Ausgabe: 4/2024
Vorgeschichte
Kuba – das ist ein romantischer Mythos, ein politisches, soziales und historisches Symbol, das die Menschen seit Jahrhunderten aus unterschiedlichsten Gründen in seinen Bann zieht. Die größte Insel der Karibik, nur 90 Kilometer südlich der Küste Floridas gelegen, ist auch von besonderer geostrategischer Bedeutung, was während der Kubakrise 1962, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, fast zur nuklearen Katastrophe führte.
Bereits zu Beginn der conquista, der spanischen Eroberung der Neuen Welt, „entdeckte“ Christoph Kolumbus im Rahmen seiner ersten Reise im Jahr 1492 die Insel „Colba“, wie sie wohl von den indigenen Völkern genannt wurde. In der Folge unterwarfen die Eroberer die lokalen Taíno- Stämme und konnten ihre blutige Herrschaft über deren Land nach und nach zementieren. Wie so oft im Laufe der conquista hatten die einheimischen Völker der Versklavung durch die Spanier und den eingeschleppten Krankheiten (unter anderem Masern und Pocken) wenig entgegenzusetzen – knapp 100 Jahre später waren sie quasi ausgestorben.
Bis zur Unabhängigkeit Kubas Ende des 19. Jahrhunderts nutzte die spanische Krone das strategisch günstig gelegene Land als Handelszentrum zwischen ihren Kolonien und Europa sowie als Ausgangspunkt weiterer Expeditionen. Lokale Goldvorkommen waren zwar schnell erschöpft, aber rege Handelsaktivitäten sorgten für Wohlstand, was das Interesse anderer Mächte wie Großbritannien und Frankreich weckte und Piratenflotten anzog. So war die Insel Kuba im Laufe der Zeit immer wieder umkämpft.
Auch der deutsche Universalgelehrte und Naturforscher Alexander von Humboldt bereiste auf seinen Expeditionen Kuba, wo er erstmals im Jahr 1801 Fuß auf Land setzte. Sein einflussreicher politischer Essay über die Insel setzte sich später kritisch mit den sozialen und naturräumlichen Implikationen der Kolonialherrschaft auseinander, insbesondere mit dem (inzwischen afrikanischen) Sklavenhandel und der wenig nachhaltigen Zuckerrohr-Monokultur. Von Humboldt prognostizierte die Unhaltbarkeit der ungerechten, unnatürlichen sozialen Verhältnisse, die durch Revolutionen beseitigt werden würden – er sollte damit richtig liegen.
Nachdem die Länder Süd- und Mittelamerikas im Laufe des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeit von Spanien erkämpft hatten, wurde Kuba die wichtigste Kolonie der spanischen Krone. Allerdings wuchs die Unzufriedenheit der Kreolen (in Kuba geborene Nachfahren der Spanier) mit der herrschenden spanischen Klasse und durch Kolonialtruppen niedergeschlagene Sklavenaufstände (der Afrokubaner) zeichneten das Schicksal der Insel vor.
Drei lange, blutige Kriege und die Unterstützung der Vereinigten Staaten sollten den Weg hinaus aus der spanischen Kolonialherrschaft weisen. Für die USA spielten neben humanitären Gründen auch wirtschaftliche und strategische Interessen eine Rolle bei der Entscheidung, den Kampf der Kubaner für ihre „Unabhängigkeit“ zu unterstützen. So wollte man sich dauerhaft politischen Einfluss und US-amerikanischen Unternehmen freie Hand in der kubanischen Wirtschaft verschaffen. 1902 wurde Kuba zwar formal unabhängig, allerdings sicherten sich die USA ganz eigene Kontrollmittel, etwa durch ein ständiges Interventionsrecht bei Beeinträchtigung ihrer Interessen oder die Pacht der Bucht von Guantánamo. Dieser unbefristete Vertrag besteht noch heute und kann nur einvernehmlich aufgelöst werden.
