Ausgabe: 3/2017
In letzter Zeit häufen sich die Schlagzeilen um Korruption in Lateinamerika. Waren schon die Namen Petrobras und Panama-Papers in aller Munde, so kam der Stein spätestens am 21. Dezember 2016 so richtig ins Rollen: An jenem Tag wurde bekannt, dass die brasilianische Baufirma Odebrecht zwischen 2005 und 2014 öffentliche Aufträge durch die Zahlung von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe an hohe Staatsbeamte auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent erkauft habe. Immer weiter zogen sich die Kreise der Vorwürfe und Ermittlungen gegen führende lateinamerikanische Politiker wegen Verwicklung in den Odebrecht-Skandal oder in ähnliche Korruptionsfälle. Zuletzt traf es Brasiliens populären früheren Staatschef Luiz Inacio „Lula“ Da Silva, der im Juli wegen Korruption und Geldwäsche zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wurde. Der zuständige Richter sah es als erwiesen an, dass Lula als Dank für die Bevorteilung des Baugiganten OAS ein Luxus-Apartment erhalten habe. Lula kann allerdings noch Berufung einlegen und bleibt vorerst auf freiem Fuß. Am 13. Juli wurden Perus Ex-Präsident Ollanta Humala und seine Frau Nadine Heredia in Untersuchungshaft genommen. Dem Paar wird vorgeworfen, die beiden Wahlkämpfe Humalas 2006 und 2011 mit illegalen Geldern, unter anderem von Odebrecht, aber auch aus der venezolanischen Staatskasse, bestritten zu haben. Seit Anfang des Jahres schon besteht der Verdacht, dass der zurückliegende Wahlkampf des kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos, der erst 2016 für die Friedensverhandlungen mit den FARC-Rebellen den Friedensnobelpreis erhalten hatte, mit Bestechungsgeldern in Millionenhöhe finanziert wurde.
Lateinamerika scheint im Sumpf der Korruption zu versinken. Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man bedenkt, dass auf dem Kontinent bis heute die Grenzen zum Kavaliersdelikt in der Wahrnehmung von Justiz und Gesellschaft häufig verschwimmen. So sagte beispielsweise der ehemalige kolumbianische Präsident Julio César Turbay während seiner Amtszeit, dass Korruption nur auf das richtige Maß reduziert werden müsse. Er suggeriert damit, dass Politik zwingend mit Korruption einhergehe.
Die weltweite Reaktion auf die genannten Skandale zeigt jedoch, dass die Bemühungen im Kampf gegen Korruption, wie sie internationale Organisationen wie etwa die Vereinten Nationen (VN), die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit ihrem Anti-Korruptionsprogramm für Lateinamerika oder Nichtregierungsorganisationen wie Transparency International seit Jahren betreiben, auch von der lateinamerikanischen Politik nicht länger ignoriert werden können. Angefacht durch medialen Druck und ein zunehmendes Unwohlsein in der Bevölkerung, sind in vielen lateinamerikanischen Ländern seit diesem Jahr intensive Bemühungen im Kampf gegen Korruption zu verzeichnen: Es werden Regierungsprogramme kreiert, Strafgesetze verschärft und Antikorruptionsbehörden ins Leben gerufen. Korruption ist längst zum Politikum geworden und wird z. B. in Kolumbien und Mexiko das mitentscheidende Thema im für 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlkampf sein. Es scheint, als sei Lateinamerika nun endlich aus dem Dornröschenschlaf erwacht.
Was genau bedeutet Korruption?
Korruption ist die Perversion von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Sie steht in direktem Widerspruch zu Werten wie Chancengleichheit und Gewaltenteilung. Doch was ist Korruption genau? Gemäß der Antikorruptionsorganisation Transparency International ist der Begriff Korruption so undurchsichtig wie die Strukturen, in denen Korruption gedeiht. Sie definiert Korruption daher allgemein als den „Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“. Demnach können Täter sowohl staatliche Akteure in Politik und Justiz als auch private in der Wirtschaft und anderen Teilen der Gesellschaft sein. Das entscheidende Kriterium ist hierbei der Machtmissbrauch.
Wesentlich konkreter wird Korruption in der kriminologischen Forschung definiert. Es handelt sich um den „Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirtschaft oder eines politischen Mandats zugunsten eines Anderen, auf dessen Veranlassung oder in Eigeninitiative, zur Erlangung eines Vorteils für sich oder einen Dritten, mit Eintritt oder in Erwartung des Eintritts eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit (Täter in amtlicher oder politischer Funktion) oder für ein Unternehmen (betreffend Täter als Funktionsträger in der Wirtschaft)“. Korruptionsdelikte können demnach sowohl aktiv als auch passiv begangen werden. So wird nach dem deutschen Strafgesetzbuch Vorteilsgewährung und -annahme (§§ 331 und 333 StGB) sowie Bestechung und Bestechlichkeit (§§ 332 und 334 StGB) gleichermaßen unter Strafe gestellt. Vorteilsnehmer sowie -geber können Beamte, Staatsangestellte oder anderweitig staatlich Beauftragte sein, die Staatsgewalt missbrauchen. Es kann sich aber auch um Politiker oder Funktionsträger in der Wirtschaft handeln.
