Ausgabe: 2/2021
Wiederaufgeflammte Diskussionen über eine stärkere Konditionalität in der Entwicklungszusammenarbeit
Die Demokratie befindet sich weltweit im Rückgang. Die andauernde COVID-19-Pandemie hat den Druck auf die Demokratie in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern, die EU-Außenhilfen empfangen, noch einmal verschärft. Dazu gehörten im vergangenen Jahr eine deutliche Zunahme der Beschneidung parlamentarischer Kontrolle, erhöhter Druck auf die politische Opposition, Zensur und Einschüchterung unabhängiger Medien, Behinderung des korrekten Ablaufs von Wahlen und gezielte Desinformationskampagnen. In diesem Zusammenhang rückt die Debatte um die Wirksamkeit von EU-Außenhilfen als Mittel zur Bekämpfung demokratischen Rückgangs wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Aufgrund einiger der jüngsten politischen Entwicklungen in Brüssel überrascht der Zeitpunkt der neu entflammten Diskussionen nicht. Im März 2021 wurde das Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit (NDICI / Europa in der Welt) nach Jahren interinstitutioneller Verhandlungen offiziell verabschiedet. Mit einem Gesamtbudget von 79,5 Milliarden Euro für die Jahre 2021 bis 2027 für nahezu alle Weltregionen werden erstmalig verschiedene ehemalige Finanzierungsprogramme der EU in einem Instrument zusammengefasst. Als gemeinsame Klammer um die verschiedenen EU-Förderprogramme für langfristige Entwicklungsfragen soll das Instrument auch dazu dienen, Schlüsselaspekte der EU-Außenpolitik, wie Demokratie und Menschenrechte, voranzutreiben. Die Verhandlungen zu NDICI waren für die EU daher eine wichtige Möglichkeit, die langfristigen politischen Ziele ihrer Außenpolitik zu reflektieren. Dabei erwies sich jede einzelne Vergabeentscheidung als mögliche Schwerpunktsetzung für oder gegen entsprechende geografische oder thematische Programme.
Auch die Verabschiedung eines Berichts des Europäischen Parlaments, der vorschlägt, die Vergabe von EU-Entwicklungshilfen an die Kooperationsbereitschaft von Empfängerländern im Migrationsmanagement zu knüpfen, sorgte kürzlich für Aufsehen. Der Bericht deutet eine Verschiebung der Position des Parlaments im Bereich der Entwicklungspolitik an und wird kontrovers diskutiert. Während die Initiatoren des Berichts argumentieren, dass die Verknüpfung von Entwicklungs- und Migrationsfragen eine erhöhte Effizienz in der Entwicklungshilfe gewährleiste, warnen seine Gegner, dass politische Konditionalität in Bezug auf Migrationsmanagement zu unwirksamen und intransparenten Entwicklungspraxen führe. Die durch diese Parlamentsentscheidung ausgelöste Debatte zeigt, dass politische Erwägungen, Überzeugungen und normative Argumente bei Diskussionen zur Konditionalität alle eine wichtige Rolle spielen.
Zur etwa gleichen Zeit führte die EU einen neuen internen Sanktionsmechanismus, den EU-Rechtsstaatsmechanismus, ein. Dieses neue Instrument erlaubt es, Zahlungen der EU an einen Mitgliedstaat zu streichen oder zurückzuhalten, wenn die EU-Kommission einen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit in dem betroffenen Land feststellt. Dieser Versuch zu verhindern, dass demokratische Rückschritte innerhalb der Union auch noch mit EU-Mitteln finanziert werden, wurde in den politischen Kreisen Brüssels überwiegend positiv aufgenommen. Manche Beobachter führte dies allerdings auch zu der Schlussfolgerung, dass die internen Maßnahmen zur Konditionalität auch als Impuls für mehr Konditionalität in der Entwicklungspolitik dienen sollen.
