Ausgabe: 3/2020
„Let us work to foster a secure environment of peace and stability. We need to take it our aim to safeguard peace and development for all; we need to uphold fairness and justice and promote win-win results; we need to base our efforts on international law and widely recognized norms of international relations; we need to champion and put into practice multilateralism.“
Bis vor einigen Jahren hätte man ein Zitat wie das vorangestellte vermutlich ohne lange zu zögern einem US-Präsidenten, jahrzehntelang gleichzeitig Anführer der freien Welt, zugeschrieben. Aber die Zeiten haben sich geändert: Donald Trump, aktueller Präsident der Vereinigten Staaten, bricht bekanntlich mit vielen Traditionen und kündigt reihenweise die Zusammenarbeit in multilateralen Foren auf, während sich der chinesische Präsident Xi Jinping, von dem das Zitat tatsächlich stammt, als „Champion des Multilateralismus“ geriert. Wie konnte es soweit kommen?
Der vorliegende Beitrag will einige Trends aufzeigen, die mit dazu geführt haben, dass die liberale Weltordnung heute in einer schweren Krise steckt. Er will verdeutlichen, warum die Werte, die diese Weltordnung über Jahrzehnte getragen haben, heute mehr denn je in Gefahr sind, obwohl oder gerade weil sich auch autoritäre Regime zum Multilateralismus bekennen. Und schließlich will er Ansätze für eine Trendumkehr vorschlagen und beleuchten, was insbesondere in Europa getan werden muss, um jenen Prinzipien und Werten wieder mehr Geltung zu verschaffen, die sich hinter dem vieldeutigen und unterschiedlich interpretierten Begriff „Multilateralismus“ verbergen.
Prolog: Die COVID-19-Krise als Katalysator bestehender Trends
Viele sehen in der COVID-19-Pandemie eine massive Herausforderung für den globalen Westen. Die weltweite Gesundheitskrise habe das Potenzial, die internationalen Kräfteverhältnisse nachhaltig zu verändern und könne gar ein Wendepunkt sein, der zu einer stärkeren Akzeptanz autokratischer Regierungsmodelle führe.
Richtig ist: Die Krisenreaktion vieler Länder des globalen Westens war oft nicht vorbildhaft. Viele Länder wirkten unvorbereitet, Prognosen und Handlungsanweisungen mussten wiederholt korrigiert werden. Unabgestimmte Reise- und Exportbeschränkungen ließen zunächst vermuten, mit der europäischen bzw. westlichen Solidarität könnte es in der Krise nicht allzu weit her sein. Demgegenüber schienen einige Länder mit autoritären Regierungssystemen zunächst besser durch die Krise zu kommen, nicht zuletzt, weil viele bei der Pandemiebekämpfung notwendige Praktiken (Ausgangsbeschränkungen, Kontrollen, Datenüberwachung u. ä.) eher in der „Komfortzone“ autokratischer Systeme liegen.
Diese Argumentation einer vorgeblichen Überlegenheit autokratischer Länder verlor allerdings immer mehr an Zugkraft: Zu offensichtlich war, dass die Fallzahlen schon wegen der sehr unterschiedlichen Testdichte kaum vergleichbar waren und gerade autokratische Länder (China, Iran oder Russland) bewusst intransparent mit der Kommunikation der Opferzahlen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) umgingen. Schließlich deutete sich an, dass Erfolge beim Kampf gegen die Pandemie eher von anderen Faktoren (Erfahrung bei der Bewältigung früherer Epidemien) abhängig sein könnten und sich unter den Ländern, die international inzwischen als Vorbilder gelten (Südkorea, Taiwan, Japan, zu einem gewissen Grad auch Deutschland, Griechenland, Island und einige mittelosteuropäische Länder) inzwischen immer mehr Demokratien finden.
Dennoch stellt sich auch im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise die Frage nach der Zukunft des Westens und der liberalen Weltordnung. Weniger, weil die Pandemie etwas Grundsätzliches an den Kräfteverhältnissen zwischen Autokratien und Demokratien ändern würde, sondern weil die Krise ein besonders grelles Licht auf einige schon zuvor existierende Trends wirft und diese in einigen Fällen noch zusätzlich verstärkt.