Der Vorteil muss nicht unbedingt dem Täter selbst zu Gute kommen. Der Tatbestand ist ebenfalls erfüllt, wenn dieser einen Dritten bedenkt. Nach der hier verwendeten Definition ist darüber nicht nur das Verhalten desjenigen erfasst, der privaten Nutzen aus dem Machtmissbrauch zieht, sondern auch das Verhalten eines unabhängigen Dritten, der bewusst vom korrupten Handeln anderer profitiert. Nichts anderes gilt in Lateinamerika, wo generell ein sehr weiter Korruptionsbegriff verwendet wird. Fraglich ist weiter, ob Steuerhinterziehung unter den Begriff der Korruption im engeren Sinne fällt. Nach der Definition von Transparency International wäre dies nicht der Fall, weil kein Fall von Machtmissbrauch vorliegt. Dennoch weisen Steuer- und Korruptionsdelikte eine Reihe von Parallelen auf und gehen in vielen Fällen miteinander einher.
Charakteristisch für Korruptionsdelikte ist, dass diese „opferlose“ Delikte sind, die sich regelmäßig im Verhältnis zwischen zwei Tätern, den „Korrumpierten“ und den „Korrumpierenden“, abspielen. Diese beiden Parteien sind grundsätzlich nicht an der Aufklärung der begangenen Straftaten interessiert. Das eigentliche Opfer, häufig der Fiskus und damit letztlich der Steuerzahler, steht regelmäßig außerhalb dieser Beziehung und hat daher keine Kenntnis von dem Vorgehen der Täter. Das erschwert die Aufklärung von Korruptionsdelikten erheblich.
Schaden durch Korruption
Der weltweit durch Korruption angerichtete materielle Schaden ist enorm. Er wird als größtes Hindernis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung angesehen. Jedes Jahr werden ca. eine Billion US-Dollar an Bestechungsgeldern gezahlt, während den Staaten geschätzte 2,6 Billionen US-Dollar durch Korruption abhandenkommen. Dies entspricht mehr als 3,5 Prozent des globalen BIP. In einem ähnlichen Verhältnis stehen die Verluste für den lateinamerikanischen Kontinent: Laut Global Financial Integrity gehen ca. 143 Milliarden US-Dollar jährlich durch Korruption verloren. Dadurch fehlen den Regierungen immense Einnahmen, die sinnvoll für Bildung, Gesundheitswesen und Sozialleistungen einzusetzen wären. Gleichzeitig führt die durch Korruption geförderte Aushebelung von Marktmechanismen und die Ausschaltung eines fairen Leistungswettbewerbs zu überteuerten oder qualitativ minderwertigen Produkten und Dienstleistungen.
Vielleicht sogar noch schwerwiegender ist der immaterielle Schaden, der durch Korruption verursacht wird. Das Bekanntwerden einer großen Zahl von Korruptionsskandalen lässt den Bürger pauschalisierend vermuten, dass Politik und Wirtschaft durch korrupte Machenschaften verbandelt sind. Er verliert das Vertrauen in staatliche Institutionen und in die Politik. Der Staat wird schnell zum Feindbild und ohne den Rückhalt in der Bürgerschaft schnell instabil. Grundwerte des demokratischen und sozialen Rechtsstaats sowie Menschenrechte werden verletzt, Entwicklungen und Innovationen blockiert, Schattenwirtschaft gefördert und der Verfall politischer Moral begünstigt. Ebenso ruft Korruption Enttäuschung und mangelnde Leistungsbereitschaft derjenigen hervor, die keinen Vorteil für sich beanspruchen können. Sie begünstigt Ungleichheit in Bezug auf die Verteilung von Macht und Wohlstand und führt letztlich zur Stärkung von Populisten, die in der Wählergunst von dem Vertrauensverlust der etablierten Parteien profitieren.
Nationaler und regionaler Regelungsrahmen
Wegen der gravierenden, durch Korruption hervorgerufenen Schäden sah man auf internationaler Ebene schon vor mehr als einem Jahrzehnt Handlungsbedarf. So verabschiedeten die VN im Dezember 2005 die Konvention gegen Korruption (UN-Convention against Corruption, UNCAC). Das Abkommen ist der erste weltweit völkerrechtlich bindende Vertrag, der von 181 Staaten ratifiziert wurde (Stand: Dezember 2016), darunter alle lateinamerikanischen Staaten. Es verpflichtet die Vertragsparteien zur Bestrafung verschiedener Formen der Korruption gegenüber Amtsträgern und zur internationalen Zusammenarbeit. Es enthält Implementierungspflichten für die Vertragsstaaten unter anderem in den Bereichen Korruptionsverhütung (siehe Kapitel II UNCAC, das eine Auflistung der von den VN normierten vorbeugenden Maßnahmen enthält), Kriminalisierung und Strafverfolgung. Die Umsetzung der Vertragspflichten durch die einzelnen Mitgliedstaaten wird im Rahmen eines im Jahre 2009 geschaffenen Überprüfungsmechanismus (Peer Review Mechanism) evaluiert.