Demokratiefestigung durch Konditionalität
Die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit der EU hatte 2019 ein Budget von 75,2 Milliarden Euro. Das machte die EU zusammen mit ihren Mitgliedstaaten zum weltweit größten Geber. Das übergreifende Ziel der europäischen Entwicklungspolitik ist die „Reduzierung und langfristig die Ausrottung von Armut“. Darüber hinaus bringen alle wichtigen Dokumente zur EU-Entwicklungshilfe zum Ausdruck, dass nachhaltige Entwicklung nur durch Demokratisierung möglich ist. Demokratie ist ein Grundwert der EU, ein Ziel all ihrer außenpolitischen Maßnahmen und auch eines ihrer strategischen Interessen. Um ihre Mittel zur Entwicklungsförderung als Instrument für demokratische Reformen in den Empfängerländern zu nutzen, arbeitet die EU häufig mit Konditionalität. Dies ist Ausdruck einer Reihe universeller Normen und Werte, die den Fokus auf Demokratie, Menschenrechte und verantwortungsvolle Regierungsführung legen. Die Mittelzuteilung ist demnach abhängig vom Grad an pluralistischer Demokratie im Empfängerstaat. Sollte dieser sich in Richtung Autokratie bewegen, Menschenrechte verletzen oder andere Zeichen eines demokratischen Rückschritts aufweisen, kann der Geber Strafmaßnahmen verhängen, etwa eine vollständige oder teilweise Einbehaltung der Hilfsmittel. Umgekehrt wird im Fall einer positiven Konditionalität der Empfänger belohnt, wenn er Fortschritte bei Demokratiereformen macht. Dieser „Mehr-für-mehr“-Ansatz wird in den Beziehungen zwischen der EU und ihren Nachbarländern im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik angewandt. In beiden Szenarien wird die Bereitschaft des Empfängers, politische Reformen durchzuführen, zu einer maßgeblichen Variable bei der Ermittlung der Höhe der zugeteilten Hilfen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Ansatz der EU grundlegend von den Ansätzen anderer Akteure, vor allem Chinas, bei denen die finanzielle Unterstützung nicht an Bedingungen in Sachen Demokratie geknüpft ist. Dass Regierungen in den Partnerländern diese Alternativoption einer Zusammenarbeit mit Geldgebern haben, die keine demokratischen oder menschenrechtlichen Ansprüche stellen, schränkt die Möglichkeiten der EU, durch ihre Entwicklungshilfe Druck zugunsten demokratischer Reformen auszuüben, ein.
Die EU setzt Konditionalität ein, weil sie davon ausgeht, dass die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit in Demokratien größer ist als in Autokratien. Durch eine Steigerung der Demokratie im Empfängerland werden auch die wirtschaftliche Entwicklung, die inklusive Bildung und die Gesundheitssysteme positiv beeinflusst. Es liegt in der Natur der Sache, dass Politiker, die in einem demokratischen System an der Macht bleiben wollen, einen inklusiven politischen Wettbewerb führen müssen, um Mehrheiten zu gewinnen. Ihre wirtschaftlichen Anreize müssen öffentliche Güter für alle Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stellen, während autoritäre Politiker üblicherweise nur dafür sorgen müssen, dass eine kleine Elite sie unterstützt. Die EU geht dementsprechend davon aus, dass ihre Mittel unter demokratischen Bedingungen eher die hilfsbedürftigen Zielgruppen erreichen.
Dennoch wird die Eignung von Konditionalität als Instrument für eine nachhaltige und umfassende Demokratisierung in den Empfängerländern häufig hinterfragt. Die allgemeine Annahme: Von außen angestoßene Reformversuche haben nur einen oberflächlichen Einfluss auf die demokratische Öffnung von autoritären und semiautoritären Regimen. In manchen Fällen kann das Aussetzen von Hilfen sogar eine Destabilisierung bewirken und so die Entwicklungsziele der EU unterlaufen. Die Regierung eines Empfängerstaates mag vielleicht einigen politischen Bedingungen zustimmen, wird aber nicht dazu gezwungen, wirklich grundlegende institutionelle und administrative Reformen durchzuführen. Solange eine (semi-)autoritäre Regierung den Weg zur Demokratie als eine von außen auferlegte Agenda wahrnimmt, kann Konditionalität keinen echten Sinneswandel hervorrufen. Die Einbehaltung oder Suspension von Mitteln kann die Situation zusätzlich verschärfen, da sie als Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates interpretiert werden kann. Deshalb wird sie von der EU als letztes Mittel gesehen und die Bedingungen, unter denen man zu diesem Mittel greift, werden in offiziellen Dokumenten üblicherweise vage formuliert, um Interpretationsspielraum bei der Umsetzung zu lassen.