Trend 1: Die Führungsschwäche und Uneinigkeit des Westens
Hätte es noch eines weiteren Belegs bedurft, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr willens oder in der Lage sind, die Führung bei der Bewältigung globaler Herausforderungen zu übernehmen, dann hat ihn die COVID-19-Krise erbracht. Was vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre, ist heute nicht mal mehr eine Überraschung: Die Vereinigten Staaten stehen nicht an der Spitze der Koordinierungsbemühungen zur Bekämpfung der Krise. Zwar wurden von den USA durchaus finanzielle Mittel bereitgestellt, in den maßgeblichen internationalen Organisationen konterkarierte die US-Administration jedoch immer wieder Bemühungen globaler Kooperation. Der vorläufige Gipfel ist der mitten in einer Pandemie angekündigte Austritt der USA aus der WHO, wo sie – wie in vielen anderen Organisationen auch – größter Geldgeber sind. Geopolitische Rivalität scheint die Bewahrung globaler Güter endgültig als handlungsleitendes Motiv abgelöst zu haben – auch wenn es natürlich naiv wäre anzunehmen, das Agieren der Vereinigten Staaten in multilateralen Organisationen sei bis dato ausschließlich von altruistischen Motiven bestimmt gewesen.
Durch die Blockade des VN-Sicherheitsrats (an der auch China Anteil hat) spielt dieser im Kampf gegen die Pandemie bislang kaum eine Rolle. Das Aufkündigen jeglicher Zusammenarbeit mit der WHO und zuletzt auch die Weigerung, einen Impfstoff als öffentliches globales Gut anzuerkennen, verstärken den Eindruck, dass die USA mittlerweile eher Bremser als Motor multilateraler Kooperation sind. Ähnliches lässt sich auch in der Welthandelsorganisation (WTO) beobachten: Neben der Blockade des Berufungsgerichts zeigen sich die USA derzeit auch bei der Suche nach einem neuen Generaldirektor als schwieriger Partner. Diese Blockaderolle ist unter der Trump-Administration nicht neu und setzt lediglich einen Trend fort, der sich bereits im Zusammenhang mit dem Streitschlichtungsverfahren der WTO und den Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel beobachten ließ.
Bedauerlicherweise gelingt es der EU – wie auch in anderen internationalen Krisen – bisher nicht, das Vakuum, das die Führungsschwäche der Vereinigten Staaten hinterlässt, komplett zu füllen. In der COVID-19-Krise war die EU zunächst vor allem mit sich und den eigenen Zwistigkeiten beschäftigt. Diese Uneinigkeit innerhalb des Westens ist ein weiterer Trend, den die COVID-19-Pandemie lediglich verstärkt.
Das gilt auch für die grundsätzliche Haltung gegenüber multilateralen Organisationen. Während es bei den Vereinigten Staaten inzwischen zum Muster geworden ist, die teilweise durchaus berechtigte Kritik an den Unzulänglichkeiten multilateraler Organisationen als Vorwand zu nutzen, um diese zu blockieren (WTO, VN-Klimakonferenz) oder die Mitwirkung gleich gänzlich einzustellen (WHO und VN-Menschenrechtsrat), ist bei den meisten anderen Ländern des globalen Westens ein umgekehrter Reflex festzustellen: Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz wird das Bekenntnis zu multilateralen Problemlösungen zum Mantra. Um des lieben Friedens und der schönen Kulisse willen wird Kritik an bedenklichen Entwicklungen eher hinter verschlossenen Türen formuliert, um nicht die Autorität der Organisation infrage zu stellen – eine Haltung, die in Washington für erhebliche Irritationen sorgt, zuletzt bei der Debatte um Reformbedarf in der WTO. Auch die 2019 von Deutschland und Frankreich initiierte Allianz für den Multilateralismus plant zwar lobenswerte Initiativen, wagt sich aber (noch) nicht an die eigentlichen Probleme internationaler Politik oder die dringend notwendige Reform multilateraler Organisationen heran: So hat die Allianz beispielsweise bislang keinen Vorschlag zur Reform der WTO vorgelegt, deren Arbeit gerade in der Streitschlichtung zunehmend vom Gegensatz zwischen USA und China paralysiert wird. Auch zur Reform des VN-Sicherheitsrats oder der Weltgesundheitsorganisation haben sich zwar einzelne Mitglieder der Allianz geäußert, jedoch nicht die Allianz als Ganzes.