Auf regionaler Ebene verabschiedeten die Mitglieder der OAS sogar bereits im Jahre 1996 die Interamerikanische Konvention gegen Korruption (Convención Interamericana contra la Corrupción). Mit Ausnahme Kubas haben alle Mitgliedstaaten der OAS das Abkommen unterzeichnet. Seit 2002 existiert ein Überprüfungsmechanismus zu ihrer Durchführung (Mecanismo de Seguimiento de la Implementación de la Convención Interamericana contra la Corrupción, MESICIC). Dennoch fehlt es hinsichtlich beider Konventionen an einem Gericht, das die Mitgliedstaaten für die Verletzung der jeweiligen Konvention verurteilen könnte.
Ausmaß der Korruption in Lateinamerika
Nicht zuletzt wegen dieser oftmals fehlenden Justizialisierung internationaler und regionaler Abkommen zur Korruptionsbekämpfung konnte deren Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten bisher noch nicht vollständig zur Problemlösung beitragen. Das zeigt der aktuelle Korruptionsindex von Transparency International, der das Ausmaß von Korruption in Lateinamerika anschaulich darstellt. Durch diesen werden die Länder nach dem Grad bewertet, in dem dort Korruption bei Amtsträgern und Politikern durch die Zivilbevölkerung wahrgenommen wird. Der durchschnittliche Wert der lateinamerikanischen Länder lag 2016 bei 44 von 100 zu erreichenden Punkten, wobei ein Wert unter 50 Punkten besagt, dass die Regierung in Sachen Korruptionsbekämpfung schlichtweg versagt hat. Uruguay, Chile und Costa Rica befinden sich als Einzige im oberen Drittel des Rankings.
Die Tatsache, dass Venezuela zu den 15 korruptesten Ländern der Welt gehört und seit dem letzten Jahr weitere acht Plätze nach unten auf Rang 166 gerutscht ist, verwundert bei der derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Lage des Landes nicht. Die Inflation ist auf dem Höchststand, Menschen leiden Hunger und müssen hohe Bestechungsgelder zahlen, um überhaupt Grundnahrungsmittel sowie die nötigsten Arzneimittel zu erhalten. Zudem haben die Ermittlungen im Odebrecht-Skandal gezeigt, dass Schmiergeldzahlungen des Baugiganten auch nach Venezuela flossen. Informanten haben in diesem Zusammenhang eine Zahlung von drei Millionen US-Dollar zur illegalen Finanzierung des Wahlkampfs von Nicolas Maduro von 2012 bis 2013 erwähnt.
Während Venezuela den schlechtesten Platz Lateinamerikas einnimmt, ist Mexiko das Land, welches 2016 den stärksten Abstieg innerhalb des Kontinents aufwies, indem es von Platz 95 auf Platz 123 abrutschte. Als Sinnbild für den rapiden Fall Mexikos auf der Korruptionsskala und die Verstrickung von Politik und organisierter Kriminalität gilt das mutmaßliche Handeln des Gouverneurs des Teilstaates Veracruz, Javier Duarte, dessen Regierung laut dem mexikanischen Rechnungshof mindestens 1,7 Milliarden US-Dollar unterschlagen haben soll. Dies wurde von der nationalen Regierung jahrelang geduldet.
Auch Kolumbien sah sich in Sachen Korruptionsbekämpfung im letzten Jahr mit einigen Rückschlägen konfrontiert und sank im Ranking von Platz 83 auf Platz 90. Seit einigen Monaten ist das Thema Odebrecht, in dessen Skandal auch kolumbianische Spitzenpolitiker verwickelt zu sein scheinen, in den Medien omnipräsent und wird zum Damoklesschwert im Präsidentschaftswahlkampf 2018 werden. Dem ehemaligen Wahlkampfleiter des Präsidenten Santos wird vorgeworfen, Bestechungsgelder in Höhe von einer Million US-Dollar für die Wiederwahl Santos’ im Jahre 2014 erhalten zu haben.
Bereits der Petrobras-Skandal rückte Brasilien medial in ein negatives Licht; nun dient das Land mit dem Odebrecht-Skandal gar als Bühne des größten Korruptionsskandals in der Geschichte Lateinamerikas. Seit Mai 2017 steht zudem der amtierende brasilianische Staatspräsident Michel Temer im Kreuzfeuer der Ermittlungen. Er soll dafür verantwortlich sein, dass Schweigegelder an den ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha gezahlt wurden, weshalb das Oberste Bundesgericht Brasiliens gegen ihn ermittelt. Anfang August entschied jedoch das brasilianische Parlament, dass gegen Temer vorerst nicht weiter wegen Korruption ermittelt werden soll, obwohl die Beweise gegen ihn eindeutig zu sein schienen. Obwohl das Land auf dem Index ein paar Plätze verlor – von Platz 76 auf Platz 79 –, ist die Aufdeckung und rigide Verfolgung dieser Korruptionsfälle durch die staatlichen Ermittlungsbehörden jedoch als Teilerfolg zu werten.