Die kommunistische Revolution (circa 1953 bis 1959) des jungen Anwalts Fidel Castro und seiner Getreuen gegen den Militärdiktator Fulgencio Batista bedeutete für die Interessen der USA im Angesicht der fragilen weltpolitischen Lage und des ideologischen Systemkampfs mit der Sowjetunion im Kalten Krieg eine Katastrophe. Trotz vieler Versuche konnte man weder Castro eliminieren noch Kuba von dessen Diktatur befreien. Daher, und bis zum heutigen Tage, ist Kuba für viele weltweit der revolutionäre Mythos schlechthin: das „gallische Dorf“, das sich gegen die imperialistische US-amerikanische Hegemonie auflehnte und das trotz aller Übermacht nie wieder unterworfen werden konnte.
Eigentlich aber ist die jüngere Geschichte Kubas ein soziales Drama in unzähligen Akten, ein (weiterer) Beleg des anscheinend unvermeidlichen Scheiterns sozialistischer Planwirtschaften und ein Paradebeispiel eines totalitären Systems, das dem Volk die Freiheit im Namen der Gleichheit entriss und dabei alles verspielte: Freiheit, Gleichheit, Würde und Wohlstand – alles geopfert zum Zwecke des unbedingten Machterhalts. Die vermeintlich hehren Ideale der Revolution wurden verraten, das Ergebnis könnte heute schlimmer kaum sein.
Kuba heute: Facetten der Krise
An die „Krise Kuba“ hat man sich längst gewöhnt. Die Lage auf der Insel ist ein humanitäres Drama, eine Dauerkrise, die bereits seit Langem unter dem Radar fliegt. Kaum eine Nachricht aus Kuba vermag noch zu schockieren. Viele im Westen, seien es Politik oder Medien, haben das Land und seine darbende Bevölkerung innerlich aufgegeben, zucken mit den Schultern, denn über die Jahre wurde vieles versucht und immer wieder behauptet, dieses Regime müsse doch eigentlich jeden Moment fallen – es fiel aber nie.
Zwischen Beginn des Jahres 2023 und Mitte 2024 haben mehr als eine Million Kubaner die Insel verlassen, was einem Bevölkerungsrückgang von rund zehn Prozent entspricht. Das Phänomen der Abwanderung ist nicht neu. Diese hat aber aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen im Sommer 2021 rapide an Fahrt gewonnen. Etwa 1.400 Menschen wurden damals festgenommen, viele sind bis heute unter grauenhaften Bedingungen inhaftiert. Das Volk stimmt über die staatliche Repression und die schwere Versorgungskrise im Land unmissverständlich mit den Füßen ab.
Der Anteil der kubanischen Bevölkerung, der in extremer Armut lebt, ist mit knapp 90 Prozent schwindelerregend hoch, die Lebensbedingungen verschlechtern sich mit jeder Erhebung. Die Nahrungsmittelkrise ist ein existenzielles Problem, sieben von zehn Menschen verzichten auf mindestens eine Mahlzeit am Tag. Die Inflation und unbezahlbare Lebenshaltungskosten machen in Kombination mit der grassierenden Korruption ein Leben unter menschenwürdigen Bedingungen für weite Teile der Bevölkerung undenkbar. Kubaner mit dem Glück, Familie oder Freunde im Ausland (meist in den USA) zu haben, halten sich mit Auslandsüberweisungen (remesas) über Wasser. Die einst gelobte Gesundheitsversorgung verdient diesen Namen schon lange nicht mehr. Medikamente sind so knapp wie Nahrungsmittel. Das Regime kann im Rahmen seiner einst international renommierten Gesundheitsdiplomatie kaum noch Ärzte in die Krisenregionen der Welt entsenden; nach Mexiko hingegen schon, was selbst dort schwer zu vermitteln ist.