Trend 2: Multilaterale Organisationen als Arenen der Systemkonkurrenz
Wie sehr sich das Agieren der USA und Chinas in multilateralen Zusammenhängen mittlerweile unterscheidet, hat auch die letzte Weltgesundheitsversammlung (WHA) zur COVID-19-Krise in Genf wieder gezeigt: Während die USA vor allem damit beschäftigt waren, das Krisenmanagement Pekings und die WHO anzuprangern und Trump die Einladung zur Ansprache ignorierte, nutzte der chinesische Staatspräsident Xi die Gelegenheit, um Peking als verantwortungsvollen Akteur mit globalem Gestaltungsanspruch zu inszenieren, milliardenschwere Hilfen mit Schwerpunkt auf Afrika zu versprechen und zuzusichern, man werde einen Impfstoff selbstverständlich als globales Gut behandeln. Auch das bestätigt einen Trend: Autoritäre Regime haben längst gelernt, multilaterale Organisationen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Diese sind zu Arenen geworden, in denen zunehmend auch die Systemkonkurrenz zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen ausgetragen wird.
Festzustellen ist seit einigen Jahren vor allem eine signifikante Zunahme des chinesischen Einflusses in verschiedenen internationalen Organisationen. Dies gilt zwar nicht in allen Themenbereichen und natürlich ist Peking, was das finanzielle und politische Engagement angeht, in einigen Organisationen noch Lichtjahre von den USA, der EU oder anderen Ländern des globalen Westens entfernt, aber gerade in internationalen Formaten mit wirtschaftlicher (WTO, WIPO, UNECE), digitalpolitischer (z. B. ITU) oder infrastruktureller Relevanz (u. a. ISO, ICAO, IRU) versucht China, seinen Einfluss systematisch auszuweiten. Gleichzeitig hat Peking sein Engagement in VN-Missionen zur Friedenssicherung in den letzten Jahren massiv hochgefahren.
Im Menschenrechtsbereich versuchen China und vor allem auch Russland wiederum gezielt, die universelle Geltung individueller Freiheits- und Menschenrechte zu untergraben, Minderheitenrechte zu beschneiden und die Arbeit in entsprechenden Gremien zu blockieren.
Immer häufiger kommt es darüber hinaus zur autokratischen Lagerbildung. Wenn es um Themen wie den Bürgerkrieg in Syrien, die verheerende Lage in Venezuela oder die Situation der Uiguren in Xinjiang geht, schließt die „autokratische Internationale“ immer häufiger ihre Reihen, um etwa Entscheidungen im Genfer VN-Menschenrechtsrat in ihrem Sinne zu beeinflussen. Solche Bündnisse scheinen allerdings bislang eher taktischer als strategischer Natur zu sein. Das heißt: Es gibt zwar eine autokratische Solidarität, um gemeinsam gegen unliebsame Initiativen vorzugehen, aber seltener eine konstruktive Allianz der Autokratien, um proaktiv für die Durchsetzung bestimmter Positionen einzutreten.
Neben der Einflussnahme in bestehenden multilateralen Organisationen sind autoritäre Regime außerdem dazu übergegangen, Parallelstrukturen in Form neuer, von ihnen dominierter multilateraler Organisationen zu etablieren. Dies gilt für Chinas Seidenstraßeninitiative, die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und die gemeinsam von China und Russland ins Leben gerufene regionale Sicherheitsorganisation Shanghai Cooperation Organisation (SCO). Die Hoffnung, China erfahre durch die Integration in internationale Organisationen eine „normative Sozialisierung“, also eine Annäherung an Leitideen des westlichen Ordnungsmodells, hat sich jedenfalls nicht erfüllt.
Ansätze für eine Trendumkehr
Freiheitlich-demokratische Normvorstellungen und ordnungspolitische Grundsätze, die die meisten multilateralen Organisationen in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben, geraten durch die skizzierten Trends immer weiter unter Druck. Hinzu kommt, dass sich ebendiese Trends durch die COVID-19-Krise noch weiter verschärfen könnten. Was also ist zu tun? Wie lässt sich jenen Prinzipien und Werten, die das Fundament der liberalen Weltordnung bilden, wieder mehr Geltung verschaffen? Und welche Rolle kann insbesondere Europa dabei spielen?