Budgethilfe als Mittel der Wahl
Budgethilfe ist weiterhin ein wichtiges Werkzeug der EU-Entwicklungszusammenarbeit, da man hofft, dass bei dieser Modalität im Empfängerstaat die Identifikation mit den umgesetzten Projekten und Reformen steigt. Durch direkte Zahlungen in den Haushalt des Empfängerlandes soll die Entwicklungsförderung mit den Prioritäten des Empfängerlandes in Einklang gebracht werden. Dies soll das Verantwortungsgefühl der Empfängerstaaten fördern und gleichzeitig die Effektivität und Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit steigern. Budgethilfen basieren auf politischem Dialog, Erfolgsbeurteilungen und Hilfe zur Selbsthilfe. Sie sollen Reformprozesse initiieren, die die VN-Ziele für nachhaltige Entwicklung fördern. Gegenwärtig zahlt die EU weltweit 40 Prozent der nationalen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit in dieser Form aus. Um solche Direktzahlungen erhalten zu können, muss das Empfängerland eine glaubwürdige Strategie für Reformen zur Entwicklung der Gesamtgesellschaft oder einzelner Sektoren vorlegen, einen stabilen makroökonomischen Ausblick bieten, Fortschritt im öffentlichen Finanzmanagement und bei der Erschließung eigener Einnahmequellen zeigen, ein transparentes Budget vorlegen und eine Budget-Aufsicht zulassen. Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit werden ebenfalls als unentbehrliche Voraussetzungen betrachtet. Mit 215 umgesetzten Vereinbarungen in 89 Ländern und Territorien und einer Gesamtauszahlung an Hilfen im Wert von 1,6 Milliarden Euro im Jahr 2019 bietet diese Art der Budgethilfe der EU große Vorteile. Sollte ein Empfängerland gegen einen der „Grundwerte“ verstoßen, hat die EU mehrere Optionen: Sie kann offene Teilzahlungen an die jeweilige Regierung aussetzen, kürzen oder die Hilfen in andere Sektoren oder an nichtstaatliche Zielgruppen umleiten. Eine weitere Option bei Rückschritten in der Demokratieentwicklung ist die sofortige Einstellung der Budgethilfe.
Abb. 1: Geografische Verteilung der EU-Budgethilfe 2019 (in Prozent)
Die Grundlagen, auf denen derartige Entscheidungen getroffen werden, werden häufig als undurchsichtig kritisiert. Und die Uneinheitlichkeit bei der Anwendung der Kriterien zeigt, wie stark die Prioritäten in den Beziehungen mit verschiedenen Ländern variieren. Ein genauerer Blick darauf, warum die EU weiter Budgethilfen an Regierungen zahlt, die offensichtlich wenig Interesse an Demokratisierung zeigen, offenbart andere außenpolitische EU-Prioritäten wie Sicherheit und Stabilität sowie Migration und Wirtschaftspolitik, die hier im Vordergrund stehen. Auch wenn außenpolitische Interessen sehr länderspezifisch sind und Flexibilität erfordern, kann doch eine grundsätzliche Priorisierung von Sicherheitsfragen in der EU-Außenpolitik beobachtet werden. Dies wird für die EU zum Glaubwürdigkeitsproblem: Einerseits versucht sie, ihre Normen und Werte durch Konditionalität zu fördern, andererseits untergräbt sie ihre Position durch eine widersprüchliche Anwendung.