Wie kann sich ein solches System immer noch halten? Und wie kann es sein, dass selbst die einstigen Errungenschaften der Revolution – Gesundheit, Bildung oder Sozialsystem – durch die (hausgemachte) Wirtschaftskrise völlig erodiert sind?
Hunger
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 stürzte Kuba in den wirtschaftlichen Ruin, da die Insel vollkommen abhängig von sowjetischen Subventionen war: Die kubanische Wirtschaft produziert heute noch immer weniger als im Jahr 1989. Die folgende Krise, vom Castro-Regime euphemistisch als „Sonderperiode“ bezeichnet, sollte eigentlich ein historischer Tiefpunkt sein. Inzwischen ist die Not für einen Großteil der Bevölkerung allerdings noch ausgeprägter. Selbst die Zuckerindustrie ist implodiert, die Regierung muss fast alle Güter importieren, was wiederum am chronischen Devisenmangel scheitert. Funktionäre sprechen von einer „Kriegswirtschaft“. Eier, Milch, Reis, Mehl, Gemüse – die Produkte des täglichen Bedarfs sind nur auf dem Schwarzmarkt und zu horrenden Preisen zu bekommen.
Es gibt Videos, die sich im Internet verbreiteten, auf denen Menschen am helllichten Tage, in der Öffentlichkeit, verendete Tiere zerteilen; selbst laut offiziellen Zahlen soll dies 2023 hunderttausendfach vorgefallen sein. Solche hurtos y sacrificios sind Symptome der dramatischen Wirtschaftskrise und beginnenden Hungersnot. Auch wenn sich das Regime in Zweckoptimismus übt, kann der offizielle Diskurs nicht über die tatsächliche Versorgungslage, die regelmäßigen Engpässe, die hohe Inflation hinwegtäuschen. Im Februar 2024 erhielt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) erstmals eine Anfrage von der kubanischen Regierung, die um Milchpulverlieferungen zur Versorgung von Kindern unter sieben Jahren bat.
Besonders betroffen von der Notlage sind auch die 1,6 Millionen Pensionäre im Land, deren Rente nicht im Ansatz ausreicht, um in Würde zu leben. So berichtet der ehemalige Leistungssportler Manuel Cuña Regil, der viele nationale und internationale Medaillen gewann, von seinem Leben in Altersarmut. Der 74-Jährige arbeitet weiter als Kampfsportlehrer, um seine geringe Pension etwas aufzubessern. Das Haus, das der alleinstehende Kubaner in einem Armenviertel 20 Minuten von der Altstadt Havannas entfernt bewohnt, fällt fast in sich zusammen. Löcher in Wänden und Dach verursachen eine ungesunde Feuchtigkeit. Sein wertvollster Besitz – ein Kühlschrank – bleibt meist leer. Zwei Mal pro Woche läuft Manuel etwa zweieinhalb Kilometer, um den einzigen Ort zu erreichen, wo er ein kostenloses Mittagessen bekommt; manchmal isst er nur einen Teil der nicht gerade opulenten Portionen, um abends noch etwas übrig zu haben. Das Leben sei unbezahlbar und unmöglich geworden, erklärt er. Den Versuch, Vorräte oder Reserven anzulegen, gäbe es schon lange nicht mehr.
70 Prozent der Menschen in Kuba, die staatliche Renten beziehen, erhalten das monatliche Minimum von 1.528 Pesos: Dies entspricht auf dem Schwarzmarkt etwa 5,39 US-Dollar. 1.070 Pesos gibt es vom Staat für verwitwete Pensionäre: 3,78 US-Dollar. Der Staat gibt unverhohlen zu, dass Einkommen und Renten nicht ausreichen, weil der konstante Kaufkraftverlust einfach zu hoch ist. So wird als gute Nachricht verkauft, wenn Zehntausende Pensionäre wieder anfangen müssen zu arbeiten.