Ansatz 1: Die Führungslücke im Westen schließen
Nicht erst in der COVID-19-Krise ist deutlich geworden, dass die Vereinigten Staaten unter Donald Trump nicht mehr willens sind, die ihnen angestammte Rolle als Führungsmacht des Westens auszufüllen. Vollständig schließen können die EU und andere Länder des globalen Westens diese Lücke bislang nicht. Allerdings ist durchaus bemerkenswert, dass angesichts der Blockade zwischen den USA und China zuletzt mehrere Länder und Akteure versucht haben, mit konstruktiven Vorschlägen in multilateralen Foren zu gemeinsamen Lösungen zu kommen: So spielt die EU bei der von der WHO koordinierten, bislang beispiellosen globalen Initiative zur Beschleunigung des Kampfs gegen die Pandemie (ACT Accelerator) eine entscheidende Rolle, nicht zuletzt mit der Ausrichtung einer erfolgreichen internationalen Geberkonferenz. An dieser nahmen zwar nicht nur, aber auch enge Verbündete des globalen Westens teil. Ein weiteres Beispiel ist die konstruktive Rolle der EU-Länder im Vorfeld der Weltgesundheitsorganisation, die einen Konsens hinter einer wegweisenden Resolution zimmern konnten, die unter anderem einen freien und gleichen Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten vorsieht. Insgesamt wird in Genf die politische und finanzielle Unterstützung der WHO durch die EU (aber auch Deutschland) als essenziell beim Kampf gegen die Pandemie gewertet.
Und auch in der Welthandelsorganisation haben zuletzt Länder wie Kanada, die Schweiz, die Republik Korea oder Neuseeland, unterstützt von etlichen Ländern, Initiativen eingebracht, um Nahrungsmittellieferketten und den Export medizinischer Ausrüstung vor Exportbeschränkungen zu schützen. Insgesamt zeigt sich, dass konstruktive Vorschläge zum Kampf gegen die Krise und für den Erhalt des regelbasierten multilateralen Systems nach wie vor von Ländern des globalen Westens kommen.
Solche Bemühungen, die Lücke zu schließen, die der zunehmende Rückzug der USA aus der Verantwortung für die globalen Herausforderungen unserer Zeit hinterlassen hat, müssen intensiviert werden. Am stärksten wird der Westen zwar sein, wenn EU und USA an einem Strang ziehen, aber das wird auch mit einer der EU gewogeneren US-Administration nicht immer der Fall sein. Umso wichtiger wird es sein, dass auch Europa die Interessen des Westens artikuliert und jenseits von Absichtserklärungen und Resolutionen konkrete Ergebnisse liefert.
Um sich dauerhaft als globale Gestaltungsmacht zu etablieren, muss die EU die notwendigen diplomatischen, finanziellen, politischen und militärischen Ressourcen aufbringen. Das heißt zunächst, das finanzielle Engagement für multilaterale Organisationen aufzustocken. Der Finanzierungsbedarf vieler Organisationen dürfte in nächster Zeit erheblich steigen, zum einen, weil es zur Bekämpfung der vielfältigen Folgen einer Pandemie mehr globalen Steuerungsbedarf geben wird, zum anderen, weil viele Länder ihr finanzielles Engagement wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen Auswirkungen kürzen werden. Bereits jetzt gehen einige dieser Organisationen – gerade in Krisenzeiten – finanziell und auch personell auf dem Zahnfleisch und haben auch deshalb Schwierigkeiten, ihren Aufgaben nachzukommen. China sowie andere autokratische Länder unter anderem aus der Golfregion deuten an, diese Lücke zumindest zum Teil füllen zu wollen. Eine Gewichtsverlagerung bei der Finanzierung globaler Initiativen könnte zu einer grundsätzlichen Einflussverschiebung in diesen Organisationen führen.
