RPA, die vom ruandischen Bürgerkrieg geprägt sind. Unterhalb dieser Führungsebene gibt es eine breitere Schicht von Staatsbediensteten, Freiberuflern und Wissenschaftlern, Medienschaffenden und Geschäftsleuten, vielfach mit einem modernen Lebensstil. Darunter gibt es die Schicht der unteren Funktionäre der Verwaltung und der RPF, der Lehrer, Gesundheitsassistenten, Polizisten, Soldaten und kleineren Geschäftsleute, der Verkäufer und Büroangestellten usw. Insgesamt dürfte diese Ober- und Mittelschicht etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Zur Unterschicht, ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung, gehören verschiedene Milieus mit zum Teil unterschiedlichen Interessen. So gibt es eine städtische Unterschicht aus Bauarbeitern, Industriearbeitern, Handwerkern, Saisonarbeitern und Hausangestellten. Die Kleinbauern mit einem Besitz von mindestens 0,75 Hektar sind die Zielgruppe der Landkonsolidierung. Unter ihnen stehen die Kleinstbauern, oft nur mit einem Besitz um 0,2 Hektar, und die landlosen Landarbeiter mit einer regelmäßigen Arbeit.
Schließlich gibt es ganz unten die große Zahl der Landlosen, die gelegentlich in der Landwirtschaft oder für cash-for-work arbeiten, die aber nach dem Konzept der Regierung außerhalb der Landwirtschaft beschäftigt werden sollen.
Sie haben keinen Platz in der Vision 2020, aber ihre Zahl wächst jährlich um Hundertausende, vor allem junge Menschen. Nur ein Teil von ihnen kann Arbeit finden. Die gelegentlich geäußerte Meinung, das Problem dieser land- und arbeitslosen Schicht ließe sich mit Kleinkrediten lösen, ist unter den Bedingungen Ruandas eine Illusion. Weder die Wissensgesellschaft noch die kommerzialisierte Landwirtschaft wird genügend Arbeitsplätze haben. Wie in anderen Wachstumsländern liegt die Lösung in der Industrialisierung, die möglichst arbeitsintensiv sein müsste. Doch wie ist dies unter den schwierigen geografischen und demografischen Bedingungen – u. a. dem Mangel an Energie und Rohstoffen, den hohen Transportkosten sowie der niedrigen industriellen Kompetenz – möglich? Die Regierung hofft auf ausländische Direktinvestitionen und hat sich sehr darum bemüht, eine gute Position auf dem Global-Competitiveness-Index zu erreichen – bisher ohne nennenswerte Folgen.Eine andere Möglichkeit wäre nur die Migration – aber wohin? Dennoch muss eine Lösung gefunden werden. Der wachsende Anteil des landlosen Proletariats birgt langfristig die Gefahr schwerer sozialer Verwerfungen – und eines definitiven Scheiterns des ruandischen Modells.
Lehren für die Entwicklungszusammenarbeit
Mit dem Lob Ruandas als Modell für Entwicklungszusammenarbeit, als „Darling“ oder als „Shootingstar“, hat sich die internationale Entwicklungszusammenarbeit keinen guten Dienst erwiesen. Die strukturbildenden Faktoren, Landmangel, Übervölkerung, Rohstoffarmut, Binnenlage, Staatstradition, Bürgerkrieg und Genozid, haben keine auch nur annähernden Entsprechungen in anderen Ländern Afrikas, mit Ausnahme des Bruderstaates Burundi. Es soll nicht verkannt werden, dass die Regierung Ruandas eine Entwicklungsstrategie konzipiert sowie große Reformen und Infrastrukturprojekte in Angriff genommen hat, eine relativ effiziente Verwaltung eingerichtet hat und die Kleinkorruption relativ wirksam bekämpft. Es muss der Führung zugutegehalten werden, dass sie die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes als eine einmalige Herausforderung thematisiert. Dies reicht jedoch nicht aus. Dagegen steht die bittere Einsicht, dass in dem autoritär regierten Staat sich hinter nach außen gerichteten Absichtserklärungen und Grundsätzen auch Regelungen und Praktiken verbergen, die nicht dem vorgegebenen Ziel dienen, sondern die Machtstruktur stabilisieren, Vorteile gewähren oder diskriminieren und letztlich zu einer explosiven Ungleichheit beitragen.