Bildung
Kubanische Schulen und Bildungseinrichtungen befinden sich in einem katastrophalen Zustand. Ein zentraler Pfeiler der Revolution war kostenlose und gute Bildung für alle: „Keine Schule ohne Lehrer, kein Kind ohne Schule“, so lautete die Losung Fidel Castros noch 1994. Dieses Versprechen scheint heute ferner denn je. Der Zustand einer malträtierten Infrastruktur ist auf dem (vorübergehenden?) Tiefpunkt angekommen. 30 Jahre später berichten Eltern von unhaltbaren Zuständen in den Schulen ihrer Kinder, von baufälligen Gebäuden, nassen Wänden, von unhygienischen Bedingungen in Schulen, die bei Regen nicht genutzt werden können. Wo der Staat versagt, springen die Eltern teils selbst ein und streichen oder renovieren; allerdings ist das nur möglich, wenn jemand an Farbe oder Baumaterialien gelangt, und das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Vor allem sollte dieser private, eigenverantwortliche Einsatz im ideologischen Selbstverständnis des Regimes ja gar nicht notwendig sein.
Was die Regierung inzwischen noch in die In- frastruktur des Bildungssektors investiert, ist nicht allzu präzise zu bestimmen, auch wenn sich Anhaltspunkte finden. Die Nationale Statistik- und Informationsbehörde gibt an, dass die Regierung 2022 1,2 Prozent des verfügbaren Budgets in Bildung investierte; 33 Prozent desselben Budgets wurden offenbar in den Tourismussektor gesteckt. Die mangelnden Investitionen schlagen sich nicht nur in der baulichen Qualität von Schulgebäuden nieder oder der Verfügbarkeit von Unterrichtsmaterialien wie Büchern, Heften und Stiften, die sich oft mehrere Kinder teilen müssen, sondern natürlich auch in Bezahlung und Qualität der Lehre.
Lehrkräfte verdienen sogar für kubanische Verhältnisse sehr geringe Löhne. Im Jahr 2023 gab es im Bildungssektor mit die geringsten Gehälter überhaupt: zwischen 3.800 und 4.500 Pesos, was je nach Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt circa 15 US-Dollar einbrachte – monatlich wohlgemerkt. Auch wenn der Staat inzwischen versucht gegenzusteuern, zum Beispiel durch die Bezahlung von Überstunden, sorgt das geschätzte Fehlen von 17.000 Lehrkräften in Anbetracht dieser Beträge wohl kaum für Verwunderung. Um dem Lehrermangel entgegenzuwirken, werden Studierende an die Schulen geholt und die Anerkennung von Examina vereinfacht. Eine logische Konsequenz dieser Maßnahmen ist jedoch die weiter abnehmende Qualität des Unterrichts. Und so sinkt auch an den Universitäten des Landes die Leistungsfähigkeit der Aspiranten merklich. Im Jahr 2023 haben nur noch 50,4 Prozent der Schulabgänger beziehungsweise Bewerber die drei zentralen Eintrittsexamina der staatlichen Universitäten bestanden, 9 Prozent weniger als noch im Jahr zuvor.
Wie in eigentlich jedem Problembereich scheint die offizielle Strategie der Regierung zu sein, die tatsächliche Situation zu negieren und auf die „hohe Qualität des kubanischen Systems“ oder die „großen Entwicklungen der revolutionären Jahrzehnte“ zu verweisen. Dies kann allerdings niemanden mehr täuschen und die Berichte über eine hohe Nachfrage nach Englischunterricht lassen darauf schließen, dass sich speziell urbane Schichten, die über etwas mehr finanzielle Mittel oder Internetzugang verfügen, außerhalb des maroden Systems zu helfen wissen und Pläne schmieden, diesem zu entkommen.