Darüber hinaus wird es trotz aller Wichtigkeit, die dem Faktor soft power gerade im Zusammenhang mit der neuen Systemkonkurrenz zukommt, auch darum gehen, die hard-power-Komponente zu stärken. In einer Welt, in der es neben multilateralen Initiativen und VN-Resolutionen nach wie vor darauf ankommt, wer das Potenzial hat, eigenen Vorstellungen notfalls auch militärisch Nachdruck zu verleihen, bleibt dies ein wesentlicher Faktor für globalen Einfluss. Hier muss auf europäischer Seite unbedingt mehr in die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik investiert werden, damit das transatlantische Ungleichgewicht in diesem Bereich sich nicht noch weiter vertieft.
Das gilt im gleichen Maße für den Bereich Forschung und Entwicklung. Dass die Weltorgani-sation für geistiges Eigentum (WIPO) in Genf im April erstmals meldete, dass China die Vereinigten Staaten bei der Zahl der eingereichten Patente überholt habe, kann durchaus als Warnsignal gelten. Es kommt nicht zuletzt auf Europa an, seinen Teil dazu beizutragen, dass der Innovationsvorsprung, den der globale Westen bisher noch innehat, auch in Zukunft erhalten bleibt.
All das ist insbesondere vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Folgen der COVID-19-Pandemie leichter gesagt als getan. Es wird innerhalb Europas vor allem auf die glaubwürdige Führung von Deutschland und Frankreich ankommen, um zu verhindern, dass einige europäische Länder durch die Krise noch stärker in Schieflage geraten. Dass die EU in diesem Zusammenhang bereits Milliardensummen bereitgestellt hat, ist auch insofern wichtig, als es nicht zuletzt darum gehen wird, einen nachhaltigen Vertrauensverlust in gemäßigte politische Kräfte und noch mehr Zulauf für populistische Vertreter und die Heilsversprechen von Dirigismus und Etatismus zu verhindern. Gelänge dies nicht, würde das nicht nur die globale Strahlkraft des westlichen Ordnungs- und Gesellschaftsmodells schwächen, sondern auch die internationale Zusammenarbeit innerhalb des prowestlichen Lagers erschweren.
Ansatz 2: Allianzen schmieden
Allein wird es weder den Vereinigten Staaten noch Europa gelingen, die liberale Weltordnung und ihre Werte und Prinzipien zu bewahren. Der Erfolg dieses Unterfangens hängt vielmehr davon ab, ob es gelingt, entsprechend breite Allianzen zu schmieden. Dabei wird es allerdings zunächst darum gehen, den Zusammenhalt und Einfluss bereits existierender Bündnisse, allen voran der Europäischen Union und NATO, zu stärken. Glücklicherweise gründet sich der Westen jenseits aller Meinungsverschiedenheiten auf eine starke Werte- und Interessengemeinschaft, die weit über das tagespolitische Kleinklein hinausgeht. Jenseits einer Vielzahl gemeinsamer Werte und Prinzipien gilt das unter anderem für das gemeinsame Interesse an einer stabilen internationalen Sicherheitsarchitektur und einem level playing field im globalen Unternehmenswettbewerb.
Der in diesem Zusammenhang häufig konstruierte Gegensatz zwischen vermeintlich harten Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen auf der einen und Werten und Prinzipien auf der anderen Seite ist dabei übrigens reichlich irreführend. Schließlich zeigen unzählige Beispiele – zuletzt etwa die Diskussion um die Beteiligung der chinesischen Firma Huawei am Ausbau des deutschen Mobilfunknetzes –, dass sich Werte und Interessen in der außenpolitischen Praxis so gut wie nie voneinander trennen lassen und die Verwirklichung bestimmter Wertvorstellungen selbstverständlich ebenfalls ein außenpolitisches Interesse sein kann.
Auch deshalb gilt: Gerade wenn sich die USA zunehmend aus der Verantwortung für eine liberale Weltordnung zurückziehen und die EU mit ihren Mitgliedstaaten allein nicht in der Lage ist, die sich daraus ergebenden Lücken zu schließen, muss der Blick bei der Suche nach Gleichgesinnten auch über den Tellerrand hinausgehen: nach Australien, nach Kanada, nach Japan, nach Korea oder in die Ukraine. Die bereits schon bestehende Zusammenarbeit kann noch ausgebaut werden. Jenseits solcher „klassischer Verbündeter“ muss der Blick aber auch nach Nord- und Subsahara-Afrika, nach Lateinamerika, in den Nahen Osten und nicht zuletzt auch zu einigen Schlüsselakteuren in Südostasien gehen. Überall auf der Welt finden sich Bündnispartner, die die Werte der liberalen Weltordnung – oder zumindest einige wesentliche Interessen in spezifischen Themenbereichen – teilen. Viele dieser Akteure haben wenig Interesse daran, dass künftig globale rechtliche wie technische Normen von China oder einer China-geführten Allianz vorgegeben werden.