Abb. 2: Empfänger von EU-Budgethilfe 2019
Der Tigray-Konflikt in Äthiopien
Im Januar 2021 verkündete Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU, dass aufgrund des anhaltenden Gewaltkonflikts in der äthiopischen Region Tigray die Auszahlung der EU-Budgethilfen verzögert wird, weil humanitären Hilfsorganisationen kein Zugang zu der Region gewährt wird. Er äußerte auch seine Sorge über „ethnisch motivierte Gewalt, Morde, massive Plünderungen, Vergewaltigungen, gewaltsame Rücksendungen von Flüchtlingen und mögliche Kriegsverbrechen“. Nachdem der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed am 4. November 2020 eine Militäroffensive in der nördlichen Region des Landes angeordnet hatte, brachte der Konflikt schwere Gräueltaten und eine humanitäre Krise mit mehr als zwei Millionen Vertriebenen hervor. Die äthiopische Regierung gab an, dass die regionale Regierungspartei Tigray People’s Liberation Front (TPLF) einen Militärstützpunkt angegriffen habe, um Waffen und Munition zu stehlen. Dem Konflikt liegen ein Machtkampf und unterschiedliche Visionen für Äthiopiens politische Zukunft zugrunde. Als Teil der ethnisch-föderalistischen Regierungskoalition (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker, EPRDF) dominiert die TPLF Äthiopiens Politik seit den frühen 1990er Jahren. 2019 wurde die Koalition der vier Parteien zu einer Partei zusammengeführt, der Prosperity Party, an deren Spitze Ministerpräsident Abiy Ahmed steht. Drei der vier ethnischen Parteien schlossen sich der Koalition an, nur die TPLF blieb eigenständig und kritisierte öffentlich die Gründung der Koalition. Dadurch entstanden Spannungen zwischen den regionalen Entscheidungsträgern in Tigray und der regierenden Partei in Addis Abeba. Als die für den 29. August 2020 geplanten Parlamentswahlen aufgrund der COVID-19-Pandemie verschoben wurden, führte die TPLF trotz der Entscheidung der Regierung, die Wahlen zu verlegen, regionale Wahlen durch. Dies sah Ministerpräsident Abiy Ahmed als Untergrabung seiner Regierung und reagierte mit militärischen Maßnahmen, die er als „Verteidigungsmaßnahme zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung in der Tigray-Region“ beschrieb.
Die EU stellte das Eingreifen der äthiopischen Regierung in Tigray an sich nie öffentlich infrage, sondern kritisierte lediglich die Konsequenzen für die humanitäre Situation der äthiopischen Zivilbevölkerung. Der eskalierende Konflikt wird von der EU auf diplomatische Weise angegangen: Sie versucht, die Beratungen mit den äthiopischen Behörden zu intensivieren, und arbeitet dabei mit Partnerländern aus dem Kreis der G7 und den VN zusammen. Zusätzlich wurde der finnische Außenminister Pekka Haavisto zum Sonderbeauftragten ernannt, um vier Grundforderungen der EU zu vermitteln: die Einstellung der Feindseligkeiten, einen humanitären Zugang zu Menschen in Not, die Einleitung von Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen und den sofortigen Abzug aller eritreischen Truppen aus Äthiopien. Basierend auf Haavistos Bericht werden die 27 Außenminister der EU darüber entscheiden, wie das weitere Vorgehen mit Äthiopien aussehen soll. Die aktuell aufgeschobenen Budgethilfen werden mit aller Wahrscheinlichkeit fortgesetzt, sobald die EU ihre vier Forderungen erfüllt sieht.
Die EU verurteilt die Gewalt zwar öffentlich, doch die Budgethilfen wurden lediglich aufgeschoben, nicht ganz ausgesetzt. Um zu verstehen, warum die EU zurückhaltend hinsichtlich des Einsatzes drastischerer außenpolitischer Mittel ist, sollten drei wichtige außenpolitische Prioritäten der Beziehung zwischen der EU und Äthiopien betrachtet werden.