Gesundheit
Es darf nun nicht überraschen, dass die kubanische Gesundheitsversorgung ebenfalls keinen menschenwürdigen Standards und Ansprüchen mehr genügt. Vor einem Jahrzehnt noch galt Kuba international zwar als Land mit Schwierigkeiten, aber als medizinische Macht. Heute ist die Lage auch in diesem Sektor prekär; es gibt fast keine Medikamente und immer weniger Ärzte und medizinisches Fachpersonal. Spezifische, angemessene Behandlungen für schwere Krankheiten zu erhalten, ist kaum realistisch. Der Mangel an Medikamenten und Nahrung macht die Emigration, teils mit humanitären Visa, oft zum einzigen Ausweg im Krankheitsfall.
Der renommierte Onkologe Dr. Elias Gracia Medina berichtet, dass laut den Inzidenzen etwa alle 20 Minuten eine Krebserkrankung in Kuba diagnostiziert wird und dass mehr als 140 Personen täglich ihrem Krebsleiden erliegen. Menschen mit einer solch schweren Erkrankung sind aufgrund der miserablen Versorgungslage im Land besonders gefährdet.
Auch andere Mediziner berichten von unerträglichen Zuständen: Überfüllung der Arztpraxen, schlechte Bezahlung und Arbeitsbedingungen, die das Praktizieren erschweren. Einige arbeiten dennoch nach ihrer Pensionierung weiter, um den strukturellen Mangel an Personal etwas abzufedern, ähnlich wie es die Lehrkräfte des Landes tun. Ein pensionierter Neurologe erzählt etwa, wie er Bekannte und Menschen aus der Nachbarschaft bei sich zu Hause zur Visite empfängt. Mit Medikamenten helfen kann allerdings auch er nicht; die Patienten werden mit seinen Empfehlungen auf den Schwarzmarkt geschickt und müssen sich dort nach Möglichkeit und Verfügbarkeit selbst helfen, wenn sie sich die horrenden Schwarzmarktpreise leisten können.
Einer grotesken Logik folgend weigern sich medizinische Einrichtungen teilweise trotz des gravierenden Mangels an eigenen Ressourcen, anderweitig erworbene Produkte zu verwenden – aus Sicherheitsgründen. Das bedeutet, dass Patienten einerseits nicht operiert werden, weil keine medizinischen Produkte vorhanden sind, seien es Medikamente oder Operationsmaterial. Wenn die Patienten oder Angehörige diese Produkte nun selbst erwerben, dafür absurde Preise auf dem Schwarzmarkt bezahlen, weigern sich Kliniken, diese zu verwenden, weil die Herkunft der Produkte unklar sei.
Zwischen 2010 und 2022 wurden laut offiziellen Angaben der nationalen Statistik- und Informationsbehörde 63 Krankenhäuser geschlossen, 37 Hausarztpraxen, 187 Einrichtungen für schwangere Frauen sowie 45 Zahnkliniken. 2022 gab es 22,5 Prozent weniger öffentliche Investitionen in den kubanischen Gesundheitssektor als im Jahr zuvor (nun 9,6 Prozent des BIP; zum Vergleich: Deutschland 12,8 Prozent). Im selben Jahr gab es 46.663 weniger Mitarbeiter in den verschiedenen Gesundheitsberufen als 2021; es schieden unter anderem 12.000 Ärzte und 7.000 Krankenpfleger aus dem Beruf aus oder gingen ins Ausland.
Die Gründe dafür sind so einleuchtend, wie sie sich gegenseitig bedingen. Die Emigrationskrise spielt eine zentrale Rolle, häufig verstärkt durch unzureichende Gehälter und katastrophale Arbeitsbedingungen. Eine staatliche Reaktion auf die Lage? Medizinischem Personal wurde kürzlich erlaubt, mehrere Beschäftigungen gleichzeitig anzunehmen.
Der Preis der politischen Opposition
Soziale Rechte sind in der sozialistischen Republik Kuba nicht existent. Unmutsäußerungen gegenüber der politischen Führung unter Präsident Díaz-Canel werden mit drakonischen Strafen im Keim erstickt. Gleichzeitig könnte die Missbilligung der Bevölkerung gegenüber der taumelnden, gebrechlichen Herrscherklasse kaum höher sein.