Allianzen mit entsprechend „kritischer Masse“ zu bilden, ist insbesondere beim Agieren in multilateralen Organisationen wichtig. Das gilt sowohl für die liberalen Demokratien des Westens auf der einen wie China und seine Verbündeten auf der anderen Seite. Nur wem es gelingt, mit zentralen Akteuren oder Gruppen taktische Allianzen zu schmieden, hat am Ende Chancen, sich durchzusetzen. In der Vergangenheit hat China dies immer wieder geschickt zu nutzen gewusst. Längst zeigt etwa die Gruppe afrikanischer Staaten in multilateralen Organisationen, dass sie, wenn sie geeint auftritt, ein entscheidender Machtfaktor sein kann, was sich zunehmend auch im Spitzenpersonal zentraler Organisationen niederschlägt.
Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass klassische multilaterale Lösungen, im Konsens aller getroffen, in Zukunft noch mehr die Ausnahme sein werden. Das heißt nicht, dass multilaterale Organisationen obsolet werden. Sie bleiben nicht nur wichtige, sondern geradezu unverzichtbare Foren internationalen Dialogs, selbst wenn sie künftig oft eher Plattform plurilateraler Lösungen sein werden, also ein Rahmen, in dem sich Allianzen der Willigen schließen, um konkrete Herausforderungen anzugehen. Von den Ländern des globalen Westens wird das eine noch aktivere Rolle bei der Reform internationaler Organisationen erfordern. Der im August 2020 vorgelegte deutsch-französische Vorschlag zur Reform der WHO ist hierfür ein vielversprechendes Beispiel.
Allen Bemühungen zum Trotz wird es allerdings kaum möglich sein, den Einfluss Chinas und anderer autokratischer Länder in multilateralen Formaten wesentlich zu beschneiden. Selbst wenn es den liberalen Demokratien gelänge, dauerhaft an einem Strang zu ziehen, hätten sie in der Weltgemeinschaft keine Mehrheit. Das führt beispielsweise auch dazu, dass im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen nicht nur Demokratien und hybride Regime, sondern auch Autokratien den Ton angeben, denen selbst massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Gerade China gelingt es nach wie vor (obgleich es seit diesem Jahr keinen eigenen Sitz mehr im Menschenrechtsrat hat), Resolutionen einzubringen, die Definitionen von Menschenrechten aufweichen. Man kann diesen Umstand mit guten Gründen beklagen, aber ändern lässt sich daran in absehbarer Zeit wohl nichts. Das gilt auch für die Tatsache, dass multilaterale Organisationen immer wieder Vertreter aus autokratischen Ländern an ihre Spitze wählen.
Bei aller Rivalität und allem berechtigten Argwohn wird es in einigen Politikfeldern, in denen es keine Alternative zu globalen Lösungen gibt, nicht nur darum gehen, Allianzen gegen, sondern wenn nötig auch Allianzen mit China und anderen autoritären Regimen zu bilden. Eine Reform der Welthandelsorganisation ist ohne China genauso wenig möglich wie ohne die USA. Gleiches gilt in der Umweltpolitik oder für die globale Gesundheit. Eine Politik, die auf die komplette Entkopplung von China setzt, wäre mit enorm hohen Kosten verbunden – und ist deshalb kaum realistisch.
Dies wird – insbesondere solange die US-Regierung ihre grundsätzlich skeptische Haltung gegenüber multilateralen Organisationen aufrechterhält – immer wieder dazu führen, dass sich die Länder des globalen Westens und auch die EU bei der Suche nach pragmatischen Lösungen mitunter in einem Boot mit China, dafür aber ohne die USA wiederfinden. Die gemeinsame Teilnahme Chinas und der EU an der von 19 WTO-Mitgliedern vereinbarten Interimslösung für die WTO-Streitschlichtung Ende April 2020 ist hierfür ein Beispiel.