Der lateinamerikanische „Aufsteiger des Jahres“ in Sachen Korruptionsbekämpfung ist Argentinien. Das Land konnte sich trotz der Verwicklung in den Odebrecht-Skandal und der Korruptionsvorwürfe rund um die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wegen eines strengen, neuen Antikorruptionsprogramms um zwölf Plätze von Rang 107 auf Rang 95 verbessern und findet sich nunmehr im mittleren Bereich des Index wieder.
Abb. 1: Lateinamerikanische Staaten im globalen Korruptionsranking 2016
Das Ranking zeigt zudem, dass drei Länder seit Jahren beständige Werte haben. Uruguay ist mit dem 21. Platz, den es seit Veröffentlichung des letzten Transparency International Index 2015 halten konnte, der Vorreiter in Südamerika in Sachen Korruptionsbekämpfung. Chile folgt auf Platz 24 und Costa Rica auf Platz 41. Die positiven Werte dieser drei Länder stehen dabei möglicherweise in Verbindung mit ihrem höheren BIP und ihrem höheren Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Staaten. Allerdings wird in Theorie und Praxis kontrovers diskutiert, ob der Reichtum eines Landes allein Rückschlüsse auf den Grad staatlicher Korruption zulässt. Bestes Beispiel hierbei ist Argentinien. Das Land weist mit einem Durchschnittseinkommen in Höhe von ca. 14.000 US-Dollar ein höheres auf als Costa Rica und Chile, liegt aber an 95. Stelle des Korruptionsindexes. Daraus lässt sich schließen, dass es eher auf die Verteilung des Reichtums ankommt, die gerade in Uruguay relativ gleichmäßig ist. In diesem Zusammenhang betont beispielsweise der Ökonom Hans Peter Grüner, dass der soziale Zusammenhang gefährdet sei und die Korruptionsanfälligkeit steigt, wenn sich die Einkommensverteilung zu stark auseinander entwickelt. Eine große Schere zwischen Arm und Reich charakterisiert bis heute viele Länder Lateinamerikas.
Ursachensuche für die hohen Korruptionsraten in Lateinamerika
Die Ursachen und Faktoren, die Korruption in Lateinamerika begünstigen, sind vielfältig. Eine Erklärung ist, dass diese durch die enormen finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten, die hohe staatliche und insbesondere politische Ämter in Lateinamerika bieten, gefördert wird. Denn während eine politische Laufbahn in Westeuropa und in den USA – gerade im Vergleich zur Tätigkeit in der Wirtschaft – finanziell oft nicht sehr lukrativ erscheint, bedeutet eine ranghohe politische Position in Lateinamerika nicht nur Zugang zu Macht, sondern auch zu Geld. Dies ist historisch bedingt, da seit der Kolonialisierung der Staat in Lateinamerika häufig als Ausgangspunkt für Reichtum wahrgenommen wird. Lateinamerikanische Länder generieren traditionell wenig Einnahmen aus der produzierenden Industrie. Vielmehr besteht ihre Haupteinnahmequelle in der Förderung von Bodenschätzen. So befindet sich beispielsweise die Hälfte der weltweit wichtigsten Exportländer von mineralischen Rohstoffen in Lateinamerika, und etwa ein Drittel des globalen Bergbaus findet in dieser Region statt. Da der Staat oftmals für die Verteilung von Grund und Boden zuständig war und ist, machte die Bevölkerung schnell die Erfahrung, dass vor allem gute Beziehungen zum Staat, nicht so sehr der Einsatz von körperlicher oder intellektueller Arbeit, Voraussetzung für Wohlstand sind.
Ebenso versuchen die politischen Eliten ihre einmal erworbenen Privilegien generationsübergreifend zu bewahren. Vetternwirtschaft und familiäre Seilschaften sind keine Seltenheit. Politische Posten werden teilweise innerhalb einer Familie weitergegeben. Die politischen Parteien erscheinen in diesem Zusammenhang eher als bloße Vehikel, die den persönlichen Interessen ihrer Anführer dienen. Diese Einstellungspolitik im öffentlichen Sektor führt dazu, dass Loyalität entscheidend ist, nicht Leistung bzw. objektive Faktoren wie Ausbildung und berufliche Erfahrung. Eine Neustrukturierung des Staatsapparates wird dadurch fast unmöglich.