Es gibt viele Organisationen und Individuen, innerhalb und außerhalb der Insel, die unermüdlich auf die dramatischen Lebensumstände der Bevölkerung aufmerksam machen. Aufgrund der repressiven Natur des Regimes und der politischen wie wirtschaftlichen Abschottung ist dies allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten und Gefahren für die Verbliebenen verbunden. Viele Kritiker und Oppositionelle haben das Land teils gezwungenermaßen, teils freiwillig schon vor Jahren verlassen, etwa ins nahe gelegene Miami, von wo aus eine zersplitterte Opposition kubanischer Emigranten versucht, sich miteinander und mit den wenigen Ausharrenden zu koordinieren. Wie lange kann das so weitergehen? Manche der Regimegegner leben länger außerhalb Kubas als sie je dort gelebt haben. Die wenigen, die noch Castro und seinen Truppen die Stirn boten, sind längst auf dem Weg, ihm in die Ewigkeit zu folgen. Wie resilient ist diese Diktatur? Scheinbar unendlich.
Trotz all der Probleme und Jahren des Mangels, trotz staatlicher Unterdrückung und eines engmaschigen Überwachungsapparats, der kaum Platz zum Atmen und freien Denken lässt, gibt es kubanische Aktivisten, die in ihrer Heimat ausharren, die sich gegen das Regime auflehnen und die Diktatur der Kommunistischen Partei nicht akzeptieren wollen.
Eine bekannte Stimme der Opposition ist Boris González Arenas. Er wurde mehrfach festgenommen, bis zu 18-mal, schätzt er, und weiß es selbst nicht so genau; er hat jedenfalls viel Zeit in Haft verbracht. Ein Foto seiner Festnahme vom 11. Mai 2019 wurde international bekannt. Es strahlt sowohl große Kraft als auch große Verzweiflung aus und beeindruckt den Betrachter, der den Kontext des Bildes kennt. An jenem Tag nahmen Boris und viele seiner Freunde und Aktivisten an einem Marsch der LGBT-Gemeinschaft gegen Homophobie teil, der von den Autoritäten vorher untersagt worden war. Das Verbot war charakteristisch für den repressiven Kurs des Regimes, das keine Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum gestattet, die nicht vorher abgesegnet wurden und mit den Direktiven des Staates, also der Partei, übereinstimmen.
Boris González Arenas sieht sich in erster Linie als politischen Aktivisten gegen die kubanische Diktatur, die Opposition als einen Kern seiner Identität. Er ist Historiker und unabhängiger Journalist. Nach seinem Hauptziel befragt, steht für ihn im Vordergrund, das Ende des Unterdrückerregimes einzuleiten, in dem er mit seiner Familie lebt – ein Regime nicht nur gegen die Freiheit oder die Demokratie, sondern wie er denkt, ein Regime gegen die Menschlichkeit. Er ist überzeugt, dass sich aus dem Verlust der Menschlichkeit, den sein Land erfahren hat, die Probleme aller Kubaner ableiten. Wie kommt man dazu, in die Opposition zu gehen in einem Land, in dem es laut offiziellem „Recht“ und Narrativ keine Opposition gibt?
Boris González Arenas berichtet, wie er als junger Mensch spürte, dass seine Heimat vom Weg abgekommen sei. Jahre später beschloss er, angesichts der Ungerechtigkeiten, die anderen widerfuhren, den Schritt zur öffentlichen Demonstration beziehungsweise Opposition zu gehen. Was in freien Demokratien als selbstverständlich gilt, ist in Kuba ein radikaler Schritt, da der Überwachungsstaat die Menschen nicht nur individuell in den Fokus nimmt, sondern Familien in Sippenhaft. Die Wege, sich in Kuba gegen das System zu stellen, sind vielfältig. Es gibt unzählige Arten des passiven und aktiven Widerstands, allerdings sind die Konsequenzen für Dissidenten häufig gravierend.