Dass Chinas Einfluss in internationalen Organisationen durchaus Grenzen hat, zeigt nicht zuletzt die Wahl für die Leitung der WIPO in Genf Anfang März 2020. Hier konnte sich letztlich der von den USA, der EU und anderen westlichen Ländern favorisierte Kandidat aus Singapur klar gegen die durchaus qualifizierte chinesische Kandidatin durchsetzen. Dies gelang allerdings auch deshalb, weil die USA sich im Vorfeld stark engagiert hatten und der Westen hier an einem Strang zog.
Auch dieser Fall zeigt also, wie wichtig es ist, dass der Westen die eigenen Reihen geschlossen hält und darüber hinausgehende Allianzen schmiedet. Des Weiteren wäre es sinnvoll, wenn zumindest die EU (am besten mit einigen weiteren engen Verbündeten wie der Schweiz, Island, Norwegen, Ukraine, Australien, Neuseeland oder Kanada) grundsätzlich eine gemeinsame Auffassung dazu entwickelt, wie eine künftige globale Ordnung aussehen könnte und welche Rolle internationale Organisationen und multilaterale Formate dabei spielen sollen. Viele Kritikpunkte an der Funktionsweise internationaler Organisationen (wie zum Beispiel der WTO) werden nämlich – wenn auch in unterschiedlichem Grad – in den Ländern des globalen Westens geteilt.
Ansatz 3: Das trojanische Pferd enttarnen
Geht man der Frage nach, wie es eigentlich sein kann, dass der Multilateralismus in einer tiefen Krise steckt, obwohl er allenthalben beschworen wird, drängt sich neben den bereits erläuterten Zusammenhängen der Verdacht auf, Wladimir Putin und Xi Jinping könnten möglicherweise etwas anderes meinen, wenn sie von Multilateralismus sprechen, als Angela Merkel und Emmanuel Macron. Tatsächlich hat zuletzt der Politikwissenschaftler Hanns W. Maull darauf aufmerksam gemacht, wie unterschiedlich die Vorstellungen sind, die sich hinter dem inflationär gebrauchen Begriff Multilateralismus mitunter verbergen. Während es für die einen beim Multilateralismus lediglich darum geht, dass drei oder mehr Akteure in irgendeiner Form zusammenarbeiten, sind oder zumindest waren mit dem Begriff im Westen lange Zeit all jene Prinzipen und Werte verbunden, die der liberalen Weltordnung seit inzwischen sieben Jahrzehnten zugrunde liegen.
Bedauerlicherweise haben die Länder des globalen Westens in den letzten Jahren mit dazu beigetragen, solche Unterschiede einzuebnen. Wo die liberalen Werte und Prinzipien der Weltordnung nach 1945 vor einigen Jahren noch hochgehalten wurden, ist heute häufig – sei es von diplomatischen Vertretern, Experten oder selbst im offiziellen Diskurs von VN-Organisationen – nur noch von einer regelbasierten Ordnung oder eben Multilateralismus die Rede, so als sei die Kooperation von mehr als zwei Akteuren oder die Existenz irgendwelcher Regeln bereits eine hinreichende Bedingung für Frieden und Freiheit weltweit. Deutlich zu sehr in den Hintergrund getreten ist demgegenüber die Frage, welche Regeln und Werte (!) unsere internationale Ordnung begründen sollten. Auch die Frage, ob Multilateralismus tatsächlich schon für sich genommen ein Mehrwert ist oder es nicht viel mehr darauf ankommen sollte, mit wem man zusammenarbeitet, sollte durchaus häufiger gestellt werden.