Schließlich sorgt die schleppend funktionierende Bürokratie auf dem gesamten Kontinent dafür, dass die Bürger durch Korruption versuchen, behördliches Handeln zu beschleunigen. Im Doing-Business-Index der Weltbank, der bürokratische Hemmnisse durch nationale Behörden bei der Aufnahme von Geschäftstätigkeiten untersucht, befinden sich fast alle lateinamerikanischen Länder auf den unteren Rängen. Argentinien beispielsweise belegt Rang 116, Brasilien Rang 123 und Venezuela gar Rang 187. Mexiko ist mit Rang 47 als einziges lateinamerikanisches Land unter den Top 50 zu finden. Korruption ist demnach in der Gesellschaft weitgehend als legitime Lösung derartiger staatlicher Defizite anerkannt.
Die moralische Rechtfertigung von Korruption geht vereinzelt sogar so weit, dass politische Parteien Korruption als notwendig erachten, um beispielsweise die eigenen Wahlkampagnen aus Geldquellen von Privatpersonen finanzieren zu können. Diese Bereitschaft seitens der Wirtschaft wird später oft mit Regierungsaufträgen belohnt. Zwar ist die staatliche Parteienfinanzierung mittlerweile in vielen lateinamerikanischen Ländern entsprechend normiert. So sieht beispielsweise Artikel 109 der kolumbianischen Verfassung eine Begrenzung der staatlichen Parteienfinanzierung vor. Problematisch ist jedoch oftmals die unzureichende Transparenz, Regulierung und Deckelung der privaten Parteienfinanzierung. Einen möglichen Lösungsansatz fand dabei Chile, wo im April 2016 durch das Gesetz 20900 ein weitgehendes Verbot von Parteispenden durch juristische Personen umgesetzt wurde.
Korruption wird darüber hinaus durch den Mangel effektiver Strafverfolgung von Korruptionsdelikten und letztlich durch überbordende Straflosigkeitszahlen in vielen Ländern Lateinamerikas gefördert. Häufig fehlt es nämlich an finanziellen Mitteln und staatlicher Bereitschaft zur Bekämpfung von Korruption. In Mexiko werden laut globalem Straflosigkeitsindex nur sieben von 100 Straftaten angezeigt und mehr als 99 Prozent der in Mexiko begangenen Delikte nicht mit einer Strafe behangen. Solange die Justizbehörden keine objektiven, politisch unabhängigen und effektiven Ermittlungen gewährleisten, stellen Bestechung und Begünstigung ein lukratives Geschäftsmodell dar.
Deutliche Zunahme der Antikorruptionsmaßnahmen in Lateinamerika – der Beginn einer Trendwende?
Die jüngsten Korruptionsskandale, die das eklatante Ausmaß des Problems auf dem lateinamerikanischen Kontinent in aller Deutlichkeit zu Tage gefördert haben, gepaart mit gesteigertem Druck seitens der Zivilbevölkerung scheinen nun jedoch viele Regierungen sowie die Justiz auf dem Kontinent wachgerüttelt zu haben. In letzter Zeit ist in vielen Ländern ein regelrechter „Antikorruptionsaktivismus“ zu beobachten. Vorsichtig optimistisch stimmt dabei, dass die Antikorruptionsbemühungen gerade in jenen Staaten zunehmen, welche im Korruptionsindex von Transparency International im mittleren bzw. hinteren Bereich rangieren.
Schon seit einigen Jahren nimmt ein kleines zentralamerikanisches Land zum Thema Korruptionsbekämpfung eine Vorreiterrolle ein: Seit ihrer Gründung im Jahre 2006 besteht in Guatemala die CICIG (Comisión Internacional contra la Corrupción e Impunidad en Guatemala), eine Internationale Kommission gegen Straflosigkeit, die unter der Schirmherrschaft der VN tätig ist. Die CICIG untersucht als unabhängiges Gremium in Zusammenarbeit mit der nationalen Staatsanwaltschaft die im Land begangenen Korruptionsdelikte. Sie hilft dabei, das Justizsystem zu stärken und die Bekämpfung der Kriminalität voranzubringen, und trägt so dazu bei, der flagranten Straflosigkeit im Land Herr zu werden. Als Organ der internationalen Zusammenarbeit hat die CICIG keine staatlichen Strafverfolgungskompetenzen und kann Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nicht direkt beeinflussen. Jedoch begleitet und berät sie Richter und Staatsanwälte in der Ausübung ihrer Arbeit. Mit Hilfe der Kommission gelang im April 2015 die Aufdeckung eines hochrangigen Korruptionsnetzes im Bereich Zoll und Steuern, in das unter anderem der ehemalige Staatspräsident Otto Pérez Molina sowie die Vizepräsidentin verwickelt waren. Nach Bekanntgabe der Ermittlungen kam es unter anderem über soziale Netzwerke wie Facebook zu organisierten Großdemonstrationen der Mittelklasse. Aufgrund des öffentlichen Drucks trat der Präsident im September 2015 zurück und wird nun strafrechtlich verfolgt.