Während einige ihren Aktivismus mit dem Leben bezahlten – zu nennen wären hier etwa Oswaldo Payá oder Orlando Zapata –, verlor Boris González Arenas unter anderem 2015 seinen Job als Dozent an der Internationalen Filmschule. Der Druck, der vom Staat auf Abtrünnige ausgeübt wird, ist besonders verheerend für die Familien und Kinder, weiß er aus eigener Erfahrung. Die Trauer und Angst der Familie, wenn der Vater oder die Mutter wieder einmal verschwunden bleibt, sind für viele unerträglich. Zum Schutz vor dem Regime bringen einige Aktivisten ihre Angehörigen ins Ausland – oder verzichten gar ganz auf die Gründung einer Familie. Das ist ein Preis, den manche für die Hoffnung auf Freiheit im eigenen Land zu zahlen bereit sind.
Kuba im internationalen System
Im internationalen Kontext ist Kuba eher isoliert. Die USA haben noch unter Präsident Eisenhower ein Handelsembargo über die Insel verhängt, welches das kubanische Regime für alle wirtschaftlichen Übel verantwortlich macht. Seine Verbündeten Venezuela, Nicaragua, Russland oder China betreiben zwar Handel mit der Insel und mildern die Folgen des US-Embargos ab, sie sind allerdings teils selbst Pariastaaten. Kuba verbucht ein enormes Außenhandelsdefizit, Importe übersteigen die kärglichen Exporte um ein Vielfaches. Die horrenden Auslandsschulden bleiben meist unbedient, was das Interesse zur Kooperation bei Kreditgebern nicht gerade erhöht.
Das ideologisch nahestehende Venezuela pflegt zwar noch eine enge Beziehung zu Havanna. Nach seiner Machtübernahme 1999 konnte Hugo Chávez zumindest zeitweise das Bruderregime mit billigem venezolanischem Öl über Wasser halten. Aufgrund der andauernden Krise in Venezuela ist die autokratische Regierung von Nicolás Maduro allerdings nicht mehr in der Lage, solche Gefälligkeiten zu gewähren.
Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das Putin-Regime aktiver auf der Suche nach neuen Partnern und intensiviert die historischen Beziehungen zu Kuba wieder. Beide Länder wollen sich wirtschaftlich und sicherheitspolitisch annähern. Dies wurde kürzlich in der Präsenz russischer Kriegsschiffe vor Kuba sichtbar.
Auch die Kooperation mit der Volksrepublik China wird gepflegt, denn Peking und Havanna stehen sich ideologisch nah, da beide Länder von kommunistischen Einheitsparteien kontrolliert werden. Als Zeichen der „Freundschaft“ brachte China im Frühjahr 2024 Nahrungsmittel und medizinische Produkte auf die Insel. Allerdings gibt es Kooperation mit beziehungsweise Unterstützung durch China bekanntermaßen nicht umsonst. Die geografische Nähe zu den USA ist von großem strategischem Wert für Spionageaktivitäten, so verwundert es nicht, dass China wohl Zugang zu einigen Einrichtungen mit entsprechender Technologie hat. Vor dem Hintergrund der angespannten Beziehungen zwischen den beiden Großmächten wird dies aus Washington als ernsthafte Bedrohung der nationalen Sicherheit gewertet und die Kooperation zwischen Kuba und China äußerst genau verfolgt.
Auf der Suche nach Verbündeten versucht Kuba sich auch der Staatenvereinigung „BRICS plus“ anzunähern, die von Russland und China aktiv erweitert wird und ein geopolitisches Gegengewicht zum liberalen Westen darstellen soll. Die Inselnation nimmt an Treffen der Vereinigung teil und hat im Oktober 2024 einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Es ist davon auszugehen, dass man sich auf diesem Wege Zugang zu wirtschaftlicher Unterstützung und diplomatischen Allianzen verschaffen möchte. In Zeiten einer zunehmenden Polarisierung des internationalen Systems tut Kuba sicherlich gut daran, Bündnisse zu schmieden. Ob sich dadurch die multiplen inneren Probleme weiter ignorieren lassen, darf bezweifelt werden.