Äthiopiens geostrategische Lage und die Regionalisierung des Konflikts
Äthiopien ist nach Nigeria das bevölkerungsreichste Land in Afrika. Seine Lage am Horn von Afrika und die Nähe zu mehreren konfliktreichen ostafrikanischen Ländern und der Arabischen Halbinsel verleihen dem Land eine besondere geostrategische Rolle als Verbündeter in Sicherheitsfragen. Die Region ist außerdem anfällig für extremistische Einflüsse aus den benachbarten Teilregionen, die unter der Instabilität der dortigen Staaten leiden und Probleme wie schwache Regierungen und Wirtschaften, schlechte Staatsführung und zahlreiche inner- und zwischenstaatliche Konflikte mit sich bringen. Durch den anhaltenden Konflikt in Tigray befürchtet die EU einen negativen Einfluss auf benachbarte Länder wie Eritrea und Sudan, was wiederum die Stabilität der gesamten Region bedrohen würde. Äthiopien, das zweitgrößte Flüchtlingsaufnahmeland Afrikas, wird mehr und mehr selbst zu einem Ursprungsland für Migration – Tausende fliehen vor der zunehmenden Gewalt.
Die Aufrechterhaltung der Dynamik von Abiy Ahmeds Reformagenda
Als Ministerpräsident Abiy Ahmed 2018 sein Amt antrat, kritisierte er öffentlich die Leistungen seiner Vorgänger in den Bereichen Regierungsführung und Demokratie und verkündete seinen Einsatz für eine „Mehrparteiendemokratie, die auf starken Institutionen basiert und die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit achtet“. Seine Reformagenda beinhaltete die Freilassung von politischen Gefangenen, die Legalisierung verbotener Oppositionsparteien, die Einführung einer vollständigen Geschlechterparität auf Kabinettsebene und die Berufung eines ehemaligen Dissidenten zum Vorsitzenden der Wahlkommission. Seine größte Errungenschaft war der Beginn der Friedensverhandlungen mit dem nördlichen Nachbarn Eritrea, was das Ende der seit zwei Jahrzehnten andauernden Feindseligkeiten markierte und ihm 2019 den Friedensnobelpreis einbrachte. Trotz des aktuellen Gewaltkonflikts in Tigray bleibt die EU bei ihrer Überzeugung, einen Kooperationspartner mit gemeinsamen Interessen bei der demokratischen Öffnung des Landes gefunden zu haben. In mehr als 40 Jahren bilateraler Beziehungen hat die EU seitens vorheriger äthiopischer Regierungen nur wenig Begeisterung für mehr Demokratie erfahren. In Geberkreisen sind äthiopische Regierungsbeamte dafür bekannt, sehr direkt zu sein und ihre „roten Linien“ für das internationale Engagement klar zu kommunizieren. Obwohl weder ein Strategieplan noch konkrete politische Richtlinien vorliegen, hofft die EU darauf, dass Abiy Ahmeds Reformprogramm frischen Wind in die innerstaatliche und regionale politische Entwicklung bringt. Um die Beziehung zum Ministerpräsidenten aufrechtzuerhalten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die auf den 21. Juni 2021 verschobenen Wahlen gewinnen wird, will die EU nicht riskieren, seine Regierung durch eine Aussetzung der Entwicklungshilfen vor den Kopf zu stoßen. Ohnehin sind die Beziehungen belastet, seitdem die EU ihre Wahlbeobachtungsmission abgesagt hat, nachdem es bei der Ausgestaltung der Einsatzbedingungen zu Meinungsverschiedenheiten mit den äthiopischen Behörden gekommen war.