Auch in Honduras kam es im Januar 2016 zur Unterzeichnung eines Abkommens zur Einrichtung einer internationalen Mission zur Korruptionsbekämpfung, dort unter Schirmherrschaft der OAS. Die Mission ist zunächst für einen Zeitraum von vier Jahren vorgesehen. Seit April sind internationale Experten, ausgewählt von der OAS, vor Ort. Die Einrichtung ist Folge von Protesten gegen Korruption im Jahre 2015 und das Ergebnis eines auf Bitten der Regierung durch die OAS moderierten Dialogs mit der Zivilgesellschaft. Außenstehende internationale Juristen sollen Korruptionsfälle und Justizreformen begleiten, die Arbeit der Justiz beaufsichtigen und beraten.
Anlässlich massiven Drucks seitens der Zivilbevölkerung bemüht sich auch die Regierung Mexikos seit einiger Zeit, mit verschiedenen Reformen der Korruption Herr zu werden. Beispielsweise wurde im Frühjahr 2015 eine Verfassungsreform zur Einführung eines umfassenden Maßnahmenbündels gegen Korruption durchgeführt, das unter anderem zur Schaffung des sogenannten Nationalen Anti-Korruptionssystems (Sistema Nacional Anticorrupción, SNA) führte. Das SNA sieht die Gründung und den Ausbau verschiedener nationaler Organe vor, welche die Kooperation der staatlichen Einrichtungen auf nationaler und regionaler Ebene in Sachen Korruption verbessern und einen besseren Informationsaustausch der Behörden untereinander ermöglichen sollen. Eine weitere Neuerung ist die stärkere Einbeziehung der Bürger durch die Gründung eines Bürgerausschusses (Comité de Participación Ciudadana del SNA). Voraussetzung für die Wahl der Mitglieder der Kommission war, dass diese keinerlei politische Ämter ausüben und über kein Parteibuch verfügen. Zu diesen Neuerungen kam es vor allem durch die Bürgerinitiative #Ley 3de3. Allerdings wurde eine der wichtigsten Forderungen der Initiative, wonach alle Beamten ihr Vermögen und ihre Einnahmen offenlegen müssen, aus Datenschutzgründen nicht durch den Senat angenommen. Es bleibt abzuwarten, ob die unter Verwendung erheblicher öffentlicher Gelder geschaffenen neuen Institutionen tatsächlich in der Lage sind, das Phänomen Korruption im Ansatz zu bekämpfen, oder ob lediglich ein neues „Verwaltungsmonster“ geschaffen wurde.
Um die Bestrebungen Kolumbiens hinsichtlich eines OECD-Beitritts zu bestärken, ratifizierte die kolumbianische Regierung schon 2013 die Anti-Korruptions-Konvention der OECD und trat der Initiative Open Government Partnership bei. Dieser Beitritt ist mit konkreten Verpflichtungen der Regierung zur Förderung der Transparenz, der Stärkung der Bürgerbeteiligung, der Bekämpfung der Korruption und der Nutzung neuer Technologien zur Stärkung der Regierungsführung innerhalb eines sogenannten Länderaktionsplans verbunden. Weiter wurde das staatliche Sekretariat für Transparenz (Secretaría de Transparencia) geschaffen. Diesem können Bürger Korruptionsfälle melden und dort Einkommen von Ministern und Abgeordneten einsehen.
In Brasilien sorgte das im Rahmen der Ermittlungen im Odebrecht-Skandal angewandte Instrument der „belohnten Denunzierung“, delação premiada, für den ermittlungstechnischen Durchbruch. Wie der im Land durch die Odebrecht-Verfolgung populär gewordene Strafrichter Sérgio Moro betonte, können wegen des Charakters des „opferlosen“ Delikts nur die Verbrecher selbst zur Aufklärung von Korruption beitragen und entsprechende Informationen liefern. Diese Kronzeugenregelung ließ Beteiligte des korrupten Systems mit Aussicht auf Strafmilderungen aussagen. Brasilien ist es mit einer reformierten, unabhängig arbeitenden Staatsanwaltschaft und Justiz gelungen, Dutzende von führenden Politikern und Geschäftsleuten anzuklagen und teilweise bereits zu langjährigen Gefängnisstrafen zu verurteilen. Dies stellt für Lateinamerika ein präzedenzloses Vorgehen gegen Korrupte in der obersten Elite dar.
Im Rahmen der Aufdeckung und strafrechtlichen Verfolgung dieses auch Lava Jato (Autowaschanlage) genannten Falls wurde eine Sonderstaatsanwaltschaft eingerichtet sowie ein Team von elf Richtern am Obersten Strafgericht zusammengestellt, das ausschließlich an diesem Fall arbeitet und insbesondere gegen die in Korruptionsskandale verwickelten Vertreter aus der Privatwirtschaft ermittelt. Das Oberste Bundesgericht ist hingegen zuständig für die Ermittlungen gegen hochrangige korrupte Politiker. Der brasilianische Richter am Obersten Bundesgericht Teori Zavascki hatte dabei eine besonders sensible Position inne, da er die Untersuchungen gegen ca. 200 auf Bundesebene tätige, hochrangige Politiker leitete, die alle in den Lava Jato-Fall verwickelt zu sein scheinen. Kurz vor Veröffentlichung der Ermittlungsakten kam der Richter bei einem Flugzeugabsturz zu Tode. Umso bemerkenswerter ist es, dass sein designierter Nachfolger Edson Fachin Mitte April 2017 eine Liste von 76 in den Odebrecht-Skandal verwickelten Spitzenpolitikern veröffentlichte und somit den Weg zu offiziellen Ermittlungen gegen diese frei machte.