Kubas prekäre wirtschaftliche und soziale Situation mag auch durch das US-Handelsembargo zu erklären sein, ist aber gewiss nicht exklusiv durch diesen äußeren Faktor bedingt. Das Embargo erschwert den Zugang zu globalen Märkten und Finanzströmen erheblich, viele der tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Probleme des Landes resultieren aber aus interner Misswirtschaft und den starren Strukturen eines dysfunktionalen Regimes. Aufgrund der zentralisierten Planwirtschaft behält die korrumpierte politische Klasse die totale Kontrolle über Industrien, Ressourcen und Besitztümer und verhindert aus Sorge um einen Machtverlust jegliche Innovation. Kubas Beziehungen zu Verbündeten wie Russland, China oder Venezuela mildern einige Auswirkungen, können strukturelle Defizite jedoch nicht beheben. Ohne tiefgreifende Reformen wird Kuba auch bei einer unwahrscheinlichen Aufhebung aller Sanktionen langfristig kaum wirtschaftliche Stabilität erlangen.
Conclusio
Kuba liefert eine Geschichte des ewigen Mangels, der willkürlichen Machtausübung und eines Unrechtsstaates, aber auch eine Geschichte der ewigen Hoffnung der Menschen auf Freiheit. Natürlich lässt sich heute einfach konstatieren, dass die kubanische Revolution gescheitert ist, dass die kommunistische Planwirtschaft (auch in diesem Fall wieder) mehr Leid und Hunger als Gleichheit und Solidarität produziert hat.
Die kubanische Volkswirtschaft ist am Boden, die Landwirtschaft ist maximal unproduktiv und nicht in der Lage, das eigene Volk zu ernähren. Fast alles muss importiert werden, das Regime verfügt allerdings nicht über die notwendigen Devisen und versucht, sich diese – ironischerweise – auf ausgesprochen kapitalistischen Wegen zu erwirtschaften. Außer Zigarren, Rum und etwas Nickel exportiert man aber nicht viel von Wert. Seit Beginn der Coronapandemie bleibt zudem der überlebensnotwendige Tourismus aus, der zumindest vermochte, einige Dollars in das gequälte Land zu spülen. Und dennoch ist der kommunistische Parteiapparat auch nach 65 Jahren scheinbar noch fest im Sattel.
Insbesondere der menschliche Exodus ist ein Teufelskreis. Wie hier in Bezug auf verschiedene elementare Sektoren beschrieben wurde, verschlechtert sich die Lage mit jeder Emigrationswelle weiter: Lehrer gehen, was die geringe Qualität und Verfügbarkeit von Bildung weiter einschränkt. Ärzte und medizinisches Personal verlassen aufgrund von Überlastung und dem strukturellen Mangel ihre Profession beziehungsweise Heimat, was die Lage für die Verbliebenen kaum verbessert. Und logischerweise gehen junge, noch mit Hoffnung und Visionen ausgestattete Menschen zuerst.
Die erneute Präsidentschaft Donald Trumps macht nun alle Hoffnungen auf eine Lockerung des US-Wirtschaftsembargos, etwa aus humanitären Gründen oder strategischem Interesse, zunichte. Die ersten Anzeichen sind klar: Gegenüber Kuba oder Venezuela setzt man auf maximalen Druck – den Preis dafür wird in erster Linie die Zivilbevölkerung bezahlen.
Der Autor bedankt sich bei Katrin Hartz für die Mitarbeit bei der Erstellung dieses Artikels.
Sie verstehen Spanisch und wollen mehr zum Thema wissen? Dann hören Sie rein in die vierteilige Podcast-Serie „Radiografía de Cuba“, verfügbar über Spotify unter https://ogy.de/j823
Maximilian Strobel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.