Welche Lehren sind daraus zu ziehen?
Erstens: Die Entscheidung zur Vergabe von Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit wird sich wegen der Sicherheitsinteressen, zu denen auch die Begrenzung von Fluchtursachen und die Verhinderung oder Eindämmung von Migrationsströmen gehören, nicht nur an Kriterien demokratischer und guter Regierungsführung orientieren können. Deshalb ist es umso wichtiger, für die Zusammenarbeit mit autoritären Staaten sorgfältig die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der jeweiligen Programme zu analysieren und die Zusammenarbeit so zu gestalten, dass sie die Machtkonzentration und Konfliktpotenziale nicht verstärkt.
Zweitens: Wegen der gesellschaftlichen und politischen Dimension und der wachsenden Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit sollten wenigstens unter den europäischen Gebern eine gemeinsame verbindliche Analyse erstellt und entsprechende Absprachen zur Vermeidung problembehafteter Maßnahmen getroffen werden.
Drittens: Die vordringlichste Herausforderung in den meisten Ländern Subsahara-Afrikas ist das Beschäftigungsproblem für Millionen junger Menschen – ein Problem, das bei den Millennium Development Goals, obwohl vor 20 Jahren schon sichtbar, nachrangig eingestuft wurde. Es war schon damals eine Illusion anzunehmen, dass die Mehrheit der jungen Menschen selbst mit einer verbesserten Landwirtschaft auf dem Lande gehalten werden kann.
Viertens: Die Ablösung der traditionellen Subsistenz-Landwirtschaft durch private oder staatliche moderne kommerzielle Landwirtschaftsbetriebeoder Pseudo-Kooperative, wie etwa in Ruanda, bringt keine Lösung. Sie bedeutet nicht nur land grabbing, sondern mindert die Eigenverantwortung und Eigenständigkeit der Bauern, verstärkt die Landflucht und internationale Migration und vergrößert die Anfälligkeit gegenüber klimatischen und sonstigen Risiken.
Fünftens: Eine arbeitsintensive Industrialisierung ist in Ländern mit Landmangel und einer überbesetzten Landwirtschaft auf mittlere Sicht die einzige Lösung gegen Unterbeschäftigung sowie Arbeits- und Chancenlosigkeit. Die in den letzten Jahren verfolgte Deregulierung der nationalen Ökonomien hat in Afrika zum Teil zur Deindustrialisierung beigetragen. Es empfiehlt sich daher eine Überprüfung der Wirkung der bestehenden Regelungen und des Instrumentariums. Es ist zu hoffen, dass die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Zusammenhang mit der G20 Africa Partnership initiierten investment compacts von politischer Instrumentalisierung und einer erstickenden nationalen und internationalen Bürokratie freigehalten werden können.
Eine Abkehr von den alten Geleisen der Entwicklungszusammenarbeit und grundlegend neue Initiativen sind noch nicht in Sicht. So wäre eine Konzentration der bilateralen und multilateralen europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf große Investitionsfonds, die eine arbeitsintensive afrikanische Verarbeitungsindustrie fördern und dafür auch entsprechende Risiken akzeptieren, zusammen mit entsprechenden breiten Ausbildungsmaßnahmen selbst bei hohem Verlustrisiko letztlich kostengünstiger als Nothilfen und Maßnahmen zur Bekämpfung von Schleppern, Beratungsstellen und Rückkehrhilfen für Migranten. Wichtig wäre, einer möglichst großen Zahl dynamischer junger Erwachsener reale wirtschaftliche Chancen zu eröffnen. Die Migration nach Europa darf für sie nicht der einzige Weg bleiben, der wirtschaftlichen Chancenlosigkeit zu entrinnen. Diese Herausforderung ist durch das jahrzehntelange Übersehen der essenziellen Probleme des Kontinents so groß geworden, dass nur große Lösungen Erfolg versprechen. Der dafür von Bundesminister Müller geforderte „Marshallplan“ für Afrika wird dann erfolgreich sein, wenn er sich von seinem Vorbild dadurch unterscheidet, dass er nicht primär auf staatlicher Planung, staatlichen Strukturen und Kooperationen aufbaut, sondern direkt dynamischen Kräften in allen Teilen der Gesellschaft bessere Chancen bietet.
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Dr. Peter Molt ist Honorarprofessor für Entwicklungspolitik an der Universität Trier.
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