Auch die in Argentinien 2015 neugewählte Regierung hat sich ein schärferes Vorgehen gegen korrupte Machenschaften auf die Fahnen geschrieben und ist deshalb nicht umsonst laut Korruptionsindex lateinamerikanischer Aufsteiger des Jahres in Sachen Korruptionsbekämpfung. Die Regierung des neuen Präsidenten Mauricio Macri erließ ein Gesetz zur Förderung von Transparenz in der öffentlichen Verwaltung und zur Verbesserung des Zugangs zu Informationen und führte auch eine Kronzeugenregelung ein. Eine effektivere strafrechtliche Verfolgung von Korruptionsfällen durch die argentinische Justiz trug ebenfalls zu Verbesserungen bei. Schließlich hat das neu geschaffene argentinische Antikorruptionsbüro ein Gesetz zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen bei Korruptionsdelikten mit Bezug zur öffentlichen Verwaltung entwickelt. Die Strafzahlungen für Unternehmen können dabei 20 Prozent des jährlichen Bruttoumsatzes des Unternehmens betragen und wirken dadurch in hohem Maße abschreckend. So schaffte es Macri zumindest in Ansätzen, das unter seiner Amtsvorgängerin Cristina Fernández de Kirchner verlorengegangene Vertrauen in die Staatlichkeit wiederherzustellen.
Der Blick auf Uruguay, Chile und Costa Rica zeigt, dass das Problem Korruption langfristig und nachhaltig nur durch gefestigte staatliche Institutionen und eine funktionierende Gewaltenteilung gelöst werden kann, über die diese drei Staaten verfügen. Darüber hinaus bedarf es einer von politischen Einflüssen unabhängigen, effektiven Strafjustiz. In Chil e wurde Korruption darüber hinaus bereits seit 1994 als ernsthaftes Problem erkannt und entsprechend bekämpft: Bereits vor mehr als 20 Jahren wurde eine nationale Ethikkommission (Comisión Nacional de Ética Pública) gegründet, die verschiedene Gesetze zur Eindämmung von Korruption erlassen hat. Beispielsweise wurden transparente Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge eingeführt.
Abschließende Bewertung und Ausblick
Weder die Ratifizierung von internationalen Konventionen noch die Verabschiedung nationaler Gesetze oder die Schaffung von Kommissionen oder anderer Institutionen zur Korruptionsbekämpfung sind Selbstläufer. Sie sind vielmehr abhängig von dem Willen der Regierungen sowie der wirtschaftlichen Eliten, rechtsstaatlich agieren zu wollen. Es werden Rufe nach einem personellen Austausch in den politischen Führungspositionen der lateinamerikanischen Staaten laut. Denn nur ein solcher könne verkrustete Strukturen aufbrechen und der Vetternwirtschaft ein Ende setzen. Zumindest ein Komplettaustausch scheint jedoch unrealistisch, denn – sprichwörtlich gesagt – wer sägt schon gerne an seinem eigenen Ast? Zudem hat die Aufdeckung der Korruptionsfälle eine extreme Politikverdrossenheit ausgelöst, die ebenfalls dazu beiträgt, dass sich die politische Klasse quasi nicht erneuert. Die Bürger lehnen es ab, sich selbst politisch zu engagieren. Es gilt also, die Motivation rechtsstaatlichen Handelns in den bestehenden Führungseliten möglichst zu erhöhen. Daher sind die Einrichtung von Kontrollmechanismen und die Verringerung subjektiver Sicherheit von Personen, die Korruption erwägen, durch Justizreformen und Gesetzesänderungen von enormer Bedeutung.
Angesichts der medialen Präsenz des Themas Korruption über alle Grenzen hinweg steht Lateinamerika gegenwärtig vor der historischen Chance, Korruption endlich effektiv zu bekämpfen. Ein Schlüssel zum Erfolg könnte dabei die Möglichkeit sein, über soziale Netzwerke große Menschenmengen mit vergleichsweise geringem Aufwand gegen korrupte Staatsdiener zu mobilisieren, wie sich 2015 in Guatemala zeigte. Insgesamt gab es nie zuvor auf dem lateinamerikanischen Kontinent so viele Protestaktionen auf der Straße und in sozialen Netzwerken. Laut Transparency International wird dieser Druck der sozialen Medien die lateinamerikanischen Regierungen in den nächsten Jahren zu mehr Transparenz zwingen, wenn diese den sozialen Frieden in ihrer Gesellschaft gewährleisten wollen.