Äthiopien als Positivbeispiel für effektive Armutsbekämpfung
Äthiopien ist eines der ärmsten Länder Ostafrikas mit einer Wirtschaft, die stark von finanziellen Hilfen und Lebensmittellieferungen abhängig ist, gleichzeitig aber auch besonders schnelles Wachstum verzeichnet. Bevor die COVID-19-Pandemie ihre Spuren in der Weltwirtschaft hinterließ, verzeichnete Äthiopien ein starkes Wachstum von durchschnittlich 9,4 Prozent jährlich. Dies wirkte sich auch positiv auf die Armutsminderung sowohl in städtischen als auch ländlichen Gebieten aus. Sollte es Äthiopien gelingen, bis 2025 den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen im unteren Bereich zu erreichen, könnte die EU dies als Beispiel für eine erfolgreiche Armutsminderung anführen und die Effektivität ihrer Entwicklungsstrategie für das Land unter Beweis stellen. Da die langfristige Armutsminderung letztlich das Hauptziel der Entwicklungszusammenarbeit der EU ist, bleibt eine fortgesetzte Zusammenarbeit mit Äthiopien daher auch in Krisenzeiten von großer Bedeutung.
Obwohl Äthiopien zuletzt große außenpolitische Aufmerksamkeit zuteilwurde, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die bisherigen Erfolge bei der Demokratisierung trotz zahlreicher Entwicklungshilfen seitens der EU in den vergangenen Jahrzehnten unzureichend geblieben sind. Die jährlichen Auszahlungen der EU+-Gruppe von einer Milliarde Euro machten fast ein Viertel der Gesamthilfen für Äthiopien und zwischenzeitlich bis zu zehn Prozent des gesamten Staatshaushaltes aus. In Anbetracht derartiger Hilfssummen stellt das fehlende Engagement der EU bei Fragen der Demokratisierung und der Menschenrechte in den vergangenen Jahren einen Kontrast zu ihren erklärten Grundwerten dar. Nachdem 2005 in Äthiopien Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen gingen, um gegen die Ergebnisse der Parlamentswahlen zu protestieren, verhängte die dortige Regierung ein Demonstrations- und Versammlungsverbot und startete Razzien gegen Oppositionsführer, Aktivisten und einheimische Demonstranten. Die EU verurteilte die Gewalt und suspendierte ihre Budgethilfen an die Regierung im Dezember 2005 für ein Jahr. Danach gewann die regierende EPRDF-Koalition 2010 99,6 Prozent und 2015 100 Prozent der Abgeordnetensitze. Trotz dieser Bilanz und der Zurückhaltung Äthiopiens, wenn es um die Zusammenarbeit mit Geldgebern bei Regierungsreformen geht, wurden die Budgethilfen seitdem nicht unterbrochen, sondern noch erhöht.
Äthiopiens komplexe politische und sozioökonomische Probleme sowie die Herausforderungen in Sachen Regierungsführung und Entwicklung unterziehen den diplomatischen Umgang der EU mit Gewalt und Menschenrechtsverletzungen einem Stresstest. Einerseits möchte die Union sicherstellen, dass Entwicklungshilfen nicht zur Finanzierung von Kriegen genutzt werden, andererseits möchte sie die zukünftige Kooperation und ihren Einfluss in Äthiopien nicht gefährden. Dadurch stellt die Demokratieförderung hier keine Priorität dar. Aktuelle Entscheidungen über Hilfszahlungen, etwa die Zusage von 53,7 Millionen Euro an zusätzlicher humanitärer Hilfe, folgen eher der Logik von Sicherheit und Stabilität. Wenn die EU eine kohärente Außenpolitik betreiben möchte, muss sie ihre unterschiedlichen Prioritäten in der Entwicklungszusammenarbeit mit verschiedenen Partnern deutlicher kommunizieren und ihren Druck zugunsten politischer Reformen strategischer einsetzen.