Indem die Länder des globalen Westens in dieser Weise argumentativ abgerüstet haben, haben sie ein Einfallstor für autoritäre Regime wie China geöffnet, die den Multilateralismus wie ein trojanisches Pferd nutzen, ihren Einfluss in multilateralen Organisationen ausdehnen und so die Werte und Prinzipien, auf denen diese Organisationen einst gegründet wurden, von innen heraus unterminieren. In internationalen Organisationen spielen sicherlich Machtpolitik und finanzielle Instrumente eine Rolle; mindestens ebenso wichtig ist aber auch die normative Argumentation. Kommt es zu einer Verschiebung der Definitionen, wie Menschenrechte und Souveränität aufzufassen sind, verändern sich grundlegende Spielregeln. Möglicherweise hätten Verteidiger der westlichen Werte u. a. im Menschenrechtsrat und im humanitären Völkerrecht früher und energischer Widerstand gegen problematische Diskursverschiebungen leisten müssen.
Um den Prinzipien und Werten der liberalen Weltordnung – Menschenwürde, Individualismus, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft, kurz: den Grundlagen einer offenen Gesellschaft – wieder mehr Geltung zu verschaffen, wird es für die Staaten des globalen Westens deshalb in Zukunft darauf ankommen, dieses trojanische Pferd als solches zu enttarnen. Sie müssen wieder deutlicher herausstellen, wo sich die ordnungspolitischen Vorstellungen liberaler Demokratien von denen autoritärer Regime unterscheiden, statt sie mit dem catch-all-Begriff Multilateralismus und Jeder-darf-mitmachen-Initiativen immer weiter zu verwässern.
Schlussbemerkungen
Noch ist die liberale Weltordnung nicht verloren. Der Druck auf das Ordnungsmodell und die Deutungshoheit des Westens hat sich allerdings deutlich erhöht. Das offen zur Schau gestellte Bekenntnis zum Multilateralismus wird von autoritären Regimen in diesem Zusammenhang vor allem genutzt, um den eigenen Einfluss in multilateralen Organisationen auszudehnen und dabei die Werte und Prinzipien, auf denen diese Organisationen einst gegründet wurden, systematisch zu unterminieren.
Will man diesen Werten und Prinzipien wieder mehr Geltung verschaffen, wird man nicht umhinkommen, auch bei schwierigen Themen klarer Position zu beziehen. Das gilt, um hier zum Schluss zwei aktuelle Beispiele zu erwähnen, etwa für den unsäglichen Ausschluss Taiwans aus der Weltgesundheitsversammlung oder Chinas Umgang mit Honkong. Es waren und sind nach wie vor die USA, gemeinsam mit Partnern wie Neuseeland, Australien, Kanada und Japan, die in solchen Fällen deutliche Kritik äußern, während sich Deutschland und die EU in Zurückhaltung üben. Das bestätigt dann leider wieder einmal das oft bemühte und sicherlich überzogene Vorurteil von Europa als im Zweifelsfall unzuverlässigem Softie.
Deutschland wird seine in vielen Fällen wichtige Rolle als internationaler Mittler und Brückenbauer häufiger verlassen müssen, um klarer Stellung für jene Werte und Prinzipien zu beziehen, auf denen sich der klassische Multilateralismus der Nachkriegsordnung gründet. Die Vorstellung, international eine Führungsrolle zu übernehmen, ohne dabei auch mal jemandem wehtun zu müssen, ist jedenfalls illusorisch.
Deutschland und die EU sollten bei allen Schwierigkeiten mit Washington und dem oft betörend pragmatisch klingenden Sirenengesang aus Peking nicht der Versuchung erliegen, eine Äquidistanz-Politik zwischen den USA und China zu betreiben. Entsprechend sollte auch ein Instrument wie die „Allianz für den Multilateralismus“ mehr sein als nur ein „flexibles Netzwerk“. Sie ließe sich schließlich auch dazu nutzen, um gerade bei schwierigen Themen mit großer Aufmerksamkeit klar im Sinne westlicher Werte Position zu beziehen.
Eine Entkopplung von China oder auch anderen autokratischen Ländern ist aus vielerlei Gründen keine Option. Das Einstehen für die Werte des globalen Westens sollte aber nicht allzu häufig zum Wohle wirtschaftlicher Interessen geopfert werden. Schließlich sind es nicht zuletzt die normative Strahlkraft und Glaubwürdigkeit des Westens, von denen dessen Wohl und Wehe auch in Zukunft abhängen wird.
Dr. Olaf Wientzek ist Leiter des Multilateralen Dialogs Genf der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Sebastian Enskat ist Leiter der Abteilung Demokratie, Recht und Parteien der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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