Des Weiteren sind tiefgreifende institutionelle Veränderungen wünschenswert. Das Leistungsprinzip muss bei der Auswahl im öffentlichen Sektor erneut deutlich aufgewertet werden. Dies muss für alle drei Staatsgewalten gelten, sodass auch bei der Ernennung von Richtern und Staatsanwälten ein transparentes Verfahren unabdingbar ist. „Politische“ Besetzungen von Richterwahlausschüssen müssen vermieden werden. Um die Einhaltung des Leistungsprinzips effektiv zu überwachen, wäre eine Möglichkeit, wie beispielsweise in Deutschland, sogenannte Konkurrentenklagen einzuführen: Ist ein Mitbewerber der Meinung, dass er für die ausgeschriebene Stelle besser geeignet ist, kann er – notfalls im einstweiligen Rechtsschutz – gerichtlich gegen die Einstellung des Konkurrenten vorgehen. Diese Art der „sozialen Kontrolle“ behördlicher Auswahlentscheidungen hat sich in Deutschland als äußerst effektiv erwiesen. Ferner müssen alle Beamten und Richter ein angemessenes Gehalt erhalten, um den Anreiz zur Entgegennahme von Geldzahlungen auf illegalem Wege zu verringern. Gerichte müssen zur Rechenschaftslegung und Transparenz gezwungen werden. Die Verfahrensdauer an den Gerichten muss reduziert werden. Die Vergabe öffentlicher Aufträge muss über ein transparentes System öffentlicher Ausschreibungen erfolgen.
Darüber hinaus müssen die Wahlsysteme des Kontinents sowie die Regeln zur privaten Parteienfinanzierung nicht nur in Zeiten des Wahlkampfes einer kritischen Revision unterzogen werden. Nationale und internationale Wahlbeobachtung sowie die Reduzierung der Einflussmöglichkeiten auf Wähler vermindern die Möglichkeit von Wahlmanipulation. Überhaupt sollte der Wahlkampffinanzierung durch Obergrenzen für Wahlkampfausgaben und Reformen der Wahlsysteme Grenzen gesetzt werden. Das gleiche gilt allgemein für die Parteienfinanzierung. Private Parteienfinanzierung sollte begrenzt und stärker auf staatliche Parteienfinanzierung gesetzt werden. Des Weiteren sollten Parteien strengeren Offenlegungs- und Rechenschaftspflichten unterliegen.
Die Abkehr von korrupten Machenschaften hin zu rechtsstaatlichen Strukturen und Transparenz scheint möglich: In Lateinamerikas Gesellschaften zeigt sich ganzheitlich ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Korruption für Armut verantwortlich und daran schuld ist, wenn öffentliche Verkehrsmittel nicht funktionieren, Krankenhäuser in schlechtem Zustand sind und Geld für die staatlichen Schulen fehlt. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines umfassenden sozialen Wandels auf dem Kontinent, weg von einer institutionellen und strukturellen Kultur der Korruption hin zu einer Legalitätskultur, scheint sich herausgebildet zu haben. Es muss künftigen Entscheidungsträgern vermittelt werden, dass der Staat weder ihr Feind noch Selbstzweck ist, sondern dass ein gesundes Allgemeinwesen zum Wohlstand aller beiträgt. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn im Gegenzug Gesetze beachtet und Steuern gezahlt werden.
Damit der Bürger Vertrauen in den Staat gewinnen kann, muss letzterer ihm das Gefühl vermitteln, dass sich die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben auch lohnt. Dies kann nur durch eine umfassende Stärkung des Sozialstaats sowie der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte, etwa durch Garantie eines Existenzminimums, die Gewährleistung einer ausreichenden medizinischen Versorgung oder erschwinglichen Zugang zu Bildung, erreicht werden. Darüber hinaus bedarf es eines gesunden Wirtschaftswachstums unter anderem durch ausländische Investitionen zur Stärkung des in Lateinamerika in vielen Ländern quasi inexistenten sekundären und tertiären Industriezweigs sowie eines technologischen Wachstums. Nur so kann die Abhängigkeit der lateinamerikanischen Industrie von Bodenschätzen und damit von unbeständigen Faktoren wie dem Öl- und Goldpreis einerseits und der Abhängigkeit von der Gewogenheit des die Bodenschätze verteilenden Staatsapparats andererseits minimiert werden.
Vor Lateinamerika liegt ein langer Weg. Mit der seit Langem überfälligen Thematisierung von Korruption durch Politik und Zivilbevölkerung in den letzten Monaten scheint Lateinamerika jedoch die historische Chance zu ergreifen, das Phänomen endlich umfassend und nachhaltig zu bekämpfen.
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Dr. Marie-Christine Fuchs ist Leiterin des Rechtsstaatsprogramms Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bogotá, Kolumbien.
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