Konditionalität als Mittel zum Zweck
Für einen Akteur mit normativen Ansprüchen wie die EU, der weltweit vielen (semi-)autoritären Staaten Budgethilfen bietet, bleibt die Konditionalität ein wichtiges Werkzeug zur Einflusssicherung. Sie kann dazu genutzt werden, bei Verhandlungen mit Entwicklungspartnern Werte und Prioritäten zu unterstreichen, und dient gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern als Beweis, dass Entwicklungshilfen ihren Zweck erfüllen. Es ist schließlich wichtig und legitim, dass Politikerinnen und Politiker sowie Bürgerinnen und Bürger Fragen zum Einsatz der EU-Entwicklungshilfen in Drittländern stellen, vor allem, wenn dort schwere Menschenrechtsverletzungen beobachtet werden.
Nichtsdestotrotz kann Konditionalität höchstens als Mittel zum Zweck dienen. Die erneut ausgelöste Debatte zu mehr Konditionalität in der europäischen Entwicklungspolitik ist im Grunde eine Debatte über die Effektivität von Entwicklungszusammenarbeit – und darüber, welche außenpolitischen Ziele Priorität haben. In diesem Kontext sollte Konditionalität nicht als Instrument politischer Bevormundung genutzt werden, sondern als Impuls für eine konstruktive Zusammenarbeit mit einem Fokus auf länderspezifische Herausforderungen und Schwächen. Echte demokratische Reformen können Empfängerregierungen nicht einfach aufgezwungen werden. Sie sind das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, der auf einem passgenauen Mix aus politischen und finanziellen Instrumenten beruht, den Geber und Empfänger gemeinsam und mit viel Sorgfalt entwickeln müssen. Die aktuellen Debatten zur politischen Konditionalität setzen häufig fälschlicherweise Hilfen mit Entwicklung gleich.
Während die EU daran festhält, Budgethilfe als wichtige Komponente in der Entwicklungszusammenarbeit zu nutzen, muss sie darüber nachdenken, wie die Kriterien für finanzielle Unterstützung kommuniziert werden. Die fehlenden offiziellen Erklärungen zu den Gründen für Zahlungen haben in der Vergangenheit widersprüchliche Signale gesendet. Es ist also unerlässlich, dass die EU realistische Pläne dafür entwirft, wie sie sich die langfristige politische Entwicklung der Empfängerländer vorstellt und klare Indikatoren für gemeinsame Prioritäten setzt. Um die Glaubwürdigkeit ihrer wertebasierten außenpolitischen Agenda unter Beweis zu stellen, sollte die EU diese Zielvorgaben entschlossener verfolgen. Mithilfe klar definierter Anreize und Konditionalitäten kann die EU Reformen fördern. Bei Problemen muss sie genau darauf achten, ob es Empfängerregierungen am nötigen Willen oder an den Mitteln fehlt, um sich für politische Reformen einzusetzen. Die Erschaffung von Scheindemokratien sollte um jeden Preis verhindert werden. Um die Einführung demokratischer Reformen effektiv unterstützen zu können, wird es für die EU außerdem wichtig sein, innerhalb der Empfängerländer stärker mit anderen Akteuren, wie der Zivilgesellschaft und der Jugend, zusammenzuarbeiten. Ein derartiges Engagement könnte nicht nur der EU mehr Informationen zum sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontext liefern, sondern auch ein öffentliches Verständnis für die Vorteile demokratischer Reformen schaffen.
Die aktuelle Krise in Äthiopien unterstreicht die Entschlossenheit der EU, ihren Weg der Diplomatie fortzuführen und den Fokus auf den Schutz der Zivilisten und humanitären Zugang zu legen. Ein Ende der Gewalt setzt einen Ansatz voraus, der die verschiedenen Vorstellungen von Legitimität miteinbezieht und die Entwicklung einer gemeinsamen Vision für die politische Zukunft des Landes ermöglicht. Die politische Unterstützung der EU in enger Zusammenarbeit mit ihren Mitgliedstaaten und anderen internationalen und multilateralen Akteuren kann der Schlüssel zu einer langfristigen Lösung sein.
– übersetzt aus dem Englischen –
Carolin Löprich ist Programm-Managerin für Demokratie und Nachhaltige Entwicklung beim Multinationalen Entwicklungsdialog der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